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Wir sind in den letzten Kapiteln von der Betrachtung des mystischen Lebensprozesses im Menschen, des organischen Wachstums seines transzendentalen Bewußtseins abgeschweift, um die Nebenerscheinungen dieses Prozesses, die ihm eigentümlichen Ausdrucksformen, näher zu betrachten: die Entwicklung in der normalen Kunst der Kontemplation oder Innenkehr und die Visionen und Stimmen, Ekstasen und Verzückungen, welche häufige, wenn auch nicht wesentliche Begleiterscheinungen seiner Tätigkeit, der zunehmenden Vorherrschaft seines mystischen Genies sind.
Allein der Mystiker ist, wie andere schöpferische Geister, zunächst Mensch und dann erst Künstler. Wir begehen einen schweren, wenn auch allgemein üblichen Fehler, wenn wir dies vergessen und uns durch das Erstaunliche und Fesselnde seiner Kunst von dem Studium der Entwicklung seiner Persönlichkeit selbst ablenken lassen. Sein, nicht Tun, ist das erste Ziel des Mystikers, und ihm sollte auch das Hauptinteresse des Erforschers der Mystik gehören. Wir haben der bequemeren Übersicht halber alle Hauptformen mystischer Tätigkeit von der Mittelstation des transzendentalen Lebens aus überblickt, aber diese Tätigkeiten sind natürlich nicht einer Stufe dieses Lebens eigentümlich. Die Ekstase z. B. ist ein ebenso gewöhnliches Symptom der mystischen Bekehrung wie der letzten und höchsten Stufe, der mystischen Hochzeit der Seele S. oben S. 245-250 die Beispiele Seuses u. Pascals., während Visionen und Stimmen, bei Mystikern des visionären oder auditorischen Typus, jede Phase innerer Entwicklung begleiten und illustrieren. Sie erhellen und erklären ebensooft die Prüfungen der Reinigung, wie sie die Freuden der Erleuchtung ausdrücken, und sie bezeichnen häufig die Übergangskrise von einem mystischen Zustande zum nächsten.
Eine Ausnahme muß man jedoch bei dieser Regel machen. Jene Periode der Zurückschleuderung in das Dunkel, die gewöhnlich das »erste mystische Leben«, oder den Weg der Erleuchtung, von dem »zweiten mystischen Leben«, dem Weg der Einigung, trennt, ist im allgemeinen eine Periode völliger Leere und Stagnation, soweit es sich um mystische Tätigkeit handelt. Ist die »dunkle Nacht der Seele« einmal voll hereingebrochen, so wird sie selten von Visionen erhellt oder von Stimmen entbangt. Es gehört zum Wesen ihrer Qual, daß die einst besessene Gabe des Gebets und der Kontemplation jetzt ganz verloren ist. Der Mensch wird aus seiner mühsam eroberten vorteilhaften Stellung zurückgeschleudert. Ohnmacht, Leere, Einsamkeit sind die Attribute, unter denen diejenigen, welche durch das dunkle Läuterungsfeuer hindurchgehen, ihre Leiden beschreiben. Diese merkwürdige Episode in der Lebensgeschichte des mystischen Typus ist es, bei der wir jetzt angelangt sind.
Wir haben die hauptsächlichen physiologischen Eigentümlichkeiten jeder normalen mystischen Entwicklung bereits erwähnt Teil II, Kap. 1.. Wir haben gesehen, daß das Wesen dieser Entwicklung in dem Bemühen besteht, ein neues Gleichgewicht herzustellen, sozusagen festen Fuß zu fassen auf höheren Ebenen der Wirklichkeit; und daß das Selbst auf seinem Pfade zu dieser Erfüllung eine Reihe von Schwankungen erlebt zwischen Zuständen der Freude und des Schmerzes. Anders ausgedrückt ist es ein in bestimmter Ordnung sich vollziehender Aufstieg des ganzen Bewußtseins zu höheren Zentren, bei dem jeder Schritt aufwärts die unreifen transzendentalen Kräfte ermüdet und mit einem Zurücksinken bezahlt wird – einem Rückschlag des ganzen Bewußtseins, einer geistigen Stagnation, einer Gefühlsreaktion oder einer Willenshemmung.
So wurde dies freudig erhobene Bewußtsein der göttlichen Vollkommenheit, das das Selbst bei seinem »mystischen Erwachen« erlangte, durch ein niederdrückendes und bitteres Bewußtsein seiner eigenen ihm anhaftenden Unvollkommenheit aufgewogen, und der Widerstreit dieser beiden Wahrnehmungen spornte es zu jenem mühevollen Bestreben, sich der höheren Ordnung anzupassen, das den »Weg der Reinigung« ausmacht. Das erneute und ekstatische Bewußtsein des Absoluten, das sich daraus ergab und das die beherrschende Eigentümlichkeit der Erleuchtung war, bringt mit Notwendigkeit seine eigene Verneinung mit sich, nämlich die Erkenntnis, daß das Selbst von dem Absoluten, das es wahrgenommen hat, immer noch getrennt und mit ihm unvereinbar ist. Während der Zeit, wo der Zustand der Erleuchtung sich voll entfaltet und verfestigt hat, ist das Selbst in der Regel vollkommen glücklich in dem Glauben, daß es in dieser erhabenen Vision der Ewigkeit, diesem tiefen und liebenden Bewußtsein von Gott, das Ziel seines Strebens erreicht hat. Jedoch früher oder später setzt seelische Ermüdung ein, der Zustand der Erleuchtung beginnt umzuschlagen, das entsprechende negative Bewußtsein tritt auf und zeigt sich als ein überwältigendes Gefühl von Dunkel und Verlassenheit. Dies Gefühl ist so tief und stark, daß es jede Verbindung zwischen dem Selbst und dem Transzendenten abbricht, seine Intuitionen der Wirklichkeit zunichte macht und das Selbst in den Zustand der Leere und des unsagbaren Elends stürzt, den man als »die Dunkle Nacht« bezeichnet.
Nun können wir die Dunkle Nacht, wie die meisten andern Stadien des mystischen Weges, von zwei Gesichtspunkten aus betrachten. Wir können sie mit dem Psychologen als ein Moment in der Geschichte geistiger Entwicklung ansehen, die von den mehr oder weniger mechanischen Gesetzen, welche ihm das menschliche Seelenleben so bequem erklären, beherrscht wird; oder wir können sie mit dem Mystiker selbst unter ihrem geistlichen Aspekt betrachten, insofern sie zur Erneuerung des Charakters, zum Wachstum des »neuen Menschen«, zu seiner »Vergottung« beiträgt.
1. Psychologisch betrachtet ist die Dunkle Nacht ein Beispiel für das Gesetz der Reaktion auf eine große Anspannung. Sie ist eine Periode der Ermüdung und Abgespanntheit, die auf eine Periode anhaltender mystischer Tätigkeit folgt. »Es ist eins der unumstrittensten Gesetze des Nervensystems«, sagt Starbuck, »daß es Perioden der Erschöpfung hat, wenn es andauernd in derselben Richtung angespannt wird, und sich nur durch eine Periode der Ruhe wieder erholen kann Psychology of Religion p. 24..« Wie vergeistigt der Mystiker auch sein mag, solange er in seinem sterblichen Leibe ist, kann er nicht umhin, den Mechanismus seines Nerven- und Zerebralsystems bei seinen Abenteuern zu benutzen. Seine Entwicklung besteht, von ihrer psychischen Seite angesehen, in der Übernahme dieses Nervensystems, in der Dienstbarmachung seiner Bewußtseinszentren für sein wachsendes übersinnliches Leben. Insofern dies also der Fall ist, wird dies übersinnliche Leben zum Teil durch seelische Notwendigkeiten bedingt, wird den Gesetzen der Reaktion und Ermüdung unterworfen sein. Jeder große Schritt vorwärts wird eine Periode der Abspannung und Erschöpfung jenes geistigen Mechanismus bewirken, den er in seinen Dienst gezwungen und wahrscheinlich überanstrengt hat. Wenn die höheren Zentren unter der großen Anspannung eines voll entfalteten erleuchteten Lebens mit seinen Perioden intensiver Hellsichtigkeit, tiefer Kontemplation, vielleicht auch visueller und auditiver Phänomene, erschöpft sind, so tritt fast mit Notwendigkeit der Rückschlag in den negativen Zustand ein.
Dies ist die psychologische Erklärung für jene merkwürdigen und qualvollen Episoden im Leben der großen Heiligen und auch der Geringeren unter den Eingeweihten der geistlichen Sphäre, wo die ganze innere Erfahrung eines vielleicht langen, in engem Kontakt mit dem Reich des Übersinnlichen verbrachten Lebens, eines vollkommenen und immer tiefer werdenden Bewußtseins der »Gegenwart Gottes« plötzlich hinweggefegt ist und nur ein blindes Vertrauen auf vergangene Überzeugungen sie vor dem Unglauben schützt Ein Beispiel hierfür wird uns aus dem späteren Leben der hl. Jeanne Françoise de Chantal berichtet. Vgl. M. E. Lowndes, The Nuns of Port Royal (1909) p. 284.. Die großen Kontemplativen, die, welche dazu bestimmt sind, die volle Höhe des Mystikers zu erreichen, gehen aus dieser Periode der Verlassenheit, wie lang und qualvoll sie auch sein mag, wie aus einer neuen Reinigung hervor. Sie ist für sie das Tor zu einem höheren Zustande. Allein schwächere Geister können diesen Weg nicht gehen. Wenn sie überhaupt in diese Nacht gelangen, so doch nur, um ihren Gefahren und Schmerzen zu erliegen. Diese »große Negation« ist der Prüfstein des höheren Lebens. Hier trennen wir uns von den »Naturmystikern«, von den mystischen Dichtern und allen, denen die erleuchtete Vision der Wirklichkeit zuteil wurde und die darin Genüge fanden. Die, welche darüber hinausschreiten, sind die großen und starken Geister, die nicht nach dem Wissen streben, sondern nach dem Sein.
Wir müssen also erwarten, daß nach den Bedingungen, denen das menschliche Bewußtsein unterworfen zu sein scheint, für jeden Fortschritt des mystischen Lebens ein Rückschlag das schwankende Selbst erwartet. Diese Regel gilt ganz allgemein. Der Fortschritt in der Übung des Gebets zum Beispiel wird durch genau denselben Wechsel von Licht und Schatten bezeichnet: von »dunkler Kontemplation« und klaren Intuitionen der Wirklichkeit. So hat auch bei Menschen von äußerst labiler nervöser Veranlagung jede einzelne freudige Erregung eine schmerzliche oder negative Erregung im Gefolge. Die Zustände von Dunkel und Erleuchtung sind eine lange Zeit hindurch nebeneinander vorhanden, indem sie jäh und heftig abwechseln. Viele Seher und Künstler bezahlen auf diese Weise jeden gewaltsamen Ausbruch schöpferischer Kraft mit qualvollen Zeiten der Ohnmacht und Depression.
Die Perioden jähen Wechsels zwischen freudigen und qualvollen Bewußtseinszuständen erscheinen am häufigsten am Anfange eines neuen Abschnitts des mystischen Weges: zwischen der Reinigung und der Erleuchtung und wiederum zwischen der Erleuchtung und der Dunklen Nacht, denn diese Seelenzustände treten in der Regel allmählich, nicht plötzlich, ein. Mystiker nennen solche Schwankungen das »Spiel der Liebe«, in dem Gott sozusagen mit der suchenden Seele »Verstecken spielt«. Ich habe bereits ein charakteristisches Beispiel aus dem Leben Rulman Merswins Oben S. 299f. angeführt, der die ganze Zeit zwischen seiner Bekehrung und dem Eintritt der Dunklen Nacht oder »Schule der leidenden Liebe« in solch einem Zustande gestörten Gleichgewichts zubrachte. So beschreibt auch Madame Guyon, die uns alle Symptome und Leiden während des Hereinbrechens und der Dauer der Nacht – oder des »mystischen Todes«, wie sie den intensivsten Abschnitt dieser Nacht nennt – in großer Ausführlichkeit und mit sorgfältiger Herausarbeitung aller Einzelheiten schildert, den Anfang als in kurzen Zeiträumen wiederkehrende Zustände des seelischen Darbens oder der Gefühlsstumpfheit, die mystische Autoren als »Trockenheit« bezeichnen, wo der Mensch jede Teilnahme und Liebe für die göttlichen Wirklichkeiten verliert, die bisher sein Leben erfüllt hatten. Dieser Zustand war die Reaktion auf eine erleuchtete Periode höchster Freude und Sicherheit, in der, wie sie sagt, »die Gegenwart Gottes sie keinen Augenblick verließ«, so daß sie schon die Visio beatifica zu genießen glaubte. »Aber wie teuer mußte ich diese Zeit des Glücks bezahlen! Denn dieser Besitz, der mir ganz und vollkommen schien, und um so vollkommener, als er heimlich und den Sinnen fremd, stetig und unwandelbar war, war nur die Vorbereitung für eine gänzliche Gnadenentziehung, die viele Jahre dauerte, ohne Trost oder Hoffnung der Wiederkehr Vie I, Kap. 20..« Zwischen diesem Zustande höchsten Glücks und der »gänzlichen Gnadenentziehung« oder wahren »dunklen Nacht« kommt der Zwischenzustand von wechselndem Licht und Dunkel. Da Madame Guyon nie versuchte, irgendeinen ihrer Zustände zu beherrschen, sondern es sich zur Aufgabe machte, sich ihrer eigenen Beschreibung der »verzichtenden Seele« als »Gottes Wetterhahn« gemäß zu verhalten, haben wir hier eine unvergleichliche Gelegenheit, den natürlichen Verlauf der Entwicklung zu verfolgen.
»Ich erduldete«, sagt sie, »lange Zeiten von Gottverlassenheit, die schließlich fast zu einem Dauerzustande wurden; dennoch aber wurden mir von Zeit zu Zeit so tiefe und innerliche, so lebendige und eindringliche Eingießungen deiner Gottheit zuteil, daß ich leicht erkennen konnte, du warst mir nur verborgen, nicht verloren. Denn wenn es mir auch in der Zeit meiner Verlassenheit schien, als ob ich dich ganz verloren hätte, blieb mir im tiefsten ein gewisser Trost, obwohl die Seele es nicht wußte; sie wurde sich dieses Trostes erst bewußt, als er ihr danach ganz verloren ging. Jedes Mal, wenn du mit mehr Güte und Kraft zurückkehrtest, kehrtest du auch mit größerer Herrlichkeit zurück, so daß du in wenigen Stunden alle Trümmer meines Glaubens wieder aufrichtetest und mich für alles Verlorene überreichlich entschädigtest. Doch zu der Zeit, von der ich jetzt sprechen will, war es nicht so Ebenda Kap. 21..«
Hier haben wir, psychologisch betrachtet, ein besonders vollkommenes Beispiel für die heftigen Schwankungen des Bewußtseins auf der Schwelle eines neuen Zustandes. Das alte Gleichgewicht, die alte Gruppierung um einen durch positives Lustgefühl charakterisierten Mittelpunkt ist dahin, die neue Gruppierung um einen durch negatives Schmerzgefühl charakterisierten Mittelpunkt ist noch nicht vollendet. Madame Guyon steht oder schwebt vielmehr zwischen zwei Welten, eine hilflose Beute ihrer eigenen wechselnden und unbeherrschbaren Seelen- und Geisteszustände. Aber langsam nähert sich das Pendel dem Ruhepunkt, die Zustände der Verlassenheit werden, wie sie sagt, »fast dauernd«, die Rückschläge nach der Erleuchtung hin seltener und seltener. Endlich hören sie ganz auf, der neue Zustand ist hergestellt und die Dunkle Nacht in Wirklichkeit hereingebrochen.
Die hier vorgebrachte Theorie, daß die Dunkle Nacht nach ihrer psychischen Seite teils ein Zustand von Ermüdung, teils ein Übergangsstadium ist, wird gestützt durch die geistige und sittliche Störung, die bei vielen ihr charakteristisches Merkmal zu sein scheint. Solange sie dauert, scheint alles »verkehrt zu gehen«. Sie werden von bösen Gedanken und plötzlichen Versuchungen gequält, verlieren die Herrschaft nicht nur über ihre geistlichen, sondern auch über ihre weltlichen Angelegenheiten. Oft leidet ihre Gesundheit, sie werden »wunderlich«, und ihre Freunde verlassen sie; ihr intellektuelles Leben ist, um mit ihren eigenen Worten zu reden, auf dem Tiefstande. »Prüfungen jeder Art«, so bezeugen sie, inneres und äußeres Kreuz kommen in reichem Maße über sie.
Nun bedeuten »Prüfungen« im allgemeinen eine Disharmonie zwischen dem Selbst und der Welt, mit der es jenes zu tun hat. Dinge, denen unsere Kräfte gewachsen sind, sind keine Prüfungen. Nur die Dinge sind es, mit denen wir nicht fertig werden können; sei es, daß sie außergewöhnlich schwer, sei es, daß wir außergewöhnlich schwach sind. Dieser Sachverhalt springt in die Augen, wenn wir die Geschichte von Madame Guyons Erfahrungen weiter verfolgen Dank der salbungsvollen und ausführlichen Art, mit der sie ihre Leiden analysiert, ist dieser Teil ihrer Selbstbiographie ein psychologisches Dokument von einziger Wichtigkeit für das Studium der »dunklen Nacht«.
Wie ihr Bewußtsein von Gott allmählich erlosch, scheint eine Art geistiges und sittliches Chaos über sie gekommen zu sein und die seelische Verlassenheit und Not ihres Zustandes begleitet zu haben. »Sobald ich das Glück eines Zustandes bemerkte, oder seine Schönheit oder die Notwendigkeit einer Tugend, hatte ich das Gefühl, als verfiele ich sogleich in das entgegengesetzte Laster, gleichsam als ob jene Wahrnehmung, die, wenn auch noch so jäh, doch immer ein Gefühl tiefer Liebe in mir auslöste, mir nur zuteil würde, damit ich ihr Gegenteil erlebte, auf eine Art, die um so schrecklicher war wegen des Grauens, das ich immer noch davor empfand. Da geschah es, o mein Gott, daß ich das Böse, das ich haßte, tat, und das Gute, das ich liebte, unterließ Offenbar eine Umschreibung von Römer VII, 15.. Ich empfand aufs intensivste die Reinheit Gottes, und was meine Gefühle anbetraf, so wurde ich immer mehr unrein; denn dieser Zustand ist zwar in Wirklichkeit sehr reinigend, aber ich war damals weit davon, dies zu verstehen … Meine Phantasie war in einer entsetzlichen Verwirrung und ließ mir keine Ruhe. Ich konnte nicht von dir sprechen, o mein Gott, denn ich wurde vollkommen blöde; konnte auch nicht einmal begreifen, was gesagt wurde, wenn ich von dir sprechen hörte. Anstatt jenes himmlischen Friedens, in dem meine Seele sich so sicher gefühlt hatte, hatte die Pein der Hölle ganz von mir Besitz ergriffen … Ich fühlte mich verhärtet gegen Gott, unempfindlich für Seine Gnade; ich konnte auch nicht das geringste Gute sehen, das ich je in meinem Leben getan hätte. Das Gute erschien mir als böse, und – was das Furchtbarste war – ich hatte das Gefühl, daß dieser Zustand immer dauern müsse. Denn ich glaubte nicht, daß es ein Zustand sei, sondern ein wirklicher Abfall. Denn, wenn ich hätte glauben können, daß es ein Zustand wäre oder notwendig und von Gott gewollt, so hätte ich überhaupt nicht darunter gelitten Vie I, Kap. 23..«
In all diesem Elend hatte sie das Gefühl, wie sie sagte, daß sowohl diese wie die künftige Welt sich gegen sie verschworen hätten. »Äußeres Kreuz« jeder Art, Verlust von Gesundheit und Freundschaft, häusliche Verdrießlichkeiten kamen zu ihren inneren Qualen hinzu und steigerten sie. Ihre Selbstbeherrschung und Fassungskraft ging immer mehr zurück. Sie fühlte sich stumpf und unfähig, sie vermochte nicht einmal mehr dem Gottesdienst in der Kirche zu folgen, sie war zu jedem Gebet oder guten Werk unfähig, ward beständig von den weltlichen Dingen, denen sie entsagt hatte, angelockt, und doch schnell ihrer müde. Das schmucke Gebäude ihres ersten mystischen Lebens lag in Trümmern, der damit verbundene Bewußtseinszustand war aufgelöst, aber nichts trat an seine Stelle.
»Es ist unbegreiflich für eine Seele, die sich auf dem Wege der Vollkommenheit vorangeschritten glaubt,« sagt Madame Guyon naiv, »sich so mit einem Schlage vernichtet zu sehen Les Torrents I, Kap. 7, § 2..«
So wurde auch Seuse, als er in die »höhere Schule« des geistlichen Lebens eingetreten war, nicht nur von Versuchungen und Verzweiflungszuständen gequält, sondern auch von äußeren Prüfungen und Unzulänglichkeiten aller Art, von Verleumdung und Verkennung, Widerwärtigkeiten und Schmerzen; »Es war, als ob Gott den bösen Geistern und allen Menschen erlaubt hätte, ihn zu peinigen«, sagt er Leben Kap. XX (Bihlm. 61, 1f.).. Dies Gefühl einer im ganzen feindlichen Atmosphäre, des Dunkels und der Hilflosigkeit, in dem das Ich befangen ist, ist der unbestimmten Not und der nervösen Empfindlichkeit des Jünglingsalters zu vergleichen und entspringt zum Teil derselben Ursache, dem chaotischen Übergangszustande zwischen dem Zusammenbruch eines alten Gleichgewichtszustandes und der Herstellung eines neuen. Das Selbst läßt bei seinem notwendigen Aufstieg zu höheren Ebenen der Wirklichkeit gewisse Elemente seiner Welt hinter sich zurück, die es lange geliebt hat, aber denen es nun entwachsen ist, wie Kinder den schweren Übergang vom Kinderzimmer in die Schule machen müssen. Zerstörung und Aufbau gehen hier zusammen, die Erschöpfung und Vernichtung des erleuchteten Bewußtseins ist das Signal für den Aufstieg des Selbst zu andern Zentren; das Gefühl der Leere und Unzulänglichkeit, das aus dem Verlust jenes Bewußtseins erfolgt, ist ein indirekter Antrieb zu neuem Wachstum. Das Selbst wird in eine neue Welt hineingestoßen, wo es sich nicht zu Hause fühlt; es hat den Punkt noch nicht erreicht, wo es in den bewußten Besitz seines zweiten oder Erwachsenenalters tritt.
»Du bist bisher ein Säugling und ein verwöhnter Zärtling gewesen«, sagt die Ewige Weisheit zu Seuse. »Das will ich dir nun entziehen Ebenda (57, 17-19)..« In der darauffolgenden Dunkelheit und Verwirrung, wo ihm die alten bekannten Stützen genommen werden, bleibt dem Selbst nichts anderes übrig, als sich dem unvermeidlichen Gang der Dinge zu unterwerfen, dem Wirken des rastlosen Lebensgeistes, der es vorwärtsdrängt zu einem neuen und höheren Zustande, in dem es nicht nur Wirklichkeit schauen, sondern selbst wirklich sein wird.
Psychologisch betrachtet, hat die Dunkle Nacht der Seele ihren Grund in der Doppeltatsache, daß ein alter Zustand sich erschöpft hat und der Mensch einem neuen Bewußtseinszustande entgegenwächst. Sie ist ein »Wachstumsschmerz« in dem großen organischen Prozeß, der zur Erreichung des Absoluten führt. Die großen Mystiker, die schöpferischen Geister im Bereich der Charakterbildung, haben es instinktiv verstanden, aus diesen psychischen Störungen geistlichen Gewinn zu ziehen. Mit den geistigen Schwankungen, Umwälzungen und Neueinstellungen, durch die ein ungefestigter psychophysischer Typus zu neuen Bewußtseinszentren aufsteigt, gehen seelische Schwankungen eines strebenden und aufsteigenden religiösen Typus parallel. Gyrans gyrando vadit spiritus. Der allzu stark angespannte Bewußtseinsmechanismus bricht zusammen und scheint das Selbst auf eine ältere und tiefere Stufe zurückzuschleudern, wo es seine Wahrnehmungen von der übersinnlichen Welt verliert, gleichwie das Kind, wenn es zuerst gezwungen wird, allein zu stehen, sich schwächer fühlt als im Arm seiner Mutter.
»Denn zu Anfang entzieht er der Seele nicht nur alle bemerkbaren tröstlichen Eingießungen von Licht und Gnade, sondern beraubt sie auch der Fähigkeit, ihre höheren Kräfte wirken zu lassen und in Seiner Liebe Trost zu finden, indem er sie ganz ihren niederen Kräften ausliefert«, sagt der erfahrene Seelsorger Augustine Baker, der hier die Ergebnisse der modernen Psychologie vorwegnimmt. »Infolgedessen hat sie ihre frühere Ruhe von Leidenschaften ganz verloren; Innenkehr ist ihr nicht mehr möglich, sündhafte Regungen und Eingebungen setzen ihr heftig zu, und es wird ihr ebenso schwer (wenn nicht schwerer), sie zu überwinden wie am Anfang ihrer geistlichen Laufbahn … Wenn sie ihren Geist erheben will, sieht sie nichts als Wolken und Dunkel. Sie sucht Gott und kann nicht die geringsten Anzeichen oder Fußtapfen Seiner Gegenwart finden; etwas ist zwar da, was sie hindert, ihren sündhaften Eingebungen zu folgen, aber was es ist, weiß sie nicht, denn es ist ihr, als hätte sie überhaupt keinen Geist, und tatsächlich befindet sie sich auch in einer Region, die allem Geiste und geistigen Wirken – soweit es wahrnehmbar ist – ganz fern liegt Holy Wisdom Tractat III, § IV, 5..«
Eine solche Zwischenzeit des Chaos und Elends kann Monate oder selbst Jahre dauern, bevor das Bewußtsein wieder zur Einheit gelangt und ein neues Zentrum sich gebildet hat. Obendrein zeigt sich oft die negative Seite dieses neuen Zentrums, dieses neuen Bewußtseins des Absoluten zuerst. Das Selbst erkennt nämlich die Unzulänglichkeit seines alten Zustandes schon lange, bevor es die Möglichkeit eines neuen und höheren Zustandes begreift. Der Inhalt dieser Erkenntnis erscheint in zwiefacher Gestalt; objektiv: die Ferne oder Abwesenheit des Absoluten, das das Selbst sucht; subjektiv: die Schwäche und Unvollkommenheit des Selbst. Beide Wahrnehmungen bilden einen unmittelbaren Antrieb zum Handeln. Sie stellen gleichsam eine göttliche Verneinung dar, die das Selbst prüfen, bekämpfen und auflösen muß.
Daher ist die Dunkle Nacht, die zum großen Teil das Ergebnis natürlicher Ursachen ist, ihrerseits wieder der Erzeuger übernatürlicher mystischer Energie und somit übernatürlicher Wirkungen.
2. Soviel über die psychologische Seite. Nun wenden wir uns von der Betrachtung rein seelischer Vorgänge dem Studium der mystischen oder transzendentalen Aspekte der Dunklen Nacht zu, um zu sehen, was sie für die Mystiker bedeutet hat, die sie durchgemacht haben, und auch für die geistlichen Spezialforscher, die sie zu ihrem Studium gemacht haben.
Wie bei anderen Gebieten mystischer Tätigkeit, so müssen wir uns auch hier vor jeglicher Verallgemeinerung hüten, die uns verleitet, die »Dunkle Nacht« als ein gleichförmiges Erlebnis, einen genau umschriebenen Zustand anzusehen, der bei allen denen, die seine Qualen durchgemacht haben, unter denselben Bedingungen auftritt und von denselben Symptomen begleitet ist. Es ist ein Name für den qualvollen negativen Zustand, der normalerweise den Übergang vom Leben der Erleuchtung zu dem der Einigung bildet – nichts weiter. Verschiedene Typen der Kontemplativen haben sie sich selbst und uns auf sehr verschiedene Weise erklärt, indem jede Form der Erleuchtung eine eigene ihr gemäße Form des »Dunkels« hat.
Bei einigen Temperamenten herrscht die Gefühlsseite vor – die Pein der liebenden Seele, die plötzlich den Geliebten verloren hat –; bei andern überwiegt die geistige Dunkelheit und Verwirrung alles andere. Einige, wie Madame Guyon und der hl. Johannes vom Kreuz, haben sie als eine »passive Reinigung« empfunden, einen Zustand elender Schwäche, in dem das Selbst ganz untätig ist und das Leben gewähren läßt. Andere, wie Seuse und die männliche Mystik der deutschen Schule, haben ihren Qualen eine mannhaftere Deutung gegeben, indem sie in ihr eine Periode angespannter Tätigkeit sahen, die allen Neigungen des natürlichen Menschen zuwiderlief. Jene Bestandteile des Charakters, die von der ersten Reinigung des Selbst nicht mitbetroffen waren – die gleichsam in einem Winkel liegen geblieben waren, als das Bewußtsein zur Ebene des erleuchteten Lebens aufstieg –, werden hier aus ihrem Schlafe aufgerüttelt, von aller Täuschung gereinigt und gezwungen, sich dem wachsenden Strom anzuschließen, dem »Strom«, der, wie Madame Guyons Bildersprache es ausdrückt, dem Meere der Unendlichkeit zueilt.
Die Dunkle Nacht ist also in Wirklichkeit ein zutiefst menschlicher Vorgang, bei dem das Selbst, das sich so geistlich dünkte und so festgewurzelt auf der übersinnlichen Ebene, gezwungen wird, zurückzukehren, das Licht zu verlassen und die Eigenschaften, die es hinter sich zurückließ, wieder aufzunehmen. Nur so, durch die Umwandlung des ganzen Menschen, nicht durch sorgfältige einseitige Pflege dessen, was wir gern unsere »geistliche« Seite nennen, kann die göttliche Menschheit sich entwickeln; die Ausbildung der göttlichen Menschheit aber – die Erneuerung des Menschen »nach dem Bilde, das ihm auf dem Berge gezeigt ist [Ebräer 8, 6.]« –, ist die einzige sichere Leiter des Mystikers, die ihn zur Wirklichkeit führt. »Meine Menschheit«, sagt die Ewige Weisheit zu Seuse, »ist der Weg, den man geht, mein Leiden ist das Tor, durch das man gehen muß, wenn man zu dem kommen will, das du suchst Büchlein der Ewigen Weisheit, Kap. II (Bihlm. 205, 5-7)..« Dieser »harte Spruch« kann fast als Prüfstein gebraucht werden, um die wahre und vollwertige mystische Tätigkeit des Menschen von ihren vielen täuschenden Nachahmungen zu unterscheiden. Das Selbst hat bei seiner ersten Reinigung den Spiegel der Wahrnehmung gereinigt, so hat es in seinem erleuchteten Leben die Wirklichkeit schauen können. Damit ist es über die normalen Wahrnehmungskräfte des »natürlichen« Menschen, der in den Täuschungen der Sinne befangen ist, hinausgelangt. Nun soll es Wirklichkeit sein – eine ganz andere Aufgabe. Dazu bedarf es einer neuen und energischeren Reinigung – nicht der Wahrnehmungsorgane, sondern des innersten Wesens selbst, des »Herzens«, das der Sitz der Persönlichkeit, die Quelle seines Liebens und seines Wollens ist. In der Bedrängnis und Angst der Nacht, wenn es von der Vision des Unendlichen zurückkehrt, um aufs neue die Schranken des Endlichen zu fühlen, verliert das Selbst die Kraft des Tuns und lernt es, seinen Willen der Wirkung eines größeren Lebens zu überlassen, um zum Sein zu gelangen. Wie der Alchimist sich nicht zufrieden gibt, wenn er Luna oder das Silber gefunden hat, sondern es in den Tiegel zurückwirft, um das »große Werk« zu vollenden und es in philosophisches Gold zu verwandeln, so wirft auch jener innewohnende Geist, der die Geschicke des Menschen formt, wenn er an seiner Umwandlung vom Unwirklichen zum Wirklichen arbeitet, das erleuchtete Selbst wieder in den Schmelztiegel, auf daß es der Rohstoff der göttlichen Menschheit, des »edlen Steines« werde.
Wir dürfen bei all diesem kaltblütigen Zergliedern nicht vergessen, daß das Leben des Mystikers ein Leben der Liebe ist, daß der Gegenstand seines letzten Suchens und seiner beständigen Schau ein Gegenstand leidenschaftlicher Anbetung und höchsten Verlangens ist. »Mit dir würde ein Kerker ein Rosengarten sein, o du Räuber der Herzen, mit dir würde die Hölle das Paradies sein, o du Tröster der Seelen«, sagt Dschelal ed Din Aus den Mesnevi. Angeführt im Anhang zu The Flowers or Rose Garden of Saadi.. Daher kann es für den Mystiker, der einmal die Visio beatifica erfahren hat, kein größeres Leid geben, als daß dieser Gegenstand seinem Bewußtsein wieder entzogen wird, daß er diese Gefährtschaft verliert und ihm dies Licht ausgelöscht wird. Daher muß die »Dunkle Nacht«, in welcher Gestalt sie auch auftreten mag, immer bittres Leiden mit sich bringen, weit schlimmeres als das auf dem Wege der Reinigung erduldete. Dort wurde das Selbst gewaltsam vom Unvollkommenen losgelöst. Hier wird ihm das Vollkommene entzogen, und es bleibt mit dem überwältigenden und doch ohnmächtigen Gefühl zurück, daß irgend etwas ganz verkehrt gegangen, daß irgendein höchster Schatz verloren ist. Wir wollen jetzt einige der charakteristischen Formen betrachten, unter denen dies Gefühl sich dem Oberflächenbewußtsein mitteilt.
A. Denjenigen Naturen, bei denen das Bewußtsein die Form eines Gefühls göttlicher Gefährtschaft annahm und für die die objektive Idee »Gott« zur zentralen Lebenstatsache geworden war, scheint es, als ob dieser Gott, nachdem Er sich gezeigt hat, ihnen Seine Gegenwart nun vorsätzlich entzogen habe, um sich ihnen vielleicht nie wieder zu offenbaren. »Er tut gerade,« sagt Eckehart, »als wenn eine Mauer zwischen Ihm und uns errichtet wäre Pred. LVII (Pfeiffer S. 182, 22). So sah auch die hl. Gertrud in einer ihrer symbolischen Visionen eine dichte Hecke zwischen sich und Christus errichtet..« Das »Auge, das auf die Ewigkeit blickt«, hat sich geschlossen, das alte liebe Gefühl der Vertrautheit und gegenseitigen Liebe hat einer furchtbaren Leere Platz gemacht.
»Was aber die betrübte Seele hier am schmerzlichsten empfindet«, sagt der hl. Johannes vom Kreuz, »ist der Gedanke, Gott habe sie allem Anscheine nach verstoßen und als verabscheuungswürdiges Geschöpf in die Finsternis gestürzt. – – Dann fühlt sie in der Tat Todesschatten, Todesseufzer und Schmerzen der Hölle aufs lebhafteste. Es ist dies das Gefühl, ohne Gott zu sein, von Gott in seinem großen Unwillen und Zorn gestraft und verworfen zu sein. Das alles empfindet die Seele in dieser Lage und noch dazu die furchtbare Angst, daß es allem Anscheine nach immer so bleiben werde. Und sie fühlt sich ebenso verlassen und verachtet von allen Geschöpfen, besonders aber von ihren Freunden Noche escura del Alma II, Cap. 6..«
So empfand auch Madame Guyon diesen Verlust ihrer intuitiven Wahrnehmung Gottes als eins der furchtbarsten Symptome der »Nacht«. »Nachdem du mich so tief verwundet hattest, wie ich es beschrieben habe, fingst du an, o mein Gott, dich von mir zurückzuziehen, und der Schmerz deiner Abwesenheit war mir um so bittrer, als deine Gegenwart mir so süß, deine Liebe so stark in mir gewesen war … Das, was mich überzeugte, o mein Gott, daß ich deine Liebe verloren hatte, war, daß ich, statt neue Kraft in dieser starken und durchdringenden Liebe zu finden, schwächer und ohnmächtiger geworden war … Denn ich wußte damals nicht, was es heißt, seine eigene Kraft verlieren, um in die Kraft Gottes einzugehen. Ich habe dies erst durch eine furchtbare und lange Erfahrung gelernt … Dein Weg, o mein Gott, bevor du mich in den Zustand des Todes eintreten ließest, war der Weg des sterbenden Lebens: indem du dich bald verbargst und mich in hundert Schwächen mir selbst überließest, bald dich mir mit um so größerer Freundlichkeit und Liebe zeigtest. Je mehr die Seele sich dem Zustande des Todes nahte, um so länger und qualvoller wurde ihre Verlassenheit, um so größer ihre Schwächen, und so wurden auch ihre Freuden kürzer, aber reiner und intensiver, bis zu der Zeit, wo gänzliche Verlassenheit sie befiel Vie I, Kap. 23..«
Wenn diese gänzliche Verlassenheit, dieser »mystische Tod«, wie Madame Guyon es nennt – wobei sie die Einzelheiten in der Bildersprache des Totentanzes mit stellenweise abstoßender Kraßheit schildert –, vollkommen eingetreten ist, so bringt er nicht nur die persönliche »Abwesenheit Gottes« mit sich, sondern auch die scheinbare Entfernung oder den Verlust jener unpersönlichen Stütze, jenes transzendenten Seelengrundes oder -funkens, den das Selbst so lange als Basis seines ganzen wirklichen Lebens empfunden hat. Somit ist seine letzte Verbindung mit der geistigen Welt abgeschnitten, und für alles Wesentliche scheint es tatsächlich »tot« zu sein. »Jenes Etwas, das uns in unserm Seelengrunde aufrechthält, ist das, was zu verlieren uns am schwersten wird und was die Seele mit größter Leidenschaft festzuhalten ringt, weil es um so göttlicher und notwendiger erscheint, je zarter es ist … Denn was begehrt die Seele anderes in ihrem Streben, als in ihrem Grunde einen Zeugen zu haben, daß sie ein Kind Gottes ist? Und das Ziel alles geistlichen Lebens ist diese Erfahrung. Trotzdem muß sie mit allem übrigen auch dies verlieren …, und dies ist es, was den wahren »Seelentod« bewirkt, denn was für Not und Trübsal sie sonst auch haben mag, wenn dies Etwas, in dem das Leben der Seele besteht, nicht verloren wäre, so würde sie sich aufrechthalten können und niemals sterben … Es ist also der Verlust dieses unwahrnehmbaren Etwas und die Erfahrung dieses Mangels, was den ›Tod‹ verursacht Les Torrents I, Kap. 7..« Das heißt, daß die Verbindung zwischen dem Bewußtsein und dem »Seelenfunken« abgeschnitten ist und die übersinnlichen Kräfte sich auf ihren alten Platz »unterhalb der Schwelle« zurückziehen und für das Bewußtsein der Oberfläche »tot« sind.
B. Für diejenigen, bei denen die subjektive Idee der »Heiligkeit« – das Bedürfnis nach Konformität der eigenen Persönlichkeit mit dem Transzendenten – im Mittelpunkt steht, ist die Pein der Nacht weniger ein Verlust als eine neue und furchtbare Art Hellsichtigkeit. Die Vision des Guten erweckt in dem Menschen ein plötzliches Gefühl seiner eigenen hoffnungslosen und hilflosen Unvollkommenheit, ein düsteres »Sündenbewußtsein«, das weit bitterer ist als das auf dem Wege der Reinigung erduldete und vor dem alles andere versinkt. »Was ihre Pein so furchtbar macht, ist, daß sie gleichsam von der Reinheit Gottes überwältigt ist, und diese Reinheit läßt sie die kleinsten Spuren ihrer Unvollkommenheiten sehen, als ob es ungeheure Sünden wären, weil zwischen der Reinheit Gottes und dem Geschöpf ein unendlicher Abstand ist Madame Guyon a. a. O. I, Kap. 7..«
»Dies«, sagt wiederum der hl. Johannes vom Kreuz, »ist eine der Hauptpeinen, welche die Seele in dieser Reinigung erduldet. Sie fühlt nämlich eine tiefe Leere und Armut an drei Arten von Gütern, an zeitlichen, natürlichen und geistlichen Gütern, deren Genuß für die Seele bestimmt ist. Sie sieht sich mitten in jene den genannten Gütern entgegengesetzten Übel hineinversetzt, ins Elend ihrer Unvollkommenheit, in Trockenheit, in völlige Ohnmacht, sich mit ihren Seelenkräften etwas vorzustellen, und in finstere Verlassenheit des Geistes Noche Escura del Alma a. a. O..«
C. Oft verbindet sich mit dem Gefühl der Sünde und der Abwesenheit Gottes noch ein anderes Negativum, das eins der erschreckendsten und qualvollsten Leiden ausmacht, welche der plötzlich in die Nacht Versenkte zu erdulden hat: eine vollständige Gefühlsabspannung, das Schwinden aller früheren Begeisterung und Inbrunst, an deren Stelle nun eine Stumpfheit, eine Langeweile tritt, die der Mensch verabscheut, aber nicht überwinden kann. Es ist der trostlose Zustand des geistlichen ennui, der in der mystischen Literatur so gut bekannt ist unter dem Namen »Trockenheit« und den die Psychologen als eine Folge von Gefühlsüberspannung ansehen. »Wenn jemand in diesem Zustand ist,« sagt Madame Guyon, »wird ihm alles schal. Er findet an nichts Geschmack. Im Gegenteil, er hat einen Widerwillen gegen jedes Handeln Les Torrents I, Kap. 7..« Es scheint unglaublich, daß die inbrünstige Liebe zu einem göttlichen Gefährten, die so lange der Brennpunkt seines ganzen Seins war, geschwunden ist, daß nicht nur die übersinnliche Vision fort ist, sondern daß sogar das Verlangen nach dieser Vision erkaltet ist. Allein die Mystiker erklären alle einstimmig, daß dies ein notwendiges Stadium in der Entwicklung des geistlichen Bewußtseins sei.
»Wenn die Sonne in ihrem Laufe von ihrem höchsten bis zu ihrem tiefsten Stande zu sinken beginnt,« sagt Ruysbroeck, »dann tritt sie in ein Zeichen, das Virgo genannt wird, das heißt Jungfrau, weil die Zeit dann gleich der Jungfrau unfruchtbar wird.« Dies ist die Herbstzeit im Kreislauf der Seele, wo die Sommerhitze abnimmt. »In dieser Zeit wird das Werk der Sonne vom ganzen Jahr vollendet und zum Abschluß gebracht. Ähnliches findet statt, wenn die glorreiche Sonne Christus im Menschenherzen ihren Höhepunkt erreicht hat (wie ich bei der dritten Stufe gelehrt habe) und dann anfängt zu sinken und das Einstrahlen seines göttlichen Scheines zu verbergen und den Menschen zu verlassen. Dann beginnt die Hitze und die Ungeduld der Minne abzunehmen. Daß Christus sich also verbirgt und die Einwirkung seines Lichtes und seiner Wärme entzieht, das ist das erste Werk und die neue Ankunft dieser Weise. Nun spricht Christus inwendig zu einem solchen Menschen: » Gehe aus nach der Weise, die ich dir jetzt zeige.« Da geht der Mensch aus und findet sich nun arm, elend und verlassen. Hier erkaltet aller Sturm und alles Ungestüm und alle Ruhelosigkeit der Liebe, und der heiße Sommer wandelt sich in Herbst und aller Reichtum in große Armut. Da beginnt der Mensch zu klagen aus Jammer über sich selbst: wohin doch die Liebesglut, die Inbrunst, das beseligende Danken und Loben gegangen sei; wo der innere Trost, die geistige Freude und der fühlbare Geschmack geblieben sei; wie die heftige Liebeswut und alle Gaben, die er je kostete, ihm weggestorben seien. Nun ist er gerade wie ein Mensch, der alles verlernt und Mühe und Arbeit verloren hat … Aus dieser Armut erwächst Furcht vor dem Falle und eine Art von halbem Zweifel. Das ist der äußerste Punkt, wo man stehen bleiben kann, ohne zu verzweifeln Ruysbroeck, Die Zierde der geistlichen Hochzeit II, 28 (Verkade S. 92 bis 94)..«
D. Diese Stagnation des Gefühls hat ihr Gegenstück in der Stagnation des Wollens und Denkens, die einige Kontemplative in diesem negativen Zustande an sich erfuhren. Was den Willen anbetrifft, so zeigt sich eine Art moralischer Zügellosigkeit: der Mensch hat keine Herrschaft über seine Neigungen und Gedanken. Bei dem allgemeinen seelischen Aufruhr drängt sich alles Böse, das der Mensch ererbt hat, alle niedern Triebe und unwürdigen Gedanken, die bis dahin unter der Schwelle eingekerkert lagen, ins Bewußtseinsfeld. »Ich beschäftigte mich in meinen Gedanken mit allen Sünden,« sagt Madame Guyon, »wenn ich sie auch nicht beging Vie I, Kap. 23..« »Jedes Laster wurde wieder in mir geweckt«, sagt Angela von Foligno; »ich hätte mich lieber auf dem Roste verbrennen lassen, als solche Qualen zu erdulden Angelae de Fulginio Visionum et instructionum Liber Kap. 19, p. 45..«
Wo visueller und auditiver Automatismus besteht, da nehmen diese Irruptionen aus dem Unterbewußtsein oft die Form von bösen Visionen an oder von Stimmen, die dem Menschen gemeine oder sündhafte Gedanken eingeben. So wurde die hl. Katharina von Siena in der Zeit zwischen ihrer Erleuchtung und ihrer »geistlichen Hochzeit« von Visionen von Teufeln gequält, die ihre Zelle anfüllten und »sie mit unzüchtigen Worten und Gebärden zur Wollust zu verleiten suchten«. Sie floh aus ihrer Zelle in die Kirche, um ihnen zu entgehen, allein sie verfolgten sie dahin, und sie wurde erst von dieser Bedrängnis befreit, als sie aufhörte, sich dagegen zu wehren. Sie rief: »Ich habe mir Leiden als Trost erwählt und will diese und alle andern Qualen im Namen des Erlösers freudig ertragen, solange es Seiner Majestät gefällt.« Sobald sie sich ergab, floh die böse Vision; Katharina ward wieder in einen positiven Zustand versetzt und durch eine Vision des Kreuzes getröstet E. Gardner, St. Catherine of Siena p. 20..
Einen ähnlichen Seelenzustand erfuhr die hl. Teresa, obwohl sie ihn nicht als eine Stufe ihrer normalen Entwicklung erkannte und ihn mit andern geistlichen Abenteuern, für die sie keine andere Erklärung finden kann, der Einwirkung des Teufels zuschreibt. »Er hält die Seele gefesselt,« sagt sie, »daß sie nicht Herrin ihrer selbst ist und nichts anderes als die unsinnigen Sachen denken kann, die er ihr darstellt und die weder Gehalt noch Anziehung haben und nur dazu dienen, die Seele zu fesseln, daß sie nicht zu sich selber kommen kann. So kommt es mir vor, als ob die Teufel die Seele zum Spielballe machten, wobei sie außerstande ist, sich aus ihrer Gewalt zu befreien. Es ist unmöglich, die Leiden der Seele in einem solchen Zustande zu beschreiben. Sie macht sich auf, um Hilfe zu suchen, Gott aber läßt zu, daß sie sie nicht findet. Das Licht der Vernunft bleibt zwar ihrer Willensfreiheit, aber es ist nicht klar; es ist, als ob ihr die Augen verbunden wären … Versuchungen drücken sie nieder und lähmen sie, daß die Erkenntnis Gottes ihr wie etwas vorkommt, das sie in weiter Ferne vernimmt Vida Kap. XXX, §§ 12 u. 14..« Diese Dumpfheit und Getrübtheit dehnt sich auf die gewöhnliche geistige Tätigkeit aus, die an der Abspannung und Verwirrung des innern Lebens teilhat. »Wenn sie durch Lesen dem innern Feuer entfliehen will, so hilft es ihr nichts; es ist, als ob sie gar nicht lesen könne. Einmal geschah es, daß ich das Leben eines Heiligen las, um mich selbst darüber zu vergessen und mich an dem zu trösten, was er gelitten. Ich las einige Zeilen vier- bis fünfmal, und obwohl sie in meiner Muttersprache geschrieben waren, verstand ich am Ende weniger davon als am Anfang, und so gab ich es auf. Dies begegnete mir mehrfach Ebenda..« Wenn wir hier an irgend etwas erinnert werden, so ist es die Erscheinung der »dunklen Kontemplation«. Jene Trübe des Geistes, die wir dort beobachteten, dehnt sich hier auf die normalsten Tätigkeiten der Oberflächenintelligenz aus. Es ist, als ob die Wolke des Nichtwissens sich aufrollte und das ganze Selbst einhüllte. Die Kontemplation, der »Weg innerhalb des Weges«, stellt den größeren Vorgang des mystischen Lebens im kleinen dar. Bei beiden führt der Pfad zum Licht durch ein demütiges Sichergeben in die Verworrenheit und Unwissenheit des »Dunkels«. Der Druck und die Erbitterung, die ein seiner Anlage nach tatkräftiger und selbstvertrauender Mensch in diesem Zustande vager Hilflosigkeit fühlt, bringt die hl. Teresa in einem ihrer halb humoristischen bekenntnishaften Wortblitze zum Ausdruck. »Der Teufel gibt alsdann einen von Zorn so verdrießlichen Geist ein, daß mir ist, als könnte ich alle fressen Ebenda.!«
Alle diese Arten von »Dunkel« mit dem sie begleitenden überwältigenden Gefühl der Ohnmacht und Pein sind im Leben der Mystiker ganz allgemein. Wir finden sie in Madame Guyons Schriften ausführlich dargestellt. Unter unzähligen andern haben auch Seuse und Rulman Merswin sie erfahren; Angela von Foligno spricht von einer Verlassenheit, die schlimmer sei als die Hölle. Es ist klar, daß sogar Mechthild von Magdeburg, diese sonnige Heilige, die Leiden des Verlusts und der Abwesenheit Gottes kannte. »Ach Herr,« sagt sie an einer Stelle, »da Du mir alles, was ich von Dir habe, entzogen hast, laß mir doch aus Gnade die eine Gabe, die Du jedem Hunde von Natur verliehen hast, nämlich, Dir getreu zu sein in meiner Not, ohne Widerspenstigkeit. Dies begehre ich gewißlich noch mehr als Dein Himmelreich Das fließende Licht der Gottheit II, 25..« In einer solchen Äußerung offenbart sich uns plötzlich der ganze Lebenswert der Dunklen Nacht als Erziehung zu selbstloser Treue, eine »Schule leidender Liebe«.
E. Es gibt jedoch noch eine andere Art, in der das Gefühl einer dauernden Unvollkommenheit in der Beziehung zum Absoluten – das Gefühl der Arbeit, die noch zu tun bleibt – sich ausdrückt. Bei Menschen von sehr hochgespanntem und lebhaftem Temperament, die mehr zu jähen Schwankungen zwischen Schmerz und Freude neigen als zu langsamen und allmählichen Aufstiegen des Bewußtseins, geht dem Erreichen der Einigung bisweilen ein wildes und unerträgliches Verlangen »Gott zu sehen« vorher, ein Verlangen, das Transzendente in seiner Vollkommenheit wahrzunehmen, das, wie sie glauben, nur durch den Tod befriedigt werden kann. Sobald sie anfangen, über ihr erleuchtetes Bewußtsein hinauszuwachsen, beginnen diese Menschen auch zu begreifen, wie stückweise und symbolisch dies Bewußtsein, selbst auf seiner höchsten Stufe, gewesen ist; und ihr Aufstieg zur Vereinigung mit Gott kündet sich an durch eine leidenschaftliche und unbezwingliche Sehnsucht nach der letzten Wirklichkeit. Diese Leidenschaft ist so heftig, daß sie denen, die sie fühlen, heiße Qual verursacht. Sie bringt die ganze Trostlosigkeit der Dunklen Nacht mit sich und erhebt sich zuweilen zu dem Gipfel einer negativen Verzücktheit, zur Ekstase der Verzweiflung. Die hl. Teresa ist vielleicht das beste Beispiel dieser ziemlich seltenen Art und Weise, die Trennung der Seele von ihrer Heimat wahrzunehmen, die ebenfalls in einem berühmten Kapitel des »Traktates von der Liebe Gottes« von dem hl. Franz von Sales dargestellt wird VI, 13.. Infolge ihres außerordentlich beweglichen Temperaments, ihrer Neigung, die ganze Skala des Gefühls nach oben und unten zu durchlaufen, mußte Teresa ihre Zustände freudiger Verzücktheit oft mit solch einer »großen Trostlosigkeit«, mit dunkler Ekstase oder »Gottesweh« zahlen. »Solange dieser Schmerz währt,« sagt sie, »ist es der Seele unmöglich, an irgend etwas zu denken, was mit ihrem eigenen Sein zusammenhängt; vom ersten Augenblick an sind alle ihre Kräfte derart gebunden, daß sie keine Freiheit für irgend etwas behält, als nur etwa für das, was ihr Leiden vermehren kann. Ich möchte nicht, daß dies für eine Übertreibung gehalten würde. Im Gegenteil, ich bin sicher, daß das, was ich sage, noch nicht an die Wahrheit hinanreicht, weil Worte diese nicht auszudrücken vermögen. Es ist eine Entrücktheit der Sinne und Seelenkräfte in bezug auf alles, was nicht dazu beiträgt, die Seele jenen Schmerz empfinden zu lassen. Denn der Verstand erkennt sehr deutlich den Grund, warum die Seele fern von ihrem Gott ist, und der Herr vermehrt ihren Kummer, indem Er ihr in dieser Zeit eine so lebendige Selbsterkenntnis gibt und infolgedessen die Qual in einem solchen Grade steigert, daß der, der sie empfindet, laut aufschreit. Dies geschah derjenigen, von der ich gesprochen habe (der hl. Teresa selbst), als sie in diesem Zustande war. Trotz ihrer Geduld, trotz ihrer Vertrautheit mit dem Leiden, konnte sie dies Schreien nicht unterdrücken, weil dieser Schmerz, wie gesagt, nicht im Körper, sondern in tiefster Seele empfunden wird. Hieraus lernte sie dann, wieviel intensiver die Schmerzen der Seele sind als die des Leibes El Castillo Interior, Moradas Sextas Kap. XI..«
Auch bringt die intensive und schmerzhafte Konzentration des Bewußtseins auf die Abwesenheit Gottes, die in dieser »dunklen Verzücktheit« stattfindet, alle psycho-physischen Anzeichen der Ekstase mit sich. »Wenn diese Ekstase auch nur kurze Zeit dauert, so wird doch der Körper konvulsivisch davon verrenkt, der Puls ist so schwach, als ob die Seele schon abscheiden wollte. Aber während die natürliche Körperwärme abnimmt und fast erlischt, fühlt die Seele sich von dem Feuer ihrer Liebe so verzehrt, daß nur wenig fehlt, um sie ganz vom Leben zu befreien und so all ihr Wünschen zu erfüllen … Ihr werdet vielleicht sagen, daß dies Verlangen, Gott zu sehen, eine Unvollkommenheit sei und daß die Seele sich in den Willen Gottes fügen sollte, da sie ihm doch so ergeben ist. Bisher konnte sie dies tun und so ihr Leben ertragen. Aber jetzt, unmöglich! Sie ist nicht länger Herrin ihrer Vernunft und kann an nichts denken als an die Ursache ihres Leidens. Von ihrem Gott entfernt, wie könnte sie da leben wollen? Sie fühlt sich in äußerster Verlassenheit, denn kein Geschöpf hier auf Erden noch im Himmel kann ihr Gefährte sein, außer Er allein, den sie liebt. Es gibt in dieser Welt keine Linderung für ihren Schmerz, im Gegenteil, alles quält sie. Sie ist wie jemand, der in der Luft schwebt, der weder auf der Erde einen Halt finden noch zum Himmel emporgelangen kann. Von Durst verzehrt, kann sie nicht zum Brunnen gelangen. Nichts in dieser Welt kann diesen Durst löschen, auch will die Seele ihn durch kein anderes Wasser gelöscht haben als das, von dem der Herr zur Samariterin sprach. Dies aber ist ihr versagt S. Teresa a. a. O. Vgl. die Vida Kap. XX, § 11-14..«
Nun halten die Mystiker selbst alle diese Formen der Dunklen Nacht – die »Abwesenheit Gottes«, das Sündengefühl, die dunkle Ekstase, den Verlust der früheren Inbrunst, des Friedens und der Freude und das scheinbare Zurücksinken auf niedere seelische und geistige Ebenen – für Aspekte oder Teile eines und desselben Vorgangs: der endgültigen Reinigung des Willens oder des Bollwerks der Persönlichkeit, auf daß diese ganz und ohne Rückhalt wieder »in Gott eingehe, von wo sie ausgegangen«. Der Wert dieses Vorgangs für die mystische Entwicklung liegt darin, daß er die Seele heilt von der angeborenen Neigung, geistliche Freuden zu suchen und in ihnen zu ruhen, die Freude an der Betrachtung der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst zu verwechseln. Es ist die Vollendung jener Zügelung ungezügelter Neigungen, jener Umwertung der Werte, die mit dem Wege der Reinigung begann. Das aufsteigende Selbst muß die kindischen Befriedigungen aufgeben, muß seine Liebe ganz selbstlos, stark und mutig machen, muß jede Spur von geistlicher Schwelgerei abtun. Ein gänzliches Aufgeben des persönlichen Maßstabes, jenes kleinlichen und selbstischen Strebens nach persönlichem Erfolg, das die große Bewegung des fließenden Lichtes hemmt, ist die letzte Bedingung für das Teilhaben des Menschen an der Wirklichkeit. Dies gilt nicht nur für das vollkommene Teilhaben, das dem großen Mystiker möglich ist, sondern auch für jene selbstlosen Werke, durch die die Adepten der Wissenschaft oder der Kunst dem ewigen Guten das werden, »was die Hand dem Menschen ist«. »Meine nicht,« sagt Tauler, »daß Gott der Herr mit den Seinen allewege spielen will, oder auch leuchten, brennen, wie er hier im Anfang tut. Das ist nichts, denn ein lockerer Zaum, wie der Falkenier tut, wenn er den Falken locken will – – –. Wir müssen uns selbst reizen und erwecken, und uns Wissens, Empfindens und Feuers getrösten (darauf verzichten), und müssen nun dem Herrn recht mit unserm Fleiß und auf unsere Kosten dienen Tauler, Pred. I, 277 f. (2. Predigt auf d. Sonntag Judica)..«
Diese männliche Denkweise, die in der Dunklen Nacht ein Wachstum des Verantwortlichkeitsgefühls, eine Stufe der Charakterbildung sieht, wo, wie es im »Mirror of Simple Souls« heißt, »die Seele jenen Stolz und Zeitvertreib, womit sie sich vergnügte, läßt«, ist für die deutschen Mystiker charakteristisch. Wir finden sie auch bei Seuse wieder, dem der Engel seiner Trübsal keine gefühlvollen Trostworte sagte, sondern nur den strengen Befehl gab: » Viriliter agite.« »Handle wie ein Mann S. unten S. 531.!«. »Dann«, sagt wiederum Tauler, »sind wir allererst die liebsten Kinder Gottes, wenn uns weder Glück noch Unglück, weder Liebe noch Leid ziehet noch zurückhält. Was man hier findet, kann man nicht aussprechen: es ist ungleich besser, denn da man sehr brannte und viele Empfindung hatte und minder wesentliche Gelassenheit, denn hier hat man minder Weise und Empfinden, aber mehr wahre Treue zu Gott A. a. O. 278 f..«
In der Erleuchtung, wo die Seele sich im Unerschaffenen Licht sonnte, hielt sie die göttliche Klarheit und Süße, die sie da genoß, für die göttliche Natur selbst. Sie empfand ihr Bewußtsein des Absoluten hauptsächlich als eine Zunahme persönlicher Schau und persönlicher Freude. So blieb in jenem scheinbar selbstlosen Zustande »das Ich, das Mir und das Mein«, wenn auch vergeistigt, doch unversehrt. Die Kasteiung der Sinne wurde überzahlt durch das reiche und glückliche Leben, das diese Kasteiung der Seele brachte. Aber bevor eine wirkliche und dauernde Vereinigung mit dem Absoluten stattfinden kann, bevor der ganze Mensch lernen kann, auf jener hohen Ebene zu leben, wo er, nachdem er sein ganzes Sein dem unendlichen Willen überlassen hat, ganz in Gott gewandelt werden, in das große Leben des Alls eintauchen kann, muß dies abgesonderte Leben, diese Abhängigkeit von persönlichen Freuden, beseitigt werden. Der Seelenfunke, der schnell wachsende Keim des Gottmenschen, muß so sehr in jeden Winkel der Persönlichkeit eindringen, daß das Selbst nur mit der hl. Katharina von Genua sagen kann: »Mein Ich ist Gott, und ich kenne kein anderes Ich als diesen meinen Gott Vita Kap. XIV. 3..«
Die mannigfachen Qualen und Ängste der Dunklen Nacht bilden diese letzte und endgültige Reinigung des Geistes: die Aufhebung der Abgesondertheit, die Vernichtung der Selbstheit, wenn auch das Selbst schon nichts mehr für sich begehrt als die Liebe Gottes. Ein solches Begehren – das in Wahrheit ein Begehren nach vollkommenem Glück ist, da die Seele, der es zuteil geworden ist, nichts weiter bedarf – wird von diesen großen Geistern als etwas empfunden, was den Glanz ihrer sich selbst hingebenden Liebe trübt. »Alles, was ich hier über diese inneren Wonnen und Genüsse sagen möchte,« sagt William Law, »ist dies: sie sind nicht Heiligkeit, sie sind nicht Frömmigkeit, sie sind nicht Vollkommenheit, sondern sie sind Gottes gnadenvolle Lockungen und Rufe, Heiligkeit und geistliche Vollkommenheit zu suchen … und sollten uns eher überzeugen, daß wir bis jetzt nur kleine Kinder, als daß wir wirklich Männer Gottes sind … Dies allein ist das wahre Reich Gottes, das sich in der Seele öffnet, wenn sie, von aller Selbstsucht entblößt, nur Eine Liebe und Einen Willen in sich hat, wenn sie keine andere Regung noch Begierde hat, als die aus der Liebe zu Gott entspringt und sich gänzlich in den Willen Gottes ergibt … Um alles in ein Wort zusammenzufassen: Nichts hat uns von Gott getrennt als unser eigener Wille, oder vielmehr unser eigener Wille ist unsere Trennung von Gott. All die Verworrenheit und Verderbnis und Krankheit unserer Natur liegt in einer gewissen Starrheit unseres eigenen Wollens, Wünschens und Vorstellens, worin wir für uns leben, unser eigener Mittelpunkt und Umkreis sind, ganz aus uns selbst heraus handeln, unserem eigenen Wollen, Wünschen und Vorstellen gemäß. Es ist in uns nicht das geringste Böse, das nicht aus dieser Selbstigkeit entspränge, weil wir auf diese Weise uns selbst alles in allem sind … Wenn wir in einem gewissen Grade demütig, zerknirscht, fromm, geduldig sind und um unserer Tugenden willen verfolgt werden, so tut dies unserer Selbstigkeit keinen Abbruch, ja, das geistliche Selbst braucht alle diese Tugenden, um sich zu nähren, und sein Leben besteht darin, ihre Größe, Kraft und Wirklichkeit zu sehen, zu erkennen und zu fühlen. Doch bei all dem Glanz und Gepränge von Tugend stehen sie auf ungereinigtem Grunde, in einer Selbstigkeit, die ebensowenig ins Himmelreich eingehen kann wie die grobe Materie von Fleisch und Blut. Was wir in dieser letzten Reinigung, wo die tiefste Wurzel aller Selbstsucht, geistlicher wie natürlicher, in uns ausgerottet werden soll, zu fühlen und durchzumachen haben, oder wie wir imstande sein werden, in dieser Prüfung zu bestehen, ist beides gleich unmöglich im voraus zu wissen Christian Regeneration (The Liberal and Mystical Writings of William Law p. 158-60)..«
Das Selbst muß also aufhören, »sein eigener Mittelpunkt und Umkreis zu sein«, es muß die endgültige Übergabe vollziehen, die der Preis endgültigen Friedens ist. In der Dunklen Nacht lernt der schmachtende und gepeinigte Geist durch eine Todesangst, die, wie Madame Guyon sagt, »an sich selbst ein Gebet ist«, Liebelosigkeit um der Liebe willen, Nichtsheit um des Alls willen hinzunehmen; hier stirbt er ohne sichere Verheißung des Lebens, verliert, wo er kaum zu finden hofft. Er sieht mit Bestürzung die sichersten Grundlagen seines höheren Lebens unter sich zusammenbrechen, wird umschlossen von einem Dunkel, das keine Verheißung eines Morgens in sich zu bergen scheint. Dies ist es, was die deutschen Mystiker »die hohe Schule wahrer Entsagung« oder »leidender Liebe« nennen, die letzte Probe heldenhafter Loslösung, Männlichkeit, geistlichen Mutes. Obwohl eine solche Erfahrung »passiv« ist, insofern als der Mensch sie weder nach Belieben herbeiführen noch lassen kann, so ist sie doch eine unmittelbare Aufforderung zu aktivem Ertragen, ein Zustand von Anspannung, in dem Arbeit getan wird. So wurde die hl. Katharina von Siena, als sie von schrecklichen Visionen der Sünde gequält wurde, von ihrem tieferen Selbst dahin geführt, diese subtile Form der Peinigung, die ihrem keuschen und zarten Gemüt fast unerträglich war, heldenhaft auf sich zu nehmen. Als diese Prüfungen sie so weit gebracht hatten, daß sie aufhörte, sich gegen sie zu wehren, sondern ausrief: »Ich habe mir das Leid zum Trost gewählt«, war der Zweck erreicht, und sie hörten auf. Und noch bezeichnender: als sie fragte: »Wo warst du, Herr, als ich von dieser Schändlichkeit gequält wurde?«, antwortete die göttliche Stimme: »Ich war in deinem Herzen S. oben S. 511..«
»Um die Seele aus der Unvollkommenheit emporzuheben,« sagte die Stimme Gottes zur hl. Katharina von Siena, »entziehe ich mich ihrem Gefühl und beraube sie des früheren Trostes … Dies tue ich, um sie zu demütigen und zu veranlassen, mich in Wahrheit zu suchen, und um sie im Lichte des Glaubens zu prüfen, auf daß sie zur Klugheit komme. Wenn sie mich alsdann ohne selbstische Gedanken liebt, mit lebendigem Glauben und mit Haß gegen sich selbst, so freut sie sich der Trübsal, weil sie sich des Friedens und der Gemütsruhe unwürdig hält. Und dies ist nun das zweite der drei Dinge, von denen ich dir sagte: wie die Seele zur Vollkommenheit gelangt und was sie tut, wenn sie dahin gelangt ist. Sie tut dann dies: Obwohl sie bemerkt, daß ich mich von ihr zurückgezogen habe, wendet sie den Kopf nicht nach mir zurück, sondern beharrt mit Demut in ihren Übungen und bleibt im Hause der Selbsterkenntnis eingeschlossen, und darin erwartet sie mit lebendigem Glauben das Kommen des Heiligen Geistes, das heißt, mein Kommen, der ich das Feuer der Liebe bin – – –. Dies ist das, was die Seele tut, die sich von der Unvollkommenheit geschieden hat und zur Vollkommenheit gelangt ist; und damit sie dahin gelange, schied ich mich von ihr, nicht der Gnade, sondern dem Gefühl nach. Ich verließ sie ferner, damit sie ihre Fehler sähe und erkennte, auf daß sie, indem sie sich des Trostes beraubt und von Schmerz gepeinigt fühlt, ihre Schwäche erkenne und erfahre, daß sie nicht imstande ist, festzustehen und auszuharren, und ihre geistliche Selbstliebe bis auf die Wurzel ausrotte. Denn dies muß Ziel und Zweck aller Selbsterkenntnis sein, daß sie sich über sich selbst erhebt und den Thron des Gewissens besteigt und dem Gefühl der unvollkommenen Liebe nicht gestattet, sich in ihrem Todeskampf wieder aufzurichten, sondern die Wurzel der Selbstliebe mit dem Messer des Selbsthasses und der Tugendliebe ausgräbt Dialogo Kap. LXIII..«
»Die Wurzel der Selbstliebe mit dem Messer des Selbsthasses ausgräbt.« Hier sehen wir den mystischen Grund jener bittern Selbstverachtung und jenes Gefühls der Hilflosigkeit, das die Seele in der Dunklen Nacht überwältigt. Ein solches Gefühl der Hilflosigkeit ist in Wirklichkeit, wie die Mystiker sagen, ein Zeichen des Fortschreitens, des tieferen Eindringens in jene Sphäre der Wirklichkeit, an deren Luft das Selbst noch nicht gewöhnt ist und die ein wachsendes Bewußtsein des erschreckenden Abstandes zwischen dieser Wirklichkeit, dieser Vollkommenheit, und der unvollkommenen Seele mit sich bringt.
Das Selbst ist im Dunkel, weil es von einem Licht geblendet wird, das größer ist, als es ertragen kann. Je heller das Licht ist, desto mehr blendet und verdunkelt es das Auge der Nachteule. Und je fester einer in das volle Sonnenlicht schaut, um so mehr verdunkelt er seine Sehkraft, ja er wird derselben, weil sie im Verhältnis zu dem überschwenglichen Lichte der Sonne zu schwach ist, sogar beraubt. Wenn daher dieses göttliche Licht der Kontemplation in die Seele tritt, die noch nicht vollständig erleuchtet ist, so verursacht es in ihr geistige Finsternis. Denn es übersteigt nicht nur die natürliche Erkenntniskraft, sondern verdunkelt auch den Akt des Erkennens und beraubt sie desselben – – –. Wie die Augen, die infolge verdorbener Säfte krank und unrein sind, durch rasches Einströmen des hellen Lichtes Schmerz empfinden, so ist die Pein der Seele infolge ihrer Unreinheit ungemein groß, wenn sie wirklich von diesem göttlichen Lichte ergriffen wird. Wenn nämlich dieses reine Licht in die Seele einströmt, um die Unreinheit aus derselben zu beseitigen, fühlt sich dieselbe so unrein und elend, daß es ihr scheint, als sei Gott ihr und sie Gottes Feind – – –. Es ist in der Tat recht staunens- und bewundernswert, daß die Seele so schwach und unrein ist und infolgedessen die an sich freundliche und liebevolle Hand so schwer und feindlich empfindet, die sie doch nicht drücken und ihr eine Last auflegen, sondern sie nur aus Barmherzigkeit berühren will, und zwar nicht, um zu züchtigen, sondern um ihr Gnade zu erweisen St. Johannes vom Kreuz, Noche Escura del Alma II, Kap. 5..«
Die Dunkle Nacht ist also, von welcher Seite wir sie auch betrachten mögen, ein Zustand von Disharmonie, von unvollkommener Anpassung an die Umgebung. Das Selbst, noch nicht gewöhnt an die unmittelbare Berührung mit dem Absoluten, die die Quelle seiner Lebenskraft und seiner Freude werden soll, fühlt die »weiche und sanfte Berührung« der ihm folgenden Liebe als unerträglichen Druck. Die »Selbstvernichtung« oder Reinigung des Willens, die hier stattfindet, ist das Bestreben, jene Disharmonie zu lösen, das Etwas hinwegzuläutern, das sich immer noch in der Seele dem Göttlichen entgegensetzt und das klare Licht der Wirklichkeit zur Qual macht, statt zur Freude. So tief ist die Seele nun in den großen Strom des geistlichen Lebens eingedrungen, so herrschend sind ihre höheren Kräfte geworden, daß diese Entwicklung in ihr vollendet wird, ob sie will oder nicht, und insofern ist diese Reinigung »passiv«, wie mystische Schriftsteller sie bisweilen nennen. Solange der Mensch sich noch als Etwas empfindet, hat er seine Selbstheit noch nicht vernichtet und ist noch nicht auf den Grund gelangt, wo sein Wesen mit dem Wesen Gottes vereint werden kann.
Erst wenn er lernt, überhaupt nicht mehr an sich selbst zu denken, auch nicht in noch so herabsetzender Weise, wenn er auch die Selbstigkeit abtut, die in dem Verlangen nach der fühlbaren Gegenwart Gottes liegt, wird er diese Harmonie erreichen. Dies ist die »Vernichtung der Seele«, die vollkommene Hingabe an den großen Strom des absoluten Lebens, die alle mystischen Schriftsteller so ausdrücklich fordern. Wie bei der Reinigung so ist auch hier die Bedingung für den Aufstieg zu höheren Ebenen der Lebenskraft ein Sterben, ein Verlust, eine Loslösung, ein Forträumen. Die Armut stürzt sich auf das Kreuz und findet dort gänzliche Trostlosigkeit, ohne Verheißung geistlichen Lohnes. Die Befriedigungen des Geistes müssen nun denselben Weg gehen wie die Befriedigungen der Sinne. Selbst die Kraft zum freiwilligen Opfer und zur Selbstbeherrschung wird genommen. Ein furchtbares ennui, eine dumpfe Hilflosigkeit tritt an ihre Stelle. Das mystische Motto » Ich bin nichts, ich habe nichts, ich begehre nichts«, muß nun nicht nur die Losgelöstheit von den Sinnen, sondern die Hingabe des ganzen Wesens an das All ausdrücken.
Der sittliche Zustand, auf den diese innere Pein hinarbeitet, ist der vollkommener Demut. »Hieran ist alles gelegen,« sagt Tauler, »an einem grundlosen Entsinken in ein grundloses Nichts.« Und er fährt fort: »So möchte der Mensch sprechen: Herr, wer bist du, daß ich dir auf so tiefen, wilden und elenden Wegen nachfolgen soll? So mag der Herr sprechen: Ich bin Mensch und Gott, und ich bin viel mehr denn Gott. Könnte ihm der Mensch nun aus einem wesentlichen bekannten Grunde antworten: so bin ich nichts und weit mehr denn nichts, Kinder, so wäre es schier getan; denn die übernamenlose Gottheit hat nirgends eine eigentliche Stätte zu wirken als in dem Grunde der allertiefsten Vernichtetheit. Denn so schreiben die Meister: wenn eine neue Form werden soll, so muß notwendig die alte vergehen … Und so spreche ich: soll der Mensch hier überformt werden mit diesem überwesentlichen Wesen, so müssen notwendig alle Formen fort, die er je empfing in allen Kräften: das Erkennen, das Wissen, das Wollen, das Wirken, das Vorstellen, die Empfindung, die Selbstsucht. Als St. Paulus nichts sah, da sah er Gott. Deshalb tat auch Elias den Mantel vor die Augen, als der Herr kam. Hier werden alle die starken Felsen zerbrochen; alles, worauf der Geist rasten könnte, das muß hier alles ab. Und wenn alle diese Formen entwerden, dann in einem Augenblick wird er überformt. Und so mußt du vorwärtsgehen. Von da an spricht der himmlische Vater zu ihm: Du sollst mich Vater heißen und sollst nicht aufhören hineinzugehen, je näher je tiefer versinken in den unbekannten und namenlosen Abgrund und über alle Weisen, Bilder und Formen, über alle Kräfte dich selbst verlieren und allzumal entbilden. »So bleibt nichts in dieser Verlorenheit als ein Grund, der wesentlich auf sich selbst steht, Ein Wesen, Ein Leben überall. Daher, kann man sagen, wird man kennelos und minnelos und werklos und geistlos Tauler S. 256, 30 f.; 257, 7-57 (Predigt auf St. Matthäi-Fest; Lehmann II, 60 f.; Pred. III, 142 f.)..«
Es ist klar, daß ein so gründlicher Vorgang der Entselbstung nicht ohne Anspannung vor sich gehen kann. Er ist die negative Seite der »Vergottung«, worin das Selbst, beraubt alles Wahrnehmens, Wissens, Wollens, Wirkens, Selbstsuchens – des Ich, des Mir, des Mein – sich selbst verliert, verleugnet, vernichtet und sich immer mehr dem Einen nähert, bis »nichts bleibt als ein Grund, der wesentlich auf sich selbst steht« – der Seelengrund, in dem es seine Einigung mit Gott findet.
»Ein Wesen, Ein Leben überall« – dies ist das Ziel mystischer Tätigkeit, der endliche Gleichgewichtszustand, auf den das Selbst sich in der Wirrnis und Angst der Dunklen Nacht hinbewegt oder vielmehr hinkämpft. »Die Seele«, sagt Madame Guyon an einer Stelle von ungewöhnlicher Schönheit, »verscheidet, nachdem sie vielmals den Tod erlitten, endlich in den Armen der Liebe; allein sie ist unfähig, diese Arme wahrzunehmen … Alsdann, wenn sie ganz vernichtet ist, findet sich in ihrer Asche ein Samenkorn der Unsterblichkeit, das sich in dieser Asche erhalten hat und zu seiner Zeit entkeimen wird. Aber sie weiß dies nicht und erwartet nicht, sich jemals wieder lebendig zu finden.« Und weiter: »Die Seele, die zu Nichts geworden ist, soll darin verharren, ohne zu wünschen, aus dem Zustande des Staubes, in dem sie nun ist, hervorzugehen oder aufs neue zu leben. Sie muß bleiben als etwas, was nicht mehr existiert; und zwar, damit der Strom ins Meer einmündet und sich darinnen verliert, um sich nie wieder zu seiner Selbstheit zurückzufinden; auf daß er ganz eins werde mit dem Meere Les Torrents I, Kap. 8..«
So sagt Hilton von der »vernichteten Seele«: »je weniger sie denkt, daß sie Gott liebt oder schaut, je mehr naht sie sich der Gabe dieser gesegneten Liebe; denn dann ist die Liebe Herr und wirkt in der Seele und macht, daß sie sich selbst vergißt und nur darauf sieht, wie die Liebe wirkt, und dann ist die Seele mehr leidend als handelnd, und das ist reine Liebe The Scale of Perfection III, Kap. 5..«
Der »mystische Tod« oder die »Dunkle Nacht« ist daher eine Erscheinungsform oder eine Episode des Sichverlierens der Seele im Abgrunde des göttlichen Lebens, ihres Versinkens und Einswerdens mit dem Absoluten, das das ganze Ziel der mystischen Entwicklung ist. Sie ist der letzte schmerzhafte Bruch mit dem Leben der Täuschung, das Sichlosreißen des Selbst von jener Welt des Werdens, in der alle seine natürlichen Neigungen und Begierden wurzeln, auf die sein Intellekt und seine Sinne eingestellt sind, und sein Hinausgeschleudertwerden in die Welt des Seins, wo es zuerst, schwach und geblendet, nur eine Wüste, ein Dunkel finden kann. Ohne Feuer keine Umwandlung, sagen die Alchimisten; ohne Kreuz keine Krone, sagt der Christ. Alle großen Meister des geistlichen Lebens – welcher Art auch ihre Glaubensform, ihre Symbole, ihre Deutungen sein mögen – stimmen darin überein, daß sie diese Bedrängnis, Trübsal und Verlassenheit als einen wesentlichen Teil des Weges von dem Vielen zum Einen schildern.
Die Dunkle Nacht bringt also den Menschen zu der Schwelle jenes vollendeten Lebens, das er in inniger Verbundenheit mit der Wirklichkeit leben soll. Es ist das Begräbnis, das der Auferstehung vorhergeht, sagen die christlichen Mystiker, stets geneigt, ihren Lebensprozeß in der Sprache ihres Glaubens zu beschreiben. Hier wie überall – aber nirgends in so absolutem Sinne – muß der Mensch »verlieren, um zu finden, und sterben, um zu leben.«
Die Dunkle Nacht pflegt, wie wir gesehen haben, sich stufenweise zu fixieren, indem die Kräfte und Intuitionen dem Selbst eine nach der andern entzogen und die Zeiten der Hellsichtigkeit seltener werden, bis der mystische Tod oder Zustand gänzlicher Gnadenentziehung erreicht ist. Ebenso geschieht auch das Entweichen der Nacht vor dem Anbruch des neuen oder geeinten Lebens gewöhnlich langsam, obwohl es bisweilen – wie z. B. bei Rulman Merswin – durch Visionen und Ekstasen gekennzeichnet ist Jundt, Rulman Merswin p. 22.. Die Trübsale und Disharmonien der Dunklen Nacht weichen eine nach der andern, das Positive tritt an Stelle des Negativen, durch die Wolke des Nichtwissens dringen die Strahlen des Lichtes. »Wenn der alte Zustand der Gnadenentziehung sein Ende erreicht hat,« sagt Madame Guyon, »so beginnt dies tote Selbst allmählich zu fühlen – jedoch ohne daß sein Gefühl schon erwacht wäre –, daß seine Asche sich wieder belebt und es von neuem Leben erfüllt wird; allein dies geschieht so allmählich, daß es ihm nur wie eine Phantasie erscheint oder wie ein glückliches Traumbild … Und darin besteht die letzte Stufe, die der Anfang des göttlichen und wahrhaft inneren Lebens ist, das eine unendliche Reihe von Stufen enthält und in dem man immer ohne Ende fortschreiten kann Les Torrents I, Kap. 8..«
Der Akt der vollkommenen Hingabe, der durch die Dunkle Nacht bewirkt wird, hat also dem Selbst seinen festen Boden in der Ewigkeit gegeben; das gänzliche Aufgeben der alten Bewußtseinszentren hat den Aufstieg zu neuen möglich gemacht. Bei jedem solchen Schritt aufwärts hat das höhere Selbst, jener Seelenfunke, der mit dem absoluten Leben geeint ist, immer vollständiger von der Persönlichkeit Besitz genommen und ist vorangekommen in der rastlosen Entwicklung, die die Erneuerung des Selbst im Einklang mit der Ewigen Welt mit sich bringt. Im Elend und in der scheinbaren Stagnation der Dunklen Nacht, in jener Trübung des geistlichen Bewußtseins, jener Stumpfheit seines Willens und seiner Liebe, ist Arbeit geleistet und das letzte große Stadium der innern Umwandlung durchmessen. Das Selbst, das aus der Nacht hervorgeht, ist kein abgesondertes Selbst, das die Erleuchtung des Unerschaffenen Lichtes fühlt, sondern es ist der neue Mensch, die umgewandelte Menschheit, deren Leben eins ist mit dem absoluten Leben Gottes. »Sobald nun«, sagt der hl. Johannes vom Kreuz, »diese zwei Häuser der Seele mit all ihren Hausgenossen, den Seelenkräften und Gelüsten, vollkommen zur Ruhe gelangt und gestärkt sind, sobald sie bezüglich aller natürlichen und übernatürlichen Dinge in nächtlichem Schweigen sich befinden, vereinigt sich mit ihr die göttliche Weisheit unmittelbar durch ein neues Band der Innewohnung in Liebe, und es erfüllt sich, was sie selbst im Buche der Weisheit sagt: »Da alles stille war und ruhete, und eben recht Mitternacht war, fuhr dein allmächtiges Wort vom Himmel aus königlichem Throne« (Weisheit 18, 14 f.). Dasselbe deutet die Braut im Hohen Liede an, wenn sie sagt, sie habe, nachdem sie an denen vorübergegangen, die sie nachts ihrer Kleider beraubten und verwundeten, jenen gefunden, den ihre Seele liebt (Hohel. 3, 4) Noche Escura del Alma II, 24..«
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Bisher haben wir die Dunkle Nacht der Seele von einem etwas akademischen Standpunkte aus betrachtet. Wir haben versucht, sie zu zergliedern und zu beschreiben, haben sie mehr durch das Medium der Literatur als durch das des Lebens gesehen. Ein solches Verfahren hat schon, wenn es sich um einen organischen Lebensvorgang handelt, seine augenfälligen Nachteile, und diese nehmen zu, wenn man es auf das geistliche Leben des Menschen anwendet. Überdies kann unser Hauptbeispiel »aus dem Leben«, Madame Guyon, so wertvoll ihr Hang zur Selbstanalyse sie dem Erforscher mystischer Zustände auch macht, nicht als vollkommen ausreichender Zeuge angesehen werden. Ihre krankhafte Gefühlsschwelgerei, ihr törichter »geistlicher Eigendünkel« muß bei der Bewertung ihrer psychologischen Schilderungen beständig in Rechnung gesetzt werden. Wenn wir eine wahre objektive Vorstellung von der Dunklen Nacht bekommen wollen, müssen wir sie in ihrer Ganzheit als einen Teil des allgemeinen Lebensprozesses sehen, nicht als eine Teilerfahrung. Wir müssen beobachten, wie das Selbst, das durch dies Entwicklungsstadium hindurchgeht, nicht nur auf seine Intuition des Göttlichen reagiert, sondern auch auf seine normale Umgebung, auf das, was sein tägliches Dasein ausmacht.
Als Gegenstück zu diesem Kapitel wollen wir daher ein anderes Bild dieses »Schmerzzustandes« betrachten, wie es sich im Leben eines Mystikers ausprägt, dessen feurige, eindrucksfähige und dichterische Natur auf jede Seite der kontemplativen Erfahrung, jede Stimmung und Regung der Seele reagierte. Ich wähle gerade dies Beispiel – das Leben Seuses – erstens, weil es viele interessante und nicht herkömmliche Elemente enthält, indem es uns die Dunkle Nacht nicht als eine Reihe von eigentümlichen Ereignissen zeigt, sondern als eine Entwicklungsstufe, die in weitem Umfange durch individuelle Anlage bedingt ist, und zweitens, weil diese einzigartig unbefangene Selbstbiographie, als eine Darstellung von erster Hand, verhältnismäßig frei ist von den von Verehrung diktierten entstellenden Verbesserungen der Hagiographen.
Seuses Leben, vom 20. Kapitel abwärts, ist eins der wertvollsten Dokumente, die wir für das Studium dieser Periode des mystischen Weges besitzen. Wir sehen darin – vielleicht deutlicher, als der Verfasser selbst es tat – die Erneuerung seines Bewußtseins, die Reaktionen seines Temperaments auf das unaufhörliche und unerbittliche Sichdurchringen seines tieferen Selbst, die so ganz anderer Art sind als bei Madame Guyon oder der hl. Teresa. Bei diesen Prüfungen und Läuterungen ist ein Zug von männlicher Tatkraft, eine Betonung der heroischen Seite des geistlichen Lebens, die den meisten von uns weit sympathischer ist als Madame Guyons stilisierte Reden über Resignation und heilige Passivität oder selbst als die »dunklen Ekstasen« unersättlichen Verlangens bei der hl. Teresa.
Das Kapitel, in welchem Seuse seinen Eintritt in dies »Zweite mystische Leben« der Gnadenentziehung beschreibt, heißt: »Wie er in die vernünftige Schule zu der Kunst rechter Gelassenheit gewiesen ward.« Bezeichnenderweise drückt diese innere Erfahrung sich in einer Reihe von dramatischen Visionen aus, Visionen jener dynamischen Art, die wir als eine allgemeine Begleiterscheinung der Krise beobachtet haben, in der das mystische Selbst sich zu einer neuen Bewußtseinsebene erhebt. Sie folgte auf die lange Periode beständiger Kasteiung und zeitweiliger Erleuchtung, die, wie er uns erzählt, von seinem achtzehnten bis zu seinem vierzigsten Jahre dauerte und die den ersten Ring seines geistlichen Lebens ausmachte. Am Ende dieser Zeit »ward ihm von Gott gezeigt, daß die Strenge und diese Weisen allesamt nichts anderes gewesen seien als ein guter Anfang und ein Durchbrechen seines ungebrochenen Menschen, und ihm ward die Überzeugung, er müsse in einer andern Weise noch weiter getrieben werden, wenn er zum Ziele kommen sollte Leben Schluß des 18. Kap..«
In zweien dieser Visionen, dieser lebendigen innern Dramen, sehen wir Seuses entwickeltes mystisches Bewußtsein gleichsam seiner Erfahrung voranlaufen, indem es das verborgene Buch seiner eigenen Zukunft liest, seine geistlichen Bedürfnisse sondiert und die Ergebnisse dem zurückgebliebenen und widerspenstigen Oberflächenbewußtsein vorlegt. Dies wachsende mystische Bewußtsein spürt schon die Ketten, die der normale Seuse nicht fühlt. Seine Augen öffnen sich dem wahren Lande der Seele, es sieht den Pfad, den es einschlagen muß, um zur vollkommenen Freiheit zu kommen; sieht den Unterschied zwischen der Art dieser Freiheit, und der geistlichen Stufe, die Seuse erreicht zu haben glaubt. Die erste dieser Visionen ist die der Höchsten Schule, die zweite ist die, wo er berufen wird, die Rüstung des Ritters anzulegen.
»Einst saß der Diener nach der Mette in seinem Stuhle, und in Gedanken verloren entsanken ihm die Sinne, und es deuchte ihn im inneren Gesichte, daß ein edler Jüngling von oben herab käme, vor ihn träte und also zu ihm spräche: ›Du bist lange genug in den niederen Schulen gewesen und hast dich genug darinnen geübt und bist reif geworden. Wohlauf mit mir! Ich will dich nun zu der höchsten Schule, die es in dieser Zeit gibt, führen Diese Ausdrücke, die Niedere und Hohe Schule des Hl. Geistes, die das Erste und Zweite mystische Leben bezeichnen sollen, waren der ganzen Gruppe der »Gottesfreunde« gemeinsam und kehren häufig in ihren Werken wieder. Vgl. oben S. 480 Rulman Merswins Vision von den neun Felsen, wo es heißt, daß der, der »seinen Ursprung geschaut hat«, in der Hohen Schule des Heiligen Geistes gewesen, d. h. mit Gott vereint ist.. Da sollst du nun mit Fleiß die höchste Kunst lernen, die dich in göttlichen Frieden versetzen und deinen heiligen Anfang zu einem seligen Ende bringen soll.‹ Des ward der Diener froh und stand auf. Der Jüngling nahm ihn bei der Hand und führte ihn, wie ihn deuchte, in ein übersinnliches Land. Da war ein schönes Haus, das war, als wäre es geistlicher Leute Wohnung. In demselben wohnten, die derselben Kunst pflagen. Als er hineinkam, ward er von ihnen freundlich empfangen und liebreich gegrüßt; sie eilten hin zu dem obersten Meister und sagten ihm, es sei einer gekommen, der wolle auch sein Jünger sein und die Kunst lernen. Er sprach: ›Den will ich vorher mit Augen ansehen, wie er mir gefalle.‹ Da er ihn sah, lachte er ihn an und sprach: ›Nun wisset das von mir, daß dieser Gast wohl ein frommer Gottesgelehrter dieser hohen Kunst werden kann, will er sich geduldiglich in die engen Schranken fügen, darin er bewährt werden muß.‹ Der Diener verstand die verborgenen Worte damals noch nicht; er wandte sich zu dem Jüngling, der ihn hineingeführt hatte, und fragte ihn also: ›Eia, lieber Geselle mein, sage mir, was ist die höchste Schule und ihre Kunst, von der du mir gesagt hast?‹ Der Jüngling sprach also: ›Die hohe Schule und ihre Kunst, die man hier liest, das ist nichts anderes als eine gänzliche, vollkommene Gelassenheit seiner selbst, also daß ein Mensch in solcher Entwordenheit steht, wie Gott sich ihm erzeigt in sich selbst oder in seinen Kreaturen, in Freud oder Leid, daß er sich dessen befleißige, allezeit den eigenen Willen aufzugeben (soweit es menschliche Schwäche zustande bringen mag). – – – Nach dieser Rede kam der Diener schnell zu sich selbst … Er begann mit sich selbst zu reden und sprach: »Blick eifrig in dich, so findest du dich selbst erst eigentlich und merkst, daß du noch mit allen deinen äußeren Übungen, die du dir selbst aus deinem eigenen Grunde antatest, ungelassen bist, fremde Widerwärtigkeit zu empfangen. Du bist noch wie ein erschrockenes Häslein, das in einem Busch verborgen liegt und vor jedem fliegenden Blatt erschrickt. So geht's auch dir: Vor dir zufallendem Leiden erschrickst du alle deine Tage; vor dem Anblick deiner Widersacher entfärbst du dich; so du untergehen solltest, fliehst du; so du dich nackt darbieten solltest, verbirgst du dich; so man dich dann lobt, so lachst du; so man dich schilt, trauerst du. Es mag wohl wahr sein, daß du einer hohen Schule bedarfst Leben Kap. 19..«
Nachdem Seuse ein paar Wochen lang das körperliche Behagen genossen hatte, das die Aufgabe aller äußeren Kasteiungen ihm brachte, erhielt er eine noch schärfere Lektion über seinen Mangel an sittlichem Mut. Er saß auf seinem Bett und sann nach über Hiobs Wort: » Militia est vita hominis super terram«, »Der Menschen Leben auf diesem Erdreich ist nichts anderes denn eine Ritterschaft« (Job VII, 1). »In dieser Betrachtung entsanken ihm die Sinne abermals und deuchte ihn, als käme dort herein ein sauberer Jüngling, der war gar männiglich gestaltet, und brachte mit sich zwei zierliche Ritterschuhe und andere Kleider, die Ritter zu tragen pflegen. Er ging zu dem Diener und legte ihm die Ritterkleidung an und sprach zu ihm: ›Sei Ritter! du bist bisher Knappe gewesen, und Gott will, daß du mein Ritter seiest!‹ Er sah sich selber an in den Ritterschuhen und sprach in großer Verwunderung seines Herzens: ›O weh, Gott! wie ist es mir ergangen, was ist aus mir geworden! Soll ich nun Ritter sein? Ich pflege fortan viel lieber meiner Bequemlichkeit‹, und sprach zu dem Jüngling: ›Wenn Gott nun einmal will, daß ich Ritter sei, so wäre es mir lieber, wenn ich löblich in einem Streite Ritter geworden wäre.‹ Der Jüngling kehrte sich ab und lachte und sprach dann zu ihm: ›Sei ohne Sorge, dir soll noch Streites genug werden! Wer die geistliche Ritterschaft Gottes unverzagt führen will, dem soll viel mehr großes Gedränge begegnen, als es je früher in den alten Zeiten den berühmten Helden geschehen, von deren kecker Ritterschaft die Welt zu singen und zu sagen pflegt. Du wähnst, Gott habe dir dein Joch abgenommen und deine Bande hingeworfen, und du solltest nun der Bequemlichkeit pflegen; so geht es noch nicht: Gott will dir deine Bande nicht abnehmen, er will sie nur ändern und will sie viel schwerer machen, als sie je waren.‹ Hierüber erschrak der Diener gar sehr und sprach: ›Eya, Gott, was willst du nun mit mir beginnen? Ich wähnte, es hätte ein Ende, nun geht es erst an, es wird nun erst schlimm, wie mich dünkt. Ach, Herr vom Himmel, was hast du mit mir vor? Bin ich allein ein Sünder und ist's jedermann gerecht, daß du deine Rute an mir Armen also übst und sie an manchem Menschen also sparst? Dies hast du mit mir von meinen Kinderjahren an getrieben, indem du meine junge Natur mit schweren, langwierigen Siechtagen kreuzigtest, und ich wähnte, es sei nun genug!‹ Er sprach: ›Nein, es ist noch nicht genug! Du mußt bis in den Grund in allen Dingen heimgesucht werden, soll dir recht geschehen!‹ Der Diener sprach: ›Herr zeige mir, wie viele Leiden ich noch vor mir habe.‹ Er antwortete und sprach: ›Sieh aufwärts an den Himmel: kannst du die unzählige Menge der Sterne zählen, so kannst du auch deine Leiden zählen, die dir noch bevorstehen; und wie die Sterne klein erscheinen und doch groß sind, so sollen auch deine Leiden klein erscheinen vor ungeübter Menschen Augen, die dir doch nach eigener Empfindung groß zu tragen sein werden.‹ Der Diener sprach: ›Ach, Herr, zeig' mir die Leiden vorher, daß ich sie wisse.‹ Er sprach: ›Nein, es ist dir besser, nicht zu wissen, damit du nicht vorher verzagest. Doch unter den unzähligen Leiden, die dir bevorstehen, will ich dir nur drei nennen:
Das eine ist: Du schlugst dich selbst bisher mit deinen eigenen Händen und hörtest auf, wenn du wolltest, und hattest Erbarmen mit dir selbst. Ich will dich nun dir selber nehmen und will dich ohne Wehr den Fremden in die Hände liefern. Da muß deine Vornehmheit öffentlich untergehen durch etliche blinde Menschen; von dem Drucke soll dir's übler geschehen als von dem scharfen Kreuz auf deinem verwundeten Rücken Während der Jahre der Reinigung hatte Seuse beständig ein scharfes Kreuz getragen, dessen Spitzen ihm ins Fleisch drangen.; denn bei diesen vorigen Übungen wurdest du bei den Leuten sehr angesehen, aber hier wirst du niedergeschlagen und mußt zunichte werden.
Das andere Leiden ist: Wie manchen bittern Tod du dir selbst angetan hast, so ist dir doch das durch Gottes Zulassung geblieben, daß du eine zarte, liebesuchende Natur hast; und es wird geschehen, daß du an den Stätten, da du sonderlich Lieb und Treue suchst, daß du da große Untreue und großes Leiden und Ungemach haben wirst. Das Leiden wird so mannigfaltig sein, daß sogar noch die Menschen, die es besonders treu mit dir meinen, vor Erbarmen mit dir leiden müssen.
Das dritte Leiden ist: Du bist bisher ein Säugling und ein verwöhnter Zärtling gewesen und hast in göttlicher Süßigkeit wie ein Fisch im Meere geschwebt. Das will ich dir nun entziehen und will dich darben und dorren lassen, daß du von Gott und von aller Welt verlassen sein sollst, und mußt von Freunden und Feinden öffentlich verfolgt werden. Daß ich es dir kurz sage: Alles, was du anfängst dir zu Lust oder zu Trost, das muß alles rückwärts gehen; und was dir leid und zuwider ist, das soll alles vorwärts gehen Leben Kap. 20 (Bihlm. S. 55-57)..‹«
Wir finden hier in höchst poetischer und visionärer Darstellungsweise die charakteristischen Schmerzen der Dunklen Nacht, wie sie Madame Guyon und der hl. Johannes vom Kreuz beschrieben haben und fast jeder Sachkundige, der über diesen Bewußtseinszustand geschrieben hat. Trostlosigkeit und Einsamkeit, Verlassenheit von Gott und Menschen, bei allen Unternehmungen eine Neigung fehlzuschlagen, eine Fülle von unvorhergesehenen Prüfungen und Kümmernissen – dies alles haben wir hier. Seuse mit seiner ohnehin hochgespannten und unausgeglichenen, sensitiven dichterischen Veranlagung litt in dieser geistigen Wirrnis und Vervielfältigung seiner Pein aufs intensivste. Er wurde von einer tiefen und schweren Depression gequält, so daß ihm war, als ob ein Berg auf seinem Herzen läge von Zweifeln gegen den Glauben und von Versuchungen zur Verzweiflung Ebenda Kap. 21.. Dieser jämmerliche Zustand dauerte ungefähr zehn Jahre. Sein Leiden wurde noch vermehrt und gesteigert durch äußere Prüfungen wie Krankheiten und falsche Beschuldigungen; und es wurde wiederum gelindert wie in den Jahren der Reinigung durch gelegentliche Visionen und Offenbarungen.
Seuse neigte von Natur zu einem Leben der Abgeschlossenheit, zu heimlichen Kasteiungen, Träumen, Ausbrüchen inbrünstiger Frömmigkeit, stundenlangem, verzücktem Zwiegespräch mit der Ewigen Weisheit, die er liebte. Halb Künstler, halb Einsiedler, äußerst unpraktisch, hatte er die ganze Furcht des Träumers vor der Menschenwelt. Nun widersetzte sich sein tieferes mystisches Selbst allen diesen Neigungen. Wie der Engel in der Stunde seiner äußersten Not und Niedergeschlagenheit zu ihm sprach: » Viriliter agite! Leben Kap. 23, vgl. oben S. 516.« so drängte es ihn unerbittlich zu männlichem Handeln und trieb ihn hinaus aus seiner friedlichen, wenn auch unbequemen Zelle in das rauhe Getümmel der Welt. Der arme Seuse war von Natur wenig geeignet für dies Getümmel, und ein großer Teil seiner Selbstbiographie handelt von alledem, was er darin zu erdulden hatte. Die Dunkle Nacht war für ihn eine ausgesprochen »aktive Nacht«, und je aktiver er zu sein gezwungen wurde, um so dunkler und qualvoller wurde sie. Kapitel auf Kapitel ist angefüllt mit den Leiden des unglücklichen Dieners, der, nachdem er einmal angefangen hatte, sich mit dem praktischen Leben zu befassen, bald seine angeborene Einfältigkeit verriet und den Ruf der Weisheit und Frömmigkeit verlor, den er in den Jahren seiner Abgeschlossenheit erlangt hatte.
Seuse hatte nichts von jener hochherzigen Heiterkeit, jenem kindlichen Mut, mit dem die ersten Franziskaner sich freudig »Gottes Narren« nannten. Der verstörte Liebhaber der Ewigen Weisheit litt empfindlich unter dem Verlust seiner Würde, unter der Unfreundlichkeit und Verachtung seiner Mitmenschen. Er gibt eine lange und trübe Aufzählung der Feinde, die er sich machte, der Verleumdungen, die er zu ertragen hatte, während er sich langsam die selbstlose ritterliche Tapferkeit erwarb, die ihm als die wesentliche Tugend des Ritters, der »zu der Ewigen Weisheit in den Ring treten will Büchlein der Ewigen Weisheit Kap. 2.« offenbart worden war.
Seuse war ein geborener Romantiker. Dieser Traum einer geistlichen Ritterschaft verfolgt ihn; wieder und wieder bedient er sich in seiner Beschreibung des mystischen Lebens der Turniersprache. Und dennoch scheinen wenig Ideale so wenig geeignet für diesen schüchternen, hochgespannten, unpraktischen Dominikanermönch, diesen ekstatischen »Minnesinger des Heiligen Geistes«, der, halb Dichter, halb Metaphysiker, von Krankheiten geplagt, von mystischer Inbrunst erhoben, vor der rauhen Berührung seiner Mitmenschen instinktiv zurückschrak.
Seuse hat keine Anlage zu herbem Erdulden; er fühlt jeden harten Stoß und ist immer geneigt, sein Leid zu klagen. Es hat nie einen menschlicheren Metaphysiker gegeben. Dank dieser Offenheit und Rückhaltlosigkeit, mit der er seine Leser ins Vertrauen zieht, kennen wir ihn viel intimer als irgendeinen der andern großen Kontemplativen. In einem Kapitel seiner Lebensgeschichte berichtet er mit äußerster Unbefangenheit, wie er bei der Überfahrt über den Bodensee einem prächtigen Knappen begegnete, dessen begeisterte Schilderungen der ruhm- und gefahrvollen Turnierkämpfe einen tiefen Eindruck auf ihn machten. Das Gespräch zwischen dem robusten Kriegsmann und dem überempfindlichen Mystiker gewährt manchen tiefen Einblick. Seuse ist begeistert und voll Staunens bei der Erzählung von harten Kämpfen, von dem Mut der Ritter und dem Ringe, um den sie kämpfen, doch am meisten staunt er über die Tapferkeit, die der Wunden nicht achtet.
»Darf er nicht weinen oder sich traurig gebärden, wenn er so übel geschlagen wird?« fragt er. Der Knappe erwidert: »Nein, und wenn ihm das Herz im Leibe entsänke, wie es manchem tut, er darf nicht tun, als ob ihm etwas fehle; er muß sich fröhlich und frisch gebaren, sonst würde er zu Spott und verlöre damit Ehre und Ringlein.« Ob dieser Rede ward der Diener in sich gekehrt und seufzte herzlich und innig und sprach: »Ach, würdiger Herr, müssen die Ritter dieser Welt solche Leiden empfangen um so kleinen Lohn, der an sich selbst nichts ist, ach Gott, wie ist dann so billig, daß man um den ewigen Preis noch viel mehr Mühen erleide! Ach, liebreicher Herr, wäre ich doch dessen würdig, dein geistlicher Ritter zu werden!«
An seinem Bestimmungsort angekommen, wurde Seuse jedoch von neuen Prüfungen heimgesucht, und uneingedenk seiner tapferen Beteuerungen begann er bald wie gewöhnlich über seine Leiden zu klagen. »Da aber am Morgen der Tag aufging, da kam eine Stille in seine Seele, und in einer Entrückung der Sinne sprach etwas in ihm also: ›Wo ist nun deine vornehme Ritterschaft? Was soll ein stroherner Ritter und ein Mann aus Tuch? Große Verwegenheit in Freude haben und dann verzagen im Leide, damit gewinnt man das
ewige Ringlein nicht, das du begehrst.‹ Er antwortete und sprach: ›Ach, Herr, die Turniere, darin man sich dir zum Leiden stellen muß, sind gar zu langwierig.‹ Darauf ward ihm hinwieder geantwortet: ›Dafür ist aber auch der Preis und die Ehre und das Ringlein meiner Ritter, die von mir geehrt werden, beständig und ewig
Leben Kap. 44. Ebenso sagt Ruysbroeck: »Der goldene Ring unseres Bundes ist größer als Himmel und Erde« (De Contemplatione). Vgl. Vaughan den Siluristen (in The World):
Ich sah die Ewigkeit in jener Nacht
Wie einen großen Ring von reinem Licht,
Endlos, in strahlendem, doch stillem Glanz;
Und eine Stimme flüsterte mir zu:
»Den Ring hier hält der Bräutigam bereit
Nur für die Braut.«.‹«
In dem Maße, wie sein mystisches Bewußtsein wächst, wächst auch dieser Trieb, der ihn zum Handeln und tapfern Ertragen drängt. Die innere Stimme und ihr visionärer Ausdruck treibt ihn unerbittlich vorwärts. Sie spottet seiner Schwäche, ermutigt ihn zu tatkräftigerem Erdulden, zu unbedingterer Selbstverleugnung, zu engerer Berührung mit der unholden Welt. Viriliter agite! Er soll eine vollkommene Persönlichkeit, ein ganzer Mensch sein. Das alte Ich, das in stiller Zelle, in heimlichen Kasteiungen seine Befriedigung fand, soll ganz abgestreift werden, und die Echtheit seiner Selbstverleugnung soll sich unter dem teilnahmslosen und oft feindlichen Blick anderer Menschen bewähren. Das Beispiel Seuses ist wohl geeignet, die bedenklich zu machen, die das mystische Leben als eine Entwicklung zu immer größerer Passivität und Verleugnung der Welt und die Dunkle Nacht als eine seiner krankhaften Erscheinungen ansehen.
Es ist interessant zu beobachten, wie ganz menschlich und scheinbar »unmystisch« die höchste und letzte Prüfung war, durch die Seuse »in der Schule rechter Gelassenheit vervollkommnet wurde«. »Es kann niemand zu göttlicher Hoheit kommen,« sagt die Ewige Weisheit in einer seiner Visionen zu ihm, »noch die unaussprechliche Süße kosten, er werde denn vorher durch das Bild meiner menschlichen Bitterkeit gezogen. Je höher man ohne den Durchgang durch meine Menschheit hinaufklimmt, desto tiefer fällt man. Meine Menschheit ist der Weg, den man geht, mein Leiden ist das Tor, durch das man gehen muß, wenn man zu dem kommen will, das du suchst Büchlein von der Ewigen Weisheit Kap. 2 (Bihlm. 205, 1-71)..« Es war der Pfad der Menschlichkeit, den Seuse ging; es waren die traurigsten und herbsten menschlichen Erfahrungen, die härtesten Prüfungen der Geduld und Liebe, die Seuse zu dem dauernden Herzensfrieden und zur Vereinigung mit dem göttlichen Willen, die seinen letzten Zustand kennzeichneten, führten. Die ganze Tendenz dieser Prüfungen auf dem »Pfade der Menschlichkeit« scheint bei näherer Betrachtung dahin zu gehen, diejenigen Bestandteile seines Charakters zu wecken, die bei den ziemlich einseitigen Übungen und Reinigungen seines Klosterlebens nicht zur Entwicklung gelangt waren. Wir sehen den »neuen Menschen« gleichsam in alle trägen und spröden Ecken seiner Persönlichkeit eindringen, indem der Diener der Weisheit gegen seinen Willen zu einem allseitigen und tiefen menschlichen Leben im Dienste der Ewigen Liebe gezwungen wurde. Die Abwesenheit Gottes, den er liebte, die Feindseligkeit des Menschen, den er fürchtete, waren die Hauptkräfte, die gegen ihn ins Spiel gebracht wurden, und wir beobachten, wie er unter ihrem stärkenden Einfluß an Mut, Demut und Liebe zu seinen Mitmenschen immer mehr zunimmt.
Es gibt in der Geschichte der Mystiker kaum ein Kapitel, das so rührend ist wie das in Seuses Leben, das die Überschrift trägt: »Von einem gar jammervollen Leiden, das dem Diener begegnete Leben Kap. 38..« Es erzählt, wie eine boshafte Frau ihn der Vaterschaft zu ihrem Kinde anklagte und es zeitweilig fertigbrachte, seinen Ruf vollständig zu ruinieren. »Und die Entrüstung war um so größer,« sagt der Diener mit seiner gewohnten Einfalt, »je weiter der Ruf seiner Heiligkeit erschollen war.« Der arme Seuse war ganz zerschmettert von dieser Verleumdung, verwundet bis ins innerste Mark seines Herzens und seiner Seele. »Herr, Herr,« rief er, »nun habe ich alle meine Tage deinen würdigen Namen geehrt und weit und breit manche Menschen dazu gebracht, daß sie ihn lieben und ehren, und du willst meinen Namen in große Unehre hinwerfen?« Als der Skandal in vollem Gange war, kam eine Frau aus der Nachbarschaft heimlich zu ihm und bot ihm an, das Kind, das die Ursache dieser Klatscherei war, umzubringen, damit die Geschichte eher vergessen und sein Ruf wiederhergestellt würde. Sie sagte auch, wenn das Kind nicht irgendwie beiseite geschafft würde, würde er sicher durch die öffentliche Meinung gezwungen werden, es anzuerkennen und für seine Aufziehung zu sorgen. Obwohl Seuse unter der Verachtung der ganzen Nachbarschaft und der offenbaren Zerstörung seiner Laufbahn qualvoll litt und außerdem wohl wußte, daß diese Verleumdung eines ihrer Führer den Ruf der Gottesfreunde schwer schädigen mußte, so hatte er doch die Kraft, die Versuchung mit einem edlen Wort des Vertrauens zurückzuweisen. »Ich traue dem reichen Gott vom Himmel, der bisher für mich allein gesorgt hat, der versorgt auch wohl uns beide!« Und dann sagte er zu seiner Versucherin: »Geh hin und bring mir das Kindlein ganz heimlich, daß ich es sehe!«
Als er das Kindlein auf seinen Schoß gesetzt hatte und es ansah, da lachte es ihn an. Da erseufzte er abermals bis auf den Grund und sprach: »Sollt' ich ein mich anlachendes hübsches Kind töten? Nein, gewiß nicht! Lieber will ich gern alles leiden, was daraus entstehen mag.« Und wandte sich zärtlich zu dem Kinde und sprach diese Worte: »Ach, du elendes armes Knäblein, wie bist du ein gar so armes Waislein: Denn dein eigener ungetreuer Vater hat dich verleugnet, deine mörderische Mutter wollte dich hinwerfen als ein unangenehmes, verworfenes Hündlein. Nun hat Gottes Fügung dich mir gegeben, daß ich soll und muß dein Vater sein, und das will ich gern tun; ich will dich haben von Gott und von niemand anders, und da mir der lieb ist, so mußt auch du mein liebes Kindlein sein. Ach, mein Herzenskind! Du sitzest auf meinem traurigen Schoße und siehst mich zutraulich an, und kannst doch nicht sprechen. Ach, und ich sehe dich an mit verwundetem Herzen; mit weinenden Augen und mit küssendem Munde begieß' ich dein kindliches Antlitz mit dem Bache meiner heißen Tränen …« »Nun mußt du mein und Gottes Kind sein, und solang' mich Gott noch mit einem einzigen Mundvoll versorgt, will ich ihn mit dir teilen dem liebreichen Gott zu Lobe, und will alles das geduldig leiden, das mir daraus entstehen mag, mein geliebtes Kind!« Wie verschieden ist dies von dem früheren Seuse, der für nichts anderes Sinn hatte als sein eigenes Seelenheil und der in mehr als Einem Zuge an den religiösen Ästheten erinnert.
Die Geschichte fährt fort: »Da das grimme Herz des Weibes, das es vorher hatte töten wollen, diese tränenreichen Liebkosungen sah und hörte, da ward sie so herzlich zu großem Erbarmen bewegt, daß sie in ein Weinen und Heulen ausbrach, so daß er sie beruhigen mußte, denn er fürchtete, daß jemand käme und man es inne würde. Da sie sich ausgeweint hatte, da bot er ihr das Kindlein wieder, segnete es und sprach also: ›Nun segne dich der liebreiche Gott, und die heiligen Engel beschirmen dich vor allem Übel!‹ und hieß es auf seine Kosten wohl versorgen nach seiner Notdurft.«
Kein Wunder, daß nach dieser heldenmütigen Tat der Barmherzigkeit Seuses Ruf sich noch verschlimmerte, daß sogar seine liebsten Freunde ihn verließen und er mit knapper Not der Ausstoßung aus dem Orden entging. Seine Not und Trübsal, seine Angst um die Zukunft steigerten sich immer mehr, bis sie endlich in einer Art seelischer Krise zum Abschluß kamen. »Eines Tages brach er aus menschlicher Schwachheit in ein unziemliches Gebaren aus und in ein unsittiges Gehaben infolge der Nöte, in denen er war, und in dem kläglichen Gehaben des innern und äußern Menschen ging er abseits von den Leuten an einen heimlichen Ort, da ihn niemand sah und hörte … Unterdessen, da er sich so kläglich gehabete, da sprach etwas von Gott in ihm: ›Wo ist nun deine Gelassenheit, wo ist der Gleichmut in Lust und Leide, den du so oft andern Menschen fröhlich empfohlen hast, wie man sich Gott passiv hingeben und auf nichts bestehen solle?‹ Darauf antwortete er heftig weinend: ›Fragst du mich, wo meine Gelassenheit sei, eia, so sag du mir, wo ist Gottes grundlose Barmherzigkeit mit seinen Freunden? … O grundloser Abgrund, komm mir zu Hilfe, denn ich bin sonst verdorben! Du weißt, daß all mein Trost und Zuversicht an dir allein liegt und an niemand anders auf dem Erdreich. Eia, höret mich heute um Gottes willen, alle leidenden Herzen! Seht, es darf keiner Ärgernis nehmen an meinem unziemlichen Gehaben, denn solange ich Gelassenheit allein im Munde hatte und mit Worten davon sprach, da war mir süß davon zu reden; o weh, nun hat es mein ganzes Herz durchwundet und das innerste Mark aller meiner Adern und meines Hirns durchdrungen …; wie kann ich da gelassen sein?‹ Als er in diesem unziemlichen Gehaben wohl einen halben Tag lang gewesen war und sein Hirn verwüstet hatte, da saß er stille und wandte sich von sich selbst zu Gott und ergab sich in seinen Willen und sprach: ›Kann es nicht anders sein: fiat voluntas tua Ebenda, a. a. O. [»dein Wille geschehe!«].!‹ Auf diesen Akt der Unterwerfung folgte sogleich eine Ekstase und Vision, in der ihm das nahe Ende seiner Leiden angekündigt wurde. Hiernach half ihm der milde Gott, daß sich das ungeheure Wetter des Leidens gar gnädiglich niederließ und zerging.«
So ist bei Seuse wie bei der hl. Katharina von Siena und andern Mystikern, die wir betrachtet haben, die Mühsal der Dunklen Nacht ganz auf den wesentlichen mystischen Akt völliger Selbstaufgabe gerichtet, auf das fiat voluntas tua, das den Tod der alten Selbstheit zum Besten eines neuen und tieferen Lebens bezeichnet. Er hat »die Schule der wahren Gelassenheit« absolviert, ist zu einer neuen Stufe der Wirklichkeit aufgestiegen. Sein Endzustand ist, abgesehen von im Temperament begründeten Verschiedenheiten, im wesentlichen derselbe, den Madame Guyon mit »heiliger Gleichgültigkeit« bezeichnet: eine gänzliche Selbstentwerdung, eine völlige Hingabe an die großen und verborgenen Zwecke des göttlichen Willens.
»Denn darin ruht des Seligseins Prinzip,
Daß wir uns ganz im Willen Gottes halten,
So daß uns all erfüllt Ein Willenstrieb
Paradies II, 79.«
sagt Piccarda, indem sie das vornehmste Gesetz des Paradieses verkündet. Seuse ist durch das Feuer hindurchgegangen zu dem Zustande, in dem auch er sagen kann: La sua voluntate e nostra pace Ebenda III, 85 [sein Wille ist unser Friede].. Die alte Bewußtseinsgruppierung um das »geistliche Selbst« hat ihren Höhepunkt erreicht und ist schließlich zusammengebrochen. In einem seelischen Sturm, der dem Aufruhr der Bekehrung gleicht, ist die »um Lohn dienende Liebe« auf immer abgeschafft, und der neue Zustand der Reinen Liebe ist plötzlich an ihre Stelle gesetzt. Menschliches Leiden ist der Preis, die unendliche Freude »freier Seelen« ist der Lohn. Wir können den Schmerz beobachten, aber die Freude ist jenseits unseres Gesichtskreises, wie wir in dem höchsten Urbild alles mystischen Vollbringens deutlich das Kreuz sehen, aber das wahre Wesen der Auferstehung kaum zu ahnen vermögen.
Daher erscheint uns Seuses Schilderung seines Eintrittes in das Leben der Einigung dürftig und abfallend gegen alles das, was vorherging. »Danach schließlich, da es Gott Zeit deuchte, da ward der Dulder von Gott für all das Leiden, so er gehabt hatte, mit innerem Herzensfrieden und mit stiller Ruhe und lichtreichen Gnaden entschädigt. Er lobte Gott inniglich für das liebreiche Leiden und sprach, er würde die ganze Welt nicht dafür nehmen, daß er es alles nicht gelitten hätte. Gott gab ihm wohl zu erkennen, daß er durch diese Erniedrigung seiner selbst zu höherem Adel entsetzt und in Gott übersetzt ward, als durch all die mannigfaltigen Leiden, die er von Jugend auf bis an diese Zeit je erduldet hatte A. a. O..«