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Sechstes Kapitel.
Mystik und Symbolik

Bei der Betrachtung der Theologie haben wir gesehen, wie der christliche Mystiker als Landkarte für seine Reisen und Abenteuer die Glaubensformel und das Bild der geistigen Welt übernimmt, das für Christen im allgemeinen gilt. Wir haben gesehen, daß er darin eine Tiefe und einen Reichtum findet, von dem der landläufige, gut kirchliche Gläubige selten etwas ahnt, und daß dies nicht nur von dem christlichen Mystiker gilt, sondern ebenso von dem Heiden, dem Mohammedaner und dem Buddhisten in bezug auf ihre Glaubensformen.

Da jedoch die religiösen Abenteuer des Mystikers nicht die der gewöhnlichen Menschen sind, so folgt daraus, daß diese Karte für ihn wohl richtig, aber nicht vollständig ist. Er kann zu Ländern vordringen, die die nicht mystische Frömmigkeit als unerforscht bezeichnen muß. Wenn er aus dem Hafen auf »die weite, stürmische See des Göttlichen« hinausschifft, kann er Tiefen ausloten und Gefahren bezeichnen, mit denen solche Frömmigkeit niemals Bekanntschaft macht.

Daher ist es nicht zu verwundern, daß gewisse Orientierungskarten entstanden sind, die auf symbolische Weise die besonderen Erfahrungen des mystischen Bewußtseins und die Lehren, zu denen sie Veranlassung gegeben haben, beschreiben oder andeuten. Viele dieser Karten kommen denen, die mit den Tatsachen, die sie mitzuteilen versuchen, unbekannt sind, absonderlich oder gar unfromm vor, wie die Karten des Tiefseefahrers dem Küstenfahrer unverständliche Dinge sind. Andere – und dies sind die gefälligsten und verständlichsten – sind uns schon vielleicht bis zum Überdruß durch die Dichter vertraut geworden, die ihre suggestive Kraft, ihren Zusammenhang mit der Wahrheit intuitiv erkannten und sie für ihre eigene Aufgabe, die Wirklichkeit in Rede und Rhythmus zu übersetzen, entliehen und zurechtmachten. Ihren Ursprung aber verdanken sie den Mystikern oder dem mystischen Sinn, der allen wahren Dichtern eingeboren ist, und letzten Endes ist es das Reich des Mystikers und das Erleben des Mystikers, das sie zu schildern versuchen.

Nun sind diese besonderen mystischen Diagramme, diese symbolischen und künstlerischen Schilderungen der inneren Geschichte des Menschen, seiner geheimen Erlebnisse mit Gott von einer fast endlosen Mannigfaltigkeit, denn jedes gibt ein anderes Bild von dem Lande der Seele, gesehen durch ein anderes Temperament. Wollte man alle beschreiben, so müßte man das ganze Gebiet mystischer Literatur, und noch anderer Literatur dazu, analysieren, ja, man müßte von allem, was über das sogenannte »innere Leben« gedichtet oder geschrieben ist, einen kurzen Abriß geben, – eine mühselige und langwierige Aufgabe. Allein die meisten von ihnen bringen eine verhältnismäßig kleine Anzahl von wesentlichen Lehren oder Grundanschauungsarten zum Ausdruck, und was ihre Bildersprache anbetrifft, so lassen sich da drei große Klassen unterscheiden, die den drei Hauptarten entsprechen, in welchen das menschliche Bewußtsein auf die Berührung der Wirklichkeit reagiert. Daher kann eine Betrachtung einzelner mystischer Symbole aus jeder dieser drei Gruppen uns den Schlüssel geben, womit wir wenigstens einige der Worträtsel des einzelnen Abenteurers aufschließen können.

Infolge der räumlichen Anschauung, die mit dem menschlichen Denken und dem menschlichen Ausdruck untrennbar verbunden ist, ist eine unmittelbare Schilderung religiösen Erlebens für den Menschen nicht möglich. Sie muß immer symbolisch, indirekt, andeutend sein, immer die Wahrheit ahnen lassen, doch sie nie aussprechen, und in dieser Hinsicht ist nicht viel Unterschied zwischen der flüssigen, künstlerischen Sprache der Vision und der trockenen technischen Schulsprache der Philosophie. In anderer Hinsicht jedoch besteht zwischen beiden ein großer Unterschied, und hier gebührt dem Visionär, nicht dem Philosophen die Palme. Je größer die suggestive Kraft des Symbols ist, je stärker das Gefühl derer, an die es sich wendet, ihm Antwort gibt, desto mehr Wahrheit wird es vermitteln. Eine gute Symbolik ist daher mehr als bloßer Schematismus oder bloße Allegorie, sie bedient sich in reichstem Maße der Schönheit und Leidenschaft, läßt Geheimnis und Wunder ahnen, bezaubert den Sinn mit traumhaften Bildern. Sie wendet sich nicht an das kluge Hirn, sondern an das sehnende Herz, an das intuitive Gefühl des Menschen.

Die drei großen Klassen von Symbolen, welche ich hier betrachten will, gründen sich auf die drei tiefen Sehnsüchte des Selbst, auf die drei großen Auswirkungen der Unruhe des Menschen, die nur die mystische Wahrheit ganz stillen kann. Die erste dieser Sehnsüchte macht ihn zu einem Pilger und Wanderer. Sie ist das Verlangen, aus seiner normalen Welt hinauszugehen auf die Suche nach einer verlorenen Heimat, einem »besseren Lande«, einem Eldorado, einem Sarras, einem himmlischen Zion. Die zweite ist das Verlangen des Herzens nach dem Herzen, der Seele nach ihrem vollkommenen Genossen, das ihn zu einem Liebenden macht. Die dritte ist das Verlangen nach innerer Reinheit und Vollkommenheit, das ihn zum Asketen und letzten Endes zu einem Heiligen macht.

Diese drei Sehnsüchte entsprechen, glaube ich, drei Arten, wie Mystiker verschiedener Temperamente das Problem des Absoluten angreifen: drei verschiedenen Formeln, unter denen sich ihr Hinausgehen über die Sinnenwelt beschreiben läßt. Indem sie dies Hinausgehen und die besonderen Erlebnisse, die damit verbunden sind, beschreiben, schildern sie einen Übergang aus dem Zustande des gewöhnlichen Menschen, der mit der Sinnenwelt in Berührung ist und sich nach ihrem Rhythmus bewegt, in den Zustand des geistigen Bewußtseins, in welchem sie, wie sie sagen, »in Vereinigung« mit der göttlichen Wirklichkeit, mit Gott sind. Was auch das theologische Credo des Mystikers ist, immer erklärt er, daß diese Vereinigung das Ziel seines Strebens ist. »Zeichne mich mit deinen eigenen Streifen, wie du die Tulpe zeichnest«, sagt der Sufi Dschami, Joseph und Suleika. Das Gebet des Dichters.. »Ich wäre gern dem ewigen Gut, was dem Menschen seine eigene Hand ist«, sagt der deutsche Kontemplative Theologia Deutsch X.. »Mein Ich ist Gott, und ich kenne kein anderes Ich als diesen meinen Gott«, sagt die italienische Heilige S. Katharina v. Genua, Vita Kap. XIV, 3..

Aber da dieser absolute Gott für ihn die Substanz, der Grund oder die zugrunde liegende Wirklichkeit ist von allem, was da ist, gegenwärtig und doch abwesend, nahe und doch ferne, so ist Er der menschlichen Seele ebenso wahrhaft immanent wie dem Weltall. Der Wirklichkeitssucher kann daher sein Streben auf zwei scheinbar sich widersprechende, aber in Wahrheit sich gegenseitig erklärende Weisen objektivieren. Erstens kann er es als eine Reise hinaus aus der Welt der Täuschung in die wirkliche oder übersinnliche Welt ansehen, ein Verlassen des Sichtbaren um des Unsichtbaren willen. Zweitens kann es ihm als eine innere Umwandlung erscheinen, als eine Erneuerung oder Wiedergeburt, wodurch seine Persönlichkeit oder sein Charakter so verwandelt wird, daß er imstande ist, mit jenem ursprünglichen Sein, das er liebt und ersehnt, in Verbindung zu treten, daß er mit dem innewohnenden Gott, der der Quell seines geistigen Lebens ist, vereinigt und von Ihm beherrscht wird. Im ersten Falle ist die objektive Idee »Gott« der Angelpunkt seiner Symbolik, der flammende Stern des Weltalls, den er in weiter Ferne gesehen und, sobald er ihn erblickte, angebetet und ersehnt hat. Im zweiten Falle tritt an Stelle dieser Idee die subjektive Idee der »Heiligkeit«, womit sich das Bewußtsein einer Disharmonie verbindet, die beseitigt werden muß. Dann wird der mystische Weg nicht als eine Wanderung geschildert, sondern als eine Änderung der Persönlichkeit, als die Verwandlung des »irdischen« in den »himmlischen« Menschen. Diese beiden Aspekte sind offenbar die Vorder- und Kehrseite desselben Ganzen. Sie stellen die gewaltigen Gegensätze von Unendlich und Endlich, Gott und Selbst dar, die zu einer höheren Synthese zu vereinigen die Aufgabe der Mystik ist.

Ob nun der Vorgang als ein äußeres Suchen oder eine innere Wandlung angesehen wird, Zweck und Ziel ist immer das gleiche. Der Mensch tritt ein in das Reich der Wirklichkeit, sein Verlangen kommt dem göttlichen Verlangen entgegen, sein Sonderwille oder -leben wird eins mit dem großen Leben des Alls.

Aus dem, was im letzten Kapitel gesagt wurde, ist klar ersichtlich, daß die beiden entgegengesetzten Typen der Symbolik, von denen wir gesprochen haben, – das äußere Suchen und die innere Wandlung, – von den beiden Gruppen von Mystikern angewandt werden, deren Erleben des Einswerdens mit dem Göttlichen 1. dem transzendenten oder äußeren, 2. dem immanenten oder inneren Wege, die Wirklichkeit zu begreifen, zuneigt, und daß eine dritte oder Zwischengruppe von Bildern nötig ist, um das Erleben derer auszudrücken, für die das mystische Gefühl, die Erfüllung der Liebe, der höchste Faktor des mystischen Lebens ist. Je nachdem nun einen Menschen sein Instinkt dazu treibt, die absolute Wirklichkeit, die er erkennt, als einen Ort, eine Person oder einen Zustand zu beschreiben, – von denen alle drei natürlich nur unvollkommene Symbole der einen unbeschreiblichen Wahrheit sind – wird er zu einem oder dem andern dieser drei Typen der Symbolik neigen.

I. Diejenigen, welche sich das Vollkommene als eine beseligende Vision außerhalb ihrer und in weiter Ferne vorstellen, die in der Emanationslehre etwas finden, was ihrem inneren Erleben entspricht, werden den Vorgang, durch den sie zur Wirklichkeit gelangen, als eine Suche, eine mühselige Reise von der Welt der Materie zu der des Geistes empfinden. Sie entfernen sich vom Sinnenleben, statt es in eine andere Form umzuwandeln. Die Ekstasen solcher Mystiker werden der Grundbedeutung des viel mißbrauchten Wortes entsprechen: aus sich hinaustreten, eine Flucht in ferne, glücklichere Länder. Für sie ist die Seele auf dem Wege nach ihrer Heimat.

II. Diejenigen, für welche die Mystik vor allem eine intime und persönliche Beziehung, die Befriedigung eines tiefen Verlangens ist – die mit Gertrude More sagen können: »niemals gab es eine solche Liebe, noch läßt sich eine solche Liebe denken, wie die zwischen einer demütigen Seele und dir« – werden zu den Bildern greifen, die zum großen Teil der Sprache irdischer Leidenschaft entnommen sind. Da die christliche Religion an dem persönlichen Aspekt der Gottheit festhält und in Christus einen Gegenstand solcher Intimität, Sehnsucht und Hingebung bietet, gebraucht eine ungeheure Zahl christlicher Mystiker ganz naturgemäß Symbole dieser Art.

III. Diejenigen, welche das Göttliche vielmehr als ein höheres Leben, das der Welt und der Seele immanent ist, begreifen und als einen wunderbaren geistigen Samen, der im Menschen ist und durch dessen Entwicklung er, indem er zu immer höheren Stufen des Charakters und des Bewußtseins aufsteigt, sein Ziel erreicht, werden das mystische Leben eher als innere Umwandlung denn als ein äußeres Suchen ansehen. Wiedergeburt ist ihre Losung, und sie werden ihre Symbole vom Wachstum oder von der Umwandlung entnehmen, indem sie mit der hl. Katharina von Genua sagen: »Mein Wesen ist Gott, nicht durch ein bloßes Teilhaben an seinem Wesen, sondern durch eine wahre Verwandlung des Wesens Vita Kap. XIV, 3.

Diese drei Gruppen von Mystikern entsprechen also drei Arten von Temperamenten, und wir können passend als die für sie charakteristischen Formen symbolischen Ausdrucks die mystische Suche, die Hochzeit der Seele und das »große Werk« der geistlichen Alchimisten betrachten.

I.

Die Idee der Pilgerschaft, des Auf-die-Suche-Gehens, erscheint in der mystischen Literatur unter zwei recht verschiedenen Formen. Die eine ist das Suchen nach dem »verborgenen Schatz, der gefunden werden will«. Eine solche ist die Gralssuche, wenn man sie im mystischen Sinne, als eine Allegorie von dem Abenteuer der Seele ansieht. Die andere ist eine lange, mühselige Wanderung nach einem bekannten und bestimmten Ziel oder Zustande. Eine solche ist Dantes »Göttliche Komödie«, die in einer Hinsicht eine getreue und bis ins einzelne ausgeführte Beschreibung des mystischen Weges ist. Das Ziel einer solchen Wanderung – das Empyräum Dantes, die Visio beatifica oder Erfüllung der Liebe – wird von den christlichen Mystikern oft Jerusalem genannt; ganz natürlich, da diese Stadt für den mittelalterlichen Geist das letzte Ziel der Pilgerschaft war. Unter Jerusalem verstehen sie nicht nur das jenseitige andere Land, den Himmel, sondern auch das geistliche Leben, das »selbst ein Himmel« ist Dies Bild scheint zuerst von dem hl. Augustin ausgeführt zu sein, von dem es Hugo von St. Victor und die meisten der mittelalterlichen Mystiker entliehen haben.. »Wie der wahre Pilger, der nach Jerusalem wallfahrtet,« sagt Hilton, »Haus und Land, Weib und Kind hinter sich läßt und sich aller Dinge, die er hat, entblößt, auf daß er leicht und unbehindert dahinwandern kann, ebenso mußt du, wenn du ein geistlicher Pilger sein willst, dich alles dessen, was du hast, entblößen … Darauf sollst du in deinem Herzen voll und ganz beschließen, daß du in Jerusalem sein willst und an keinem andern Ort als dort allein.« »Jerusalem«, sagt er im selben Kapitel, »bedeutet soviel wie einen Anblick des Friedens und meint Kontemplation in vollkommener Liebe zu Gott The Scale of Perfection Buch II, Teil II, Kap. III.

Unter diesem Bilde einer Pilgerschaft – einem Bilde, das für die mittelalterlichen Schriftsteller, die es anwandten, so konkret und anschaulich, so wenig romantisch und pittoresk war wie das Bild eines Hotels oder einer Eisenbahn für uns sein würde – faßten die Mystiker die Lebensgeschichte der aufsteigenden Seele, die Entwicklung des religiösen Bewußtseins andeutungsweise zusammen. Die notwendige Freiheit und Losgelöstheit des Wanderers, das Hinaustreten aus seinem normalen Leben mit all seinen Interessen, die Schwierigkeiten, Feinde und Mühseligkeiten, denen er auf dem Wege begegnet, die Länge der Reise, die mannigfaltige Beschaffenheit des Landes, die dunkle Nacht, die ihn überfällt, die flüchtigen Schimmer des fernen Zieles – alles dies erkennen wir immer deutlicher, je mehr wir in das Verständnis der Mystik eindringen, als eine durchsichtige Allegorie der fortschreitenden Entwicklung des Menschen vom Unwirklichen zum Wirklichen. Bunyan war nur der letzte und am wenigsten mystische von einer langen Reihe von Geistern, die die Tatsache begriffen hatten.

Der Wanderer, sagt der Sufi Aziz bin Mohammed Nafasi, in dessen Buch »Das fernste Ziel« die Symbolik der Pilgerschaft ganz bis ins einzelne durchgeführt ist, ist der wahrnehmende oder intuitive Sinn des Menschen. Das Ziel, nach dem er wandert, ist die Erkenntnis Gottes. Diesen geheimnisvollen Wanderer nach dem einzigen Lande der Seele können die andern Menschen an seiner Selbstlosigkeit, Barmherzigkeit, Demut und Geduld erkennen. Diese Grundtugenden jedoch – die vielmehr dem sittlichen als dem religiösen Leben angehören – genügen noch nicht, um sein Streben zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Sie machen ihn, sagen die Sufis, »vollkommen in der Erkenntnis seines Zieles, doch unzulänglich in der Kraft, es zu erreichen.« Wenn er auch brüderliche Liebe für seine Mitpilger, Standhaftigkeit gegenüber den Verlockungen am Wege und unermüdliche Ausdauer auf der Wanderschaft hat, so wird er doch noch durch überflüssiges Gepäck belastet und geschwächt. Das zweite Stadium seiner Reise beginnt daher wie bei Bunyans Pilger mit einem Abwerfen seiner Last, einer vollständigen Selbstverleugnung, mit der Erlangung einer franziskanischen Armut des Geistes, wodurch er »vollkommen frei« wird.

Nachdem er von allen Behinderungen seiner geistlichen Suche frei geworden ist, muß er statt ihrer die charakteristischen mystischen Eigenschaften oder die drei Hilfen des Pilgers erwerben oder entwickeln; sie heißen in diesem System: Anziehung, Hingabe und Erhöhung. Anziehung ist das Bewußtwerden des gegenseitigen Verlangens, das zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Geiste besteht; des Bandes der Liebe, das die Wirklichkeit zusammenhält und alle Dinge nach ihrer Heimat in Gott zieht. Dies ist das Universalgesetz, worauf alle Mystik gegründet ist. Es ist das, was der hl. Augustinus ausspricht: »Du hast uns zu dir geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir [Conf. I, 1.].« Dieser »natürliche Magnetismus« also zieht den Pilger, sobald dieser ihn spürt, unwiderstehlich den Weg entlang, der von den Vielen zu dem Einen führt. Sein zweites Hilfsmittel, die Hingabe, ist, wie es in dem »fernsten Ziel« so tief und schön gesagt wird, »die Verfolgung der Reise zu Gott und in Gott So sagt Ruysbroeck auch: »Also ist der Mensch gerecht und ist auf dem Wege zu Gott mit inniger Liebe in ewigem Wirken; und er geht ein in Gott mittels der genießenden Neigung, in ewiger Ruhe« (Geistliche Hochzeit II, 73)..« Sie umfaßt in der Tat das ganze kontemplative Leben. Sie bildet die nächste Stufe des geistlichen Bewußtseins, nachdem der Mensch sich blind der Anziehung des Wirklichen hingegeben und das wahre Verhältnis zu seinem Ursprung gefunden hat.

Die Reise des Pilgers zu Gott ist vollendet, wenn er zur Erkenntnis von Ihm gelangt, – zur »Erleuchtung«, wie die europäischen Mystiker es nennen. Der Punkt, an welchem dies erreicht wird, heißt das Wirtshaus oder die Herberge auf dem Wege, wo er mit den göttlichen Geheimnissen genährt wird. Es gibt auch Weinschenken am Wege, wo der müde Pilger mit einem Schluck vom Wein der göttlichen Liebe erfrischt und gestärkt wird Ich brauche den Leser nicht daran zu erinnern, daß dieser Symbolismus, entstellt und mißbraucht zum Ausdruck seiner skeptischen Philosophie, das Ganze der Rubaijat (Vierzeiler) des Omar Chajjam durchzieht.. »Erst wenn die Reise zu Gott vollbracht ist, beginnt die Reise in Gott« – das, was die christlichen Mystiker die Via Unitiva nennen, und da diese das Wesen des ewigen Lebens ist, so kann sie kein Ende haben. Erhöhung, die dritte Hilfe des Pilgers, ist der verzückte oder ekstatische Zustand des Bewußtseins, der dem Kontemplativen eigentümlich ist und dem Wanderer gestattet, die himmlische Stadt, der er zuschreitet, zu schauen Palmer, Oriental Mysticism I, Kap. 1, 2, 3, 5..

Der sufische Dichter Attar hat in seiner mystischen Dichtung »Das Gespräch der Vögel« die Stadien dieser geistlichen Pilgerfahrt mit noch größerer psychologischer Feinheit als die Wanderung durch »sieben Täler« geschildert. Der Kiebitz wird von andern Vögeln gefragt, wie lang der Weg sei, der zum verborgenen Palast des Königs führt. Er erwidert, daß jeder Pilger sieben Täler durchwandern muß; da aber keiner, der ans Ziel gelangt, jemals zurückkommt, um seine Abenteuer zu schildern, so weiß niemand die Länge des Weges.

1. Das erste Tal, sagt der Kiebitz, ist das Tal des Suchens. Es ist lang und mühselig zu durchwandern, und der Pilger muß sich darin aller irdischen Dinge entblößen und arm, nackt und verlassen werden, und so muß er bleiben, bis das himmlische Licht einen Strahl auf seine Verlassenheit wirft. Dies Tal ist Dantes Purgatorio, der christliche Weg der Reinigung, die Stufe der Selbstentäußerung und Läuterung, die in keinem mystischen System fehlt.

2. Wenn der Strahl des himmlischen Lichtes den Pilger berührt hat, betritt er das grenzenlose Tal der Liebe und beginnt sozusagen das mystische Leben. Dies Tal ist Dantes »Irdisches Paradies« oder im herkömmlichen System der Mystiker »der Beginn der Erleuchtung«.

3. Von dort gelangt er in das Tal der Erkenntnis oder Erleuchtung, in den Zustand der Kontemplation, wo jeglicher in Gemeinschaft mit der Wahrheit den Platz findet, der ihm zukommt. Kein Dantekenner wird hier die auffallende Parallele mit dem Planetenhimmel übersehen, wo jede Seele im höchsten Maße am Göttlichen teilhat – »im höchsten Maße nicht absolut genommen«, wie Bonaventura sagt, »sondern soweit es im Hinblick auf seine Natur möglich ist«. Das Mysterium des Seins wird jetzt dem Wanderer enthüllt. Er sieht das Geheimnis der Natur und sieht Gott in allen Dingen. Es ist der Gipfel der Erleuchtung.

4. Die nächste Stufe ist das Tal der Loslösung, der äußersten Versunkenheit in die göttliche Liebe – der Sternenhimmel der Heiligen –, wo die Pflicht alles ist. Dies führt zum

5. Tal der Einheit, wo die nackte Gottheit der Eine Gegenstand der Kontemplation ist. Dies ist das Stadium der Verzücktheit oder die Visio beatifica, der Zustand Dantes im letzten Gesange des Paradiso. Er ist jedoch vorübergehend und führt zu

6. dem Tal der Bestürzung, wo die Vision, die die rezeptive Kraft des Pilgers weit überschreitet, von ihm genommen zu werden scheint und er in Dunkel und Verwirrung gestürzt wird. Dies ist das Stadium, das Dionysios der Areopagit und nach ihm viele mittelalterliche Mystiker »das göttliche Dunkel« nannten und als die wahrste und nächste aller Wahrnehmungen der Gottheit schilderten. Es ist die Wolke des Nichtwissens, »dunkel aus Überfülle des Lichts«. Das letzte Stadium ist

7. das Tal der Vernichtung des Selbst, der höchste Grad des Einswerdens oder der theopathische Zustand, wo das Selbst ganz »in den Ozean göttlicher Liebe« eingetaucht ist, »wie der Fisch ins Meer Attars Allegorie von den Tälern findet sich im Auszuge in Mr. W. S Lillys ausgezeichnetem Bericht über die Sufidichter in Many Mansions p. 130 und in ausführlicherer Gestalt in The Porch Series Nr. 8 [Martin Buber, Ekstatische Konfessionen S. 20-28].«.

Allen diesen Bildern von der Pilgerschaft nach einem Ziele – von einem Wege, der zu verfolgen, einer Entfernung, die zu durchmessen, Mühsal, die zu erdulden ist – liegt die bestimmte Idee zugrunde, daß das pilgernde Selbst, indem es diese Reise unternimmt, eine Bestimmung, ein Gesetz des übersinnlichen Lebens erfüllt, einer gebieterischen Notwendigkeit gehorcht. Die erwählten Ritter werden zur Gralssuche bestimmt oder »berufen«. »Alle Menschen werden zu ihrem Ursprung gerufen«, sagt Rulman Merswin, und die Fische, die er in seiner Vision der neun Felsen sieht, werden sozusagen »gegen ihre Natur« getrieben, von Teich zu Teich aufwärts zu streben ihrer Quelle zu Jundt, Rulman Merswin S. 27..

Alle mystischen Denker stimmen darin überein, daß eine gegenseitige Anziehung besteht zwischen dem Seelenfunken, dem freien göttlichen Keim im Menschen, und seinem Ursprung. »Wir sehnen uns nach dem Absoluten«, sagt Royce, »nur insoweit, als auch das Absolute in uns sich sehnt und eben durch unser zeitliches Streben den Frieden sucht, den es in der Zeit nirgends gibt, sondern einzig in der Ewigkeit, und da unbedingt Royce, The World and the Individual II, p. 386..« So faßte schon viele Jahrhunderte vor der Geburt der amerikanischen Philosophie Hilton diese selbe Erfahrung in lieblichere Worte: »Er ist es, der sich in dir sehnt, und Er ist es, nach dem deine Sehnsucht geht. Er ist alles, und Er tut alles, wenn du Ihn sehen könntest The Scale of Perfection Buch II, Teil I, Kap. V.

Die Heimreise des menschlichen Geistes wird also bewirkt durch den Drang eines göttlichen Lebens in uns, der einem Zuge des göttlichen Lebens außer uns antwortet Vgl. Récéjac, Fondements de la Connaissance Mystique p. 252: »Nach der Mystik führt Sittlichkeit die Seele bis an die Grenze des Absoluten und gibt ihr sogar den Antrieb einzutreten, aber sie genügt nicht, und dieser Schritt der reinen Freiheit kann nicht erfolgreich sein, wenn ihm nicht ein entsprechender Schritt vom Absoluten her entgegenkommt.«. Es ist das Streben des Gleichen zum Gleichen, die Erfüllung einer kosmischen Notwendigkeit, und die Mystiker sind in diesem Unternehmen die Pioniere der Menschheit auf dem einzigen Wege zur Ruhe. Daher ist jene Anziehung, die der mohammedanische Mystiker als die notwendige Hilfe des Reisenden erkannte, eine Grundlehre aller Mystik, und infolge davon ist das Symbol der gegenseitigen Sehnsucht hier unauflöslich mit dem der Pilgerschaft verbunden. Der geistliche Pilger zieht aus, weil er berufen ist, weil er ausziehen will, ausziehen muß, wenn er Ruhe und Frieden finden soll. »Gott braucht den Menschen«, sagt Eckehart. Es ist die Liebe, die die Liebe ruft, und die Reise, wenn sie auch in einer Hinsicht eine mühselige Pilgerfahrt ist, aufwärts und hinaus über den vielstufigen Berg und die zehn Himmel zu Gott, ist in anderer Hinsicht der unhemmbare Sturz des schweifenden Kometen, der endlich sein Ziel findet, in die Zentralsonne. »Mein Gewicht ist meine Liebe«, sagt der heilige Augustinus Conf. XIII, 9. »Diese Anziehung«, sagt Ruysbroeck, »fühlt ein jeglicher, der liebt, mehr oder weniger, nach dem Grade seiner Liebe.« (Vom weißen Steine K. 3, Werken VI, 199, 20-22.) Von Maeterlinck zitiert in der Einleitung zu L'Ornament des Noces Spirituelles p. LVI.. Wie die Gravitation so zwingt sie wohl oder übel jeden Geist an seinen Platz. Nach einer andern Symbolik stößt diese Liebe eine Tür auf, damit das größere Leben hineinstürzen und mit der Seele eins werden kann.

Hier durchlaufen wir also die ganze Tonleiter symbolischen Ausdrucks, von Transzendenz durch Sehnsucht zur Immanenz. Alle führen auf ein letztes Ziel, das auf verschiedene Art andeutungsweise ausgedrückt wird: auf die gebieterische Notwendigkeit der Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem Wirklichen, auf seine Erneuerung zum Zweck übersinnlichen Lebens, seine Einsetzung in das Reich, das zugleich »nahe und fern« ist.

»Im Buche der Geheimnisse steht geschrieben,« sagt Eckehart, »wie unser Herr dem Volke entbot: ›Ich stehe vor der Tür, klopfe und warte …‹ [Offenb. Joh. 3, 20]. Du brauchst ihn nicht zu suchen hier oder dort, er ist nicht ferner als vor der Tür des Herzens; da steht er und harrt und wartet, wen er bereit finde, der ihm auftue und ihn einlasse. Du brauchst ihn nicht weither zu rufen, er wartet ungeduldiger als du, daß du ihm auf tuest; ihn verlangt tausendmal dringender nach dir als dich nach ihm. Dein Auftun und sein Eingehen ist nur Ein Augenblick Pred. III (Pfeiffer S. 27, 38-28, 6; Büttner I, S. 71 f; Lehmann 167)..« »Gott«, sagt er an einer andern Stelle, »kann uns so wenig entbehren wie wir Ihn Pred. XI (Pfeiffer S. 60, 14 f.)..« Daß wir das Absolute erreichen, ist nicht ein einseitiges Streben, sondern eine beiderseitige Notwendigkeit. »Denn unser natürlicher Wille«, sagt Lady Juliane, »ist, Gott zu haben, und der gute Wille Gottes ist, uns zu haben, und wir können nicht aufhören, uns zu sehnen, bis wir Ihn in der Fülle der Freude besitzen Revelations of Divine Love Kap. VI.

So wird in dem wundervollen Gedicht oder Ritual »Der Hymnus Jesu«, der in den apokryphen »Johannes-Akten« enthalten ist und aus der urchristlichen Zeit stammt, der Logos oder ewige Christus dargestellt als mit seinem eigenen transzendenten, hingebenden Verlangen jedem Bedürfnis der Seele entgegenkommend, die mit Ihm im Kreise der mystischen Weihe steht Man findet den griechischen und englischen Text in den Apocrypha Anecdota Second Series, ed. by M. R. James (Cambridge, 1897), p. 1-25. Ich folge seiner Übersetzung. [Deutsch: Neutestamentl. Apokryphen von Edgar Hennecke S. 453; dazu Handbuch S. 526-30.] Wie man sieht, habe ich die Hypothese von Mr. G. R. S. Mead über den dramatischen Charakter dieses Gedichts angenommen, s. seine Echoes from the Gnosis 1896. [G. R. S. Mead, Fragment eines verschollenen Glaubens. Übers. von A. v. Ulrich. Berlin 1902. S. 352 f.].

Die Seele sagt:

»Ich möchte gerettet werden.«

Christus erwidert:

»Und ich möchte retten. Amen.«

Der Dialog fährt fort:

»Ich möchte erlöst werden.«
»Und ich möchte erlösen. Amen.«
»Ich möchte getroffen werden.«
»Und ich möchte treffen. Amen.«
»Ich möchte geboren werden.«
»Und ich möchte gebären. Amen.«
»Ich möchte essen.«
»Und ich möchte gegessen werden. Amen.«
»Ich möchte hören.«
»Und ich möchte gehört werden. Amen.«

*

»Ich bin eine Lampe dir, der du mich schaust,
Ich bin ein Spiegel dir, der du mich wahrnimmst,
Ich bin eine Tür dir, der du an mich pochst,
Ich bin ein Weg dir, dem Wanderer.«

Dieselbe Grundidee des gegenseitigen Suchens zwischen der Seele und dem Absoluten drückt der große mohammedanische Mystiker in einem andern Gleichnisse aus:

»Kein Liebender sucht je mit der Geliebten sich zu einen,
Ohne daß sie mit ihm sich zu vereinen sucht.
Doch während ihm der Leib von Liebe wird verzehrt,
Macht Liebe die Geliebte an Kraft und Schönheit wachsen.
Sobald in diesem Herzen die Liebe blitzgleich aufflammt,
Sei sicher, daß in jenem sie ihre Antwort findet.
So wird auch, wenn die Liebe zu Gott in deinem Herzen
Emporwächst, ohne Zweifel Gott Liebe für dich fühlen Dschelal ed Din, s. Jalalu 'd Din (Wisdom of the East Series) p. 77.

Die mystische Vision ist also die eines geistigen Universums, das in den Banden der Liebe festgehalten wird Vgl. Dante:
In seiner Tiefe schloß, vereint durch Lieben,
Wie in ein einzig Buch sich alles ein,
Was durch das Weltall steht zerstreut geschrieben (Par. XXXIII, 85).
, und der freien und rastlosen Menschenseele, die den Funken der göttlichen Sehnsucht, den »Zug zum Absoluten« in sich hat und Befriedigung und wahres Leben nur findet, wenn sie mit diesem Leben Gottes vereinigt wird. Dann ist nach Patmores lieblichem Bilde »das Kindlein an seiner Mutter Brust«, »der Liebende ist zur Geliebten zurückgekehrt The Rod, the Root, and the Flower: Aurea Dicta 228.«.

Wie mannigfach auch ihr äußerer Sinn ist, so drücken doch alle mystischen Gleichnisse irgendwie dies »Geheimnis der Welt«, diese Urwahrheit aus. Aber während in solchen großen Visionen wie der Attars oder Dantes ihre kosmische Gestalt überwiegt, drängt in vielen andern Bildern, besonders denen, denen wir in den Schriften der ekstatischen Heiligen begegnen, die persönliche subjektive Note, das Bewußtsein einer individuellen Beziehung zwischen diesem Einzelselbst und dem höchsten Selbst, alle solchen allgemeinen Anwendungen zurück. Da müssen Philosophie und Allegorie beiseite treten, die sakramentale Sprache gesteigerten Gefühls, tiefempfundenen Erlebens, tritt an ihre Stelle. Die verschiedenen Phasen der Liebe, des Werbens und des Kämpfens, des Bangens und der Lust – das Fieber des Verlangens, die Ekstase der Hingabe – werden herangezogen. »All das liebliche Getändel heimlichen Beisammenseins«, um mit Hilton zu reden The Scale of Perfection III, 15., ist ein Teil der Schilderung des großen und geheimen Dramas der Seele.

Zu solchen symbolischen Umschreibungen innerer Erfahrung gehört eine wunderbare Episode der geistlichen Lebensgeschichte, die, da ihr von dem größten mystischen Dichter der modernen Zeit unsterblicher Ausdruck verliehen wurde, Tausenden vertraut ist, die von den normalen Abenteuern auf dem Wege zum Absoluten nichts oder wenig wissen. In »The Hound of Heaven« schildert Francis Thompson mit einer fast erschreckenden Gewalt, nicht die Suche des Selbst nach der angebeteten Wirklichkeit, sondern die Suche der Wirklichkeit nach dem widerstrebenden Selbst. Er zeigt uns, wie das göttliche Leben die Seele, die sich ihm nicht ergeben will, unentwegt und unermüdlich verfolgt, das unerbittliche Daherfahren »dieses furchtbaren Liebenden« auf der Jagd nach der Entfernten, dem »seltsamen, jämmerlichen, nichtigen Dinge«, das Ihn flieht, blindlings vorwärtsstürzend, über Tage und Nächte. Diese Vorstellung von der Liebesjagd, wo die Seele voll Schrecken der überwältigenden Gegenwart Gottes entflieht, aber verfolgt, gesucht und am Ende überwunden wird, ist allen mittelalterlichen Mystikern gemein; es ist die andere Seite ihrer allgemeinen Lehre von der notwendigen Verschmelzung des menschlichen und göttlichen Lebens, »der Rettung von der Flamme der Trennung«.

»Dich zu jagen, war meine Lust«, sagt die Stimme der Liebe zu Mechthild von Magdeburg, »dich zu fangen, war mein Begehr, dich zu fesseln, war meine Freude. Als ich dich verwundete, wardst du mit mir vereint. Wenn ich dir Keulenschläge gebe, so werde ich dein gewaltig Das fließende Licht der Gottheit I, 3.

Ebenso heißt es in dem wundervollen mittelenglischen Gedicht »Quia amore langueo«:

» I am true love that fals was nevere,
Mi sistyr, mannis soule, I loved hir thus;
Bicause we wolde in no wise discevere
I lefte my Kyngdom glorious.
I purveyde for hir a paleis precious;
She fleyth, I folowe, I soughte hir so.
I suffride this peyne piteous
Quia amore langueo
»Quia amore langueo«, ein anonymes Gedicht aus dem 15. Jahrhundert. (Political, Religious, and Love Poems ed. by Fr. I. Furnivall. London 1866. Early English Text Society 15. p. 180.) Die Übersetzung lautet:
Ich bin die wahre Liebe, die nie falsch war,
Meine Schwester, die Menschenseele, ich liebte sie so.
Weil wir uns durchaus nicht trennen wollten,
Verließ ich mein Reich der Herrlichkeit.
Ich bereitete ihr einen kostbaren Palast;
Sie entflieht, ich folge, ich suchte sie so.
Ich erlitt diese mitleidswürdige Pein,
Weil ich vor Liebe verschmachte.

Meister Eckehart drückt diese selbe Vorstellung von der unerbittlich verfolgenden Liebe, vor der es kein Entrinnen gibt, in weniger persönlichen Bildern aus. »Die Erde kann dem Himmel nicht entfliehen: sie fliehe aufwärts oder niederwärts, so fließt der Himmel in sie und macht sie fruchtbar, es sei ihr lieb oder leid. So macht es Gott mit dem Menschen: wer ihm zu entfliehen wähnt, der läuft ihm in den Schoß, denn ihm stehen alle Winkel offen Pred. LXXXVIII (Pfeiffer S. 287, 34-38; Lehmann 231).

Alle Mystiker haben sehr stark dies Gefühl von einem geheimnisvollen Geistesleben, einer Wirklichkeit außerhalb, die den Menschen sucht und ihn zu ihrem Willen zwingt. Es liegt nicht an ihm, sagen sie, ob er nach der übersinnlichen Welt streben will oder nicht So wird von dem hl. Franz von Assisi berichtet, daß er in seiner Jugend »Gottes Hand zu entfliehen suchte«. Thomas von Celano, Legenda Prima Cap. II.. Daher bisweilen diese Umkehrung des menschlichen Suchens nach Gott. Das Selbst widerstrebt dem Zuge der geistlichen Schwerkraft, flieht die Berührung der Ewigkeit, und das Ewige sucht es, spürt es unerbittlich auf. Die verfolgende Liebe, sagen die Mystiker, ist eine Erfahrungstatsache, nicht eine poetische Vorstellung. »Diese starken Füße, die immer und immer nachfolgen«, müssen, wenn sie einmal auf der Fährte sind, siegen. Der Mensch, einmal zum Bewußtsein der Wirklichkeit erwacht, kann ihr nicht mehr entrinnen. Eine Zeitlang mögen wohl sein Gott entfremdeter Geist und seine ungezügelten Neigungen eigenwillig den Plan der Dinge zuschanden machen, aber schließlich muß er sich überwunden geben. Dann vollzieht sich in unerbittlicher Folge die mystische Entwicklung, die Liebe triumphiert, der Zweck der Welten erfüllt sich im Leben des Einzelnen.

II.

Es war natürlich und unvermeidlich, daß das Bild der menschlichen Liebe und Hochzeit dem Mystiker als das beste aller Gleichnisse für die »Erfüllung seines Lebens«, für die Hingabe seiner Seele erstlich an den Ruf und endlich an die Umarmung der vollkommenen Liebe erschien. Dies Gleichnis lag ihm sozusagen zur Hand, es wurde von allen Menschen verstanden und überdies bietet es auch entschieden auf niederer Ebene eine merkwürdig genaue Parallele zu der Folge von Zuständen, in denen sich das religiöse Bewußtsein des Menschen entfaltet, und die die Gesamtentwicklung des mystischen Lebens bilden.

Man hat gesagt, daß die beständige Anwendung solcher Bilder bei den christlichen Mystikern des Mittelalters auf die Beliebtheit des Hohenliedes zurückzuführen sei. Ich glaube, daß die Sache eher umgekehrt ist, nämlich daß der Mystiker das Hohelied so liebte, weil er in ihm die geheimsten Erlebnisse seiner Seele widergespiegelt sah. Das Gefühl eines Verlangens, das unersättlich war, einer persönlichen Gemeinschaft, die so wirklich, so innerlich und intensiv empfunden war, daß sie sich nur mit dem engsten Band menschlicher Liebe vergleichen ließ, eines Verkehrs, der kein bloßes Sichhingeben an ein religiöses Gefühl bedeutete, sondern in den ursprünglichen Pflichten und Notwendigkeiten des Lebens wurzelte, – ja, noch mehr, jene tiefsten, intimsten Geheimnisse der Vereinigung, jene Ekstasen der Hingabe, die alle Mystiker kennen, aber von denen wir, die wir keine Mystiker sind, schweigen müssen, – alles dies fand er, im Gleichnis dargestellt und angedeutet, so daß seine unerträgliche Herrlichkeit barmherzig verschleiert war, in der Dichtung wieder, die der Mensch erfunden hat, um jene erhabene Leidenschaft, in der das rein Menschliche dem Göttlichen am nächsten kommt, zu ehren.

Den großen Heiligen, die diese Symbolik übernahmen und weiter ausbildeten, indem sie sie auf ihre reine und inbrünstige Leidenschaft für das Absolute anwandten, mangelte die ausschweifende Phantasie, die ihre modernen Ausleger allzuoft besitzen. Sie waren wesenhaft reinen Herzens, und wenn sie Gott schauten, lag es ihnen so fern, diese überirdische Vision mit den Erzeugnissen krankhafter Sexualität zu verquicken, daß der bedenkliche Charakter der Bildersprache, die sie anwandten, ihnen gar nicht bewußt wurde. Sie kannten die einzigartige Natur geistlicher Liebe aus eigener Erfahrung, und niemand kann auf irgendeine andere Weise etwas davon wissen.

So ist für den hl. Bernhard in allen seinen tief mystischen Predigten über das Hohelied das göttliche Wort der Bräutigam und die menschliche Seele die Braut; aber wie verschieden ist die Wirkung dieser Gleichnisse, so wie er sie anwendet, von der, die ihm seine feindlichen Kritiker zur Last legen! An Stelle der »sinnlichen Bildersprache«, die von denjenigen, welche die Schriften des Heiligen nur ganz oberflächlich kennen, so oft und so ernstlich beklagt wird, finden wir Bilder, die zwar ursprünglich sinnlich gewesen, hier aber zu einem heiligen Amt gesalbt und geweiht, emporgehoben, verwandelt und mit strahlender Reinheit, mit einem intensiven geistlichen Leben ausgestattet sind!

»› Er küsse mich mit den Küssen Seines Mundes‹. Wer ist es, der diese Worte spricht? Es Ist die Braut. Wer ist die Braut? Es ist die nach Gott dürstende Seele … Sie, die dies begehrt, ist mit dem Band der Liebe an Ihn gebunden, von dem sie es begehrt. Von allen natürlichen Gefühlen ist das der Liebe das herrlichste, besonders wenn es zurückkehrt zu seinem Anfang und Urquell, nämlich Gott. Auch gibt es nichts, was die gegenseitige Liebe zwischen dem Wort Gottes und der Seele so lieblich ausdrückt, als die Worte Bräutigam und Braut, da denen, die in solchem Verhältnis zueinander stehen, alles gemeinsam ist und sie nichts für sich oder getrennt besitzen. Sie haben Ein Erbe, Ein Haus, Einen Tisch, Ein Bett und sind in Wahrheit Ein Fleisch … Wenn daher gegenseitige Liebe Bräutigam und Braut ziemt, so ist es nicht ungeziemlich, den Namen Braut einer Seele zu geben, die liebt St. Bernhard, Sermones in Cantica Canticorum, Sermo VII.

Mystikerinnen der katholischen Kirche, die mit der alten poetischen Bildersprache, welche jede Klosternonne eine Braut Christi nannte, vertraut waren, erschien diese Krisis in ihrem geistlichen Leben, wo sie sich endgültig dem Dienst der transzendenten Wirklichkeit widmeten, naturgemäß als das wahrhaftige Verlöbnis der Seele. Oft sahen sie in einer dynamischen Vision wie auf einem Gemälde, wie ihre Seele mit ihrem Gott bindende Gelübde wechselte S. unten, Teil II, Kap. V.. Das weitere Fortschreiten auf dem mystischen Wege, das ein lebhaftes und dauerndes Bewußtsein der Vereinigung mit dem göttlichen Willen, der beständigen stützenden Gegenwart eines göttlichen Gefährten mit sich brachte, wurde durch eine Weiterführung des ursprünglichen Gleichnisses zur geistlichen Hochzeit. Die Momente der Pflicht, Beständigkeit, Unwiderruflichkeit und des liebenden Gehorsams, die mit der mittelalterlichen Vorstellung des ehelichen Standes verbunden waren, machten diesen zu einem passenden Gleichnis für einen religiösen Zustand, dessen vorherrschende Eigentümlichkeiten Demut, innige Vertraulichkeit und Liebe waren. Es ist wirklich nicht nötig, noch eine pathologische Erklärung für diese einfachen Tatsachen zu suchen. Überdies sind die Schilderungen der geistlichen Hochzeit, die die großen Mystiker hinterlassen haben, durchaus frei von fleischlichen Vorstellungen. »Es läßt sich weiter nichts sagen,« sagt die hl. Teresa, »als daß, soweit man die Sache begreifen kann, die Seele (ich meine der Geist dieser Seele) als Eins mit Gott geworden erscheint; denn da Gott auch Geist ist, hat seine Majestät die Liebe zeigen wollen, welche er zu uns hat, indem er einigen Personen zu verstehen gibt, bis wie weit er kommt, damit wir seine Größe preisen. Dergestalt hat er sich mit dem Geschöpfe verbinden wollen, daß er so wie diejenigen, welche nicht voneinander geschieden werden können, sich von demselben nicht trennen will. Das geistliche Verlöbnis ist hiervon verschieden; denn häufig trennen sie sich … Bei derjenigen Gnade des Herrn, von welcher hier die Rede ist, findet aber ein Anderes statt; denn die Seele bleibt bei ihrem Gott allezeit in diesem Mittelpunkte El Castillo Interior, Moradas Sétimas 2.

Der große Richard von St. Victor gibt uns in einem seiner glänzendsten mystischen Traktate De Quatuor Gradibus Violentae Charitatis (Migne, Patrologia Latina Bd. CXCVI, 1207-24). vielleicht die kühnste und ausgeführteste Anwendung der Symbolik der Hochzeit auf die geistlichen Abenteuer des Menschen. Er teilt die »steile Treppe der Liebe«, auf der der Kontemplative zur Vereinigung mit dem Absoluten hinansteigt, in vier Stufen. Diese nennt er das Verlöbnis, die Hochzeit, die Ehe und die Fruchtbarkeit der Seele » In primo gradu fit desponsatio, in secundo nuptiae, in tertio copula, in quarto puerperium … De quarto dicitur, Concepimus, et quasi parturivimus et peperimus spiritum (Isa. XXVI, 18).« A. a. O. 1216 D.. Bei dem Verlöbnis, sagt er, »dürstet die Seele nach dem Geliebten«, d. h. sie sehnt sich, die Entzückungen der Wirklichkeit zu erfahren. »Der Geist kommt zur Seele und erscheint süßer als Honig.« Dies ist die Bekehrung, das Erwachen der mystischen Wahrheit, das Aufflammen der Leidenschaft für das Absolute. »Dann verlangt die Seele hartnäckig nach mehr«, und gelangt, kraft ihrer brennenden Sehnsucht, zur reinen Kontemplation und erhebt sich damit auf die zweite Stufe der Liebe. Dort wird sie von dem Geliebten zur Hochzeit geführt. Indem sie in der Kontemplation über sich selbst hinaufsteigt, »sieht sie die Sonne der Gerechtigkeit«. Sie ist nun im mystischen Leben befestigt; das unwiderrufliche Ehegelübde wird zwischen ihrem Geist und ihrem Gott gewechselt. Auf dieser Stufe kann sie »den Geliebten sehen«, aber »kann noch nicht zu Ihm hineingelangen«, sagt Richard. Diese Stufe entspricht, wie wir später sehen werden, mehr oder weniger dem, was andere Mystiker den Weg der Erleuchtung nennen; indessen ist jeder Versuch, diese dichterischen Symbole in ein festes Schema zu pressen und genaue Parallelen aufzustellen, von vornherein zum Scheitern verurteilt und wird ihnen nur ihren Duft und ihre suggestive Gewalt rauben. Mit Richards dritter Stufe jedoch, der Vereinigung oder Ehe, ist unzweideutig die Via Unitiva gemeint. Hier ist die Seele über die Stufen der ekstatischen und bedeutsamen Ereignisse hinausgelangt und ist in das höhere Leben aufgenommen. Sie wird »vergottet«, »geht gänzlich in Gott ein und nimmt teil an Seiner Herrlichkeit«, sie wird, wie er sagt, durch die unmittelbare Berührung mit der göttlichen Substanz in eine ganz andere Art von Wesen verwandelt. »So wird«, sagt der hl. Johann vom Kreuze, »die Seele, wenn sie alles, was dem göttlichen Willen widerstrebt, von sich ausgetrieben hat, durch die Liebe in Gott verwandelt Subida del Monte Carmelo II, 5.

»Die Seele«, sagt Richard wiederum, »ist ganz und gar auf den Einen konzentriert.« Sie ist »zum göttlichen Licht emporgehoben«. Die persönliche Leidenschaft, die innig nahe Beziehung, findet hier ihren höchsten Ausdruck. Aber dies ist nicht genug. Wo die meisten mystischen Systeme aufhören, geht Richard von St. Victors »steile Treppe der Liebe« noch weiter, so daß dies fast das einzige von allen symbolischen Systemen der großen Kontemplativen ist, in welchem alle Momente, die in der geistlichen Hochzeit enthalten sind, konsequent durchgeführt sind. Er sah deutlich, daß die Vereinigung der Seele mit ihrem Ursprung keine unfruchtbare Verzücktheit sein konnte. Das hieße, das Mittel fälschlich für den Zweck nehmen und so die Absicht des Lebens vereiteln, das auf allen Ebenen fruchtbar und schöpferisch ist. Daher sagt er, daß auf der vierten Stufe die Braut, die so hoch geehrt worden und zu solcher unsagbaren Wonne emporgehoben ist, ihren eigenen Willen fallen läßt und »unter sich selbst erniedrigt« wird. Sie nimmt an Stelle der Entzückungen der Liebe ihre Schmerzen und Pflichten auf sich und wird zu einem Quell und Ursprung neuen geistlichen Lebens. Die Sponsa Dei wird zur Mater Divinae gratiae. Der gebieterische Trieb des Lebens, vorwärts zu drängen, zu schaffen, sich auszubreiten, zeigt sich hier in der geistlichen Sphäre wirksam. Dies bedeutet die höchste und letzte Stufe in der Entwicklung der großen Mystiker, auf der sie in die Welt, die sie verließen, zurückkehren, um dort sozusagen als transzendentale Kraftzentren, als die Schöpfer geistlicher Familien, die Partner und Mitarbeiter des göttlichen Lebens, zu leben Vgl. unten, Teil II, Kap. I und X..

III.

Wir kommen nun zu den Symbolen, die von den Mystikern angewandt werden, in welchen ein in ihrem Temperament begründetes Bewußtsein ihrer eigenen Unvollkommenheit und der unaussprechlichen Vollkommenheit des absoluten Lebens, dem sie zustreben, alle andern Auffassungen des Suchens nach der Wirklichkeit überwunden und verdrängt hat. Das »Suchet, so werdet ihr finden« des Pilgers, das »durch Liebe wird Er erlangt und festgehalten« der Braut kann nie als eine angemessene Umschreibung für die Erfahrungen von Seelen dieses Typs erscheinen. Sie haben ihr Augenmerk auf die unerbittliche Wahrheit gerichtet, die in irgendeiner Form von diesen beiden Klassen anerkannt werden muß: die entscheidende Tatsache, daß »wir das schauen, was wir sind«, oder mit andern Worten, daß »nur das Wirkliche die Wirklichkeit erkennen kann«. Daher konzentriert sich ihr Interesse auf den Zustand des inneren Menschen, auf seine »Unwirklichkeit«, wenn er nach transzendentalem Maßstabe gemessen wird. Seine Erneuerung oder Wiedergeburt erscheint ihnen als die erste Notwendigkeit, wenn er je Bürgerrecht im »Lande der Seele« erwerben will.

Wir haben gesehen, daß diese Idee der Wiedergeburt, der Erneuerung oder Umwandlung des Selbst, in vielfach verschiedene Gleichnisse gekleidet, die ganze Mystik und einen großen Teil der Theologie durchzieht. Es ist die Art, wie der Mystiker sich die notwendigen psychologischen Wandlungen zurechtlegt, die er in sich beobachtet, wie sein religiöses Bewußtsein wächst. Das schwere Werk der Entsagung, der Loslösung von den Dingen, die jenes Bewußtsein als eitel oder unrein bezeichnet, seine Läuterungen und Prüfungen, alles dies bildet einen Teil davon. Wenn das Ganze oder Vollkommene kommen soll, so muß das Unvollkommene abgetan werden, denn »soviel wir uns entledigen von den Kreaturen, allsoviel werden wir empfänglich des Schöpfers, und das nicht weniger noch mehr Theologia Deutsch I (Bernhart S. 94).«.

Von all den symbolischen Systemen, die diese Wahrheit einschließen, ist keines so vollständig, so pittoresk, und wird heutzutage so wenig verstanden wie das der »hermetischen Philosophen« oder geistlichen Alchimisten. Diese Tatsache an sich würde es ausreichend rechtfertigen, daß wir einige Hauptzüge ihrer Symbolik genauer ins Auge fassen. Doch dies scheinbar exzentrische Verfahren wird noch weiter entschuldigt durch die Tatsache, daß die Sprache der Alchimie in weitem Umfange – wenn auch nicht immer genau und folgerichtig – von dem großen Mystiker Jakob Boehme und nach ihm von seinem englischen Schüler William Law angewandt wurde. Man kann also die Schriften dieser wichtigen Schule kaum verstehen ohne eine gewisse Kenntnis der Ausdrücke, deren sie sich bedienten, die sie aber selten erklärten.

Ich will mich an dieser Stelle nicht auf eine lange und ins Einzelne gehende Erörterung der alchimistischen Symbole und ihrer Anwendung auf das mystische Leben einlassen. Diese Symbolik ist voll von einer oft absichtlichen Dunkelheit, die ihre genaue Deutung im besten Falle zu einer Streitfrage macht. Überdies gebrauchen die verschiedenen Verfasser der hermetischen Schriften sie nicht immer in dem gleichen Sinne, und während viele von diesen Schriften unzweifelhaft mystisch sind, haben andere es ganz offenbar mit der materiellen Goldsuche zu tun; auch gibt es keinen sicheren Maßstab, nach dem wir die beiden Klassen voneinander scheiden können.

Die Elemente, auf denen die geistlichen Alchimisten ihre wunderlichen Allegorien des mystischen Lebens aufbauten, sind jedoch leicht zu erfassen, und diese Elemente sowie die Bedeutung, die man ihnen im allgemeinen beilegt, sind alles, was diejenigen, die nicht Spezialisten sind, aus diesem sehr verwirrten Knäuel herauszuwinden hoffen können. Da sind zuerst die Metalle, die natürlich das Grundmaterial der physischen Alchimie bilden. Sie werden gewöhnlich nach den über sie herrschenden Planeten benannt: so bedeutet in hermetischer Sprache Luna das Silber, Sol das Gold usw. Dann ist da der Athanor, das Gefäß, in dem die Verwandlung des unedlen Metalles in Gold stattfand, ein Gegenstand, dessen eigentliche Natur in tiefes Geheimnis gehüllt ist. Das Feuer und verschiedene Lösungsmittel und Flüssigkeiten, die bei den verschiedenen alchimistischen Rezepten eine Rolle spielen, vervollständigen den Apparat, der für das »große Werk« nötig ist.

Der Verlauf dieses Werkes, der bald in chemischen und bald in astrologischen Ausdrücken geschildert wird, ist meistens in eine seltsame heraldische und zoologische Symbolik gehüllt, die es mit Löwen, Drachen, Adlern, Geiern, Raben und Tauben zu tun hat und die, so sehr das Malerische in ihr entzückt, doch eine unvergleichliche Fähigkeit hat, den eifrigen und unermüdlichen Forscher zu verwirren. Dabei wimmelt es von zahllosen Allegorien, die den Auserwählten die Geheimnisse übermitteln und sie zugleich der Menge verbergen sollten. Daher spricht der Verfasser der »kurzen Untersuchung der hermetischen Kunst« im Namen aller Erforscher dieses Gegenstandes, wenn er die »hermetische Wissenschaft« als ein »großes Labyrinth« schildert, »in dem unzählige Suchende bis auf den heutigen Tag umherirren, von denen viele aneinander vorbeilaufen, ohne sich zu sehen«. Wie er, habe auch ich selbst »einige Rundgänge darin gemacht, wobei man nur sehr wenigen zu begegnen pflegt, denn es ist so groß, und fast jeder wählt einen andern Pfad, so daß sie selten aufeinander stoßen. Doch da ich den Ort sehr melancholisch fand, beschloß ich, wieder hinauszugehen und mich lieber damit zu begnügen, in dem kleinen Garten vor dem Eingang umherzuspazieren, wo vieles, wenn auch nicht alles, ordentlich zu sehen war. Ich zog es vor, dort zu bleiben und mir das dort aufgestellte Bild zu betrachten, statt mich wieder in die Wirrnis hineinzuwagen A Short Enquiry Concerning the Hermetic Art p. 29.«.

Wenn wir also an die »Betrachtung des aufgestellten Bildes« gehen – was für die heutigen Erforscher der hermetischen Kunst entschieden das weiseste Verfahren ist –, so bemerken wir zuerst, daß das Hauptziel der Alchimie die Hervorbringung des Steins der Weisen war, jener vollkommenen und lauteren Substanz, jener edlen Tinktur, die sich auf unserer unvollkommenen Erde nie in natürlichem Zustande findet, die alle niederen Metalle von ihren Schlacken reinigen und in reines Gold verwandeln würde. Das Suchen nach dem Stein war in der Tat nur eine Erscheinungsform des unaufhörlichen Strebens des Menschen nach Vollkommenheit, seiner Sehnsucht nach dem Absoluten, und so war es ein geeignetes Symbol des mystischen Lebens. Aber dies Suchen ging nicht in einem fernen, übersinnlichen Reiche vor sich, sondern in dem Hier und Jetzt zwischen den gewöhnlichen Dingen des natürlichen Lebens.

Gold, der gekrönte König, oder Sol, wie es in der planetarischen Symbolik der Alchimisten hieß, war ihr Maßstab der Vollkommenheit, das vollkommene Metall. Auf Gold war ihr Wille gerichtet, wie der Wille des Christen auf Heiligkeit. Es hatte für sie einen nicht gemeinen, sondern ideellen Wert. Die Natur, so dachten sie, versucht beständig, Gold hervorzubringen, dies unvergängliche und vollkommene Ding, und die andern Metalle sind nur die Resultate des Mißlingens ihrer ursprünglichen Absicht. Auch beschränkt sich dies Streben nach dem Vollkommenen und dies Erreichen des Unvollkommenen nicht auf die physische Welt. Quod superius, sicut quod inferius. Auch auf der geistlichen Ebene, so sagten sie, strebt die göttliche Idee immer nach dem »geistlichen Gold« – nach der göttlichen Menschheit, dem »neuen Menschen«, dem Bürger der übersinnlichen Welt – und der »natürliche Mensch«, wie wir ihn hier gewöhnlich kennen, ist ein niederes Metall, im besten Falle Silber, ein Abweichen von dem »Plan«; aber er trägt doch den Funken oder Samen absoluter Vollkommenheit in sich, wenn wir ihn nur entdecken können: die »Tinktur«, die Gold erzeugt. »Die oberflächliche Kenntnis,« sagt Sir Thomas Browne, »die ich von dem Stein der Weisen habe (der etwas mehr ist als die vollkommene Läuterung des Goldes), hat mich sehr viel Geistliches gelehrt und meinen Glauben unterwiesen, wie dieser unsterbliche Geist, diese unverwesliche Substanz meiner Seele eine Weile in diesem Hause von Fleisch im Dunkel liegen und schlafen kann Religio Medici I, 39..« Diese »unverwesliche Substanz« ist des Menschen Goldheit, sein vollkommenes Prinzip, denn »die höchste mineralische Kraft wohnt im Menschen«, sagt Albertus Magnus, »und Gold läßt sich überall finden A Suggestive Enquiry into the Hermetic Mystery p. 143. Diese einzigartige und merkwürdige Studie über geistliche Alchimie ist das anonyme Werk der verstorbenen Mrs. Atwood, die es bald nach seiner Veröffentlichung zu unterdrücken suchte, weil sie, wie es bei einer gewissen Art von Mystikern häufig der Fall ist, den Eindruck hatte, daß sie Sachen enthüllt hätte, über die man nichts sprechen dürfte. Aus demselben Grunde zerstörte Coventry Patmore sein Meisterwerk Sponsa Dei.«. Daher ist die geistliche Chemie ein wesentlicher Teil der wahren hermetischen Wissenschaft.

Die Kunst des Alchimisten, des geistlichen wie des physischen, besteht darin, das Werk der Vervollkommnung zu vollbringen, indem er die latente Goldheit, die im Metall oder im Menschen »im Dunkel liegt«, ans Licht und zur Herrschaft bringt. Der ideale Adept der Alchimie war daher ein »Gehilfe der ewigen Güte«. Durch sein Suchen nach der »edlen Tinktur«, die eine unvollkommene Welt wiederherstellen sollte, wurde er ein Teilnehmer an dem Werk der Schöpfung und Mithelfer am Weltplan.

Die eigentliche Kunst des geistlichen Alchimisten, mit dem allein wir es hier zu tun haben, war die Erzeugung der geistlichen und einzig wertvollen Tinktur oder des Steins der Weisen, des mystischen Samens übersinnlichen Lebens, der in das unvollkommene Selbst eindringen, es färben und ganz in geistliches Gold verwandeln sollte. Daß dies kein phantastischer Einfall der Allegoristen des 17. Jahrhunderts war, sondern eine Vorstellung, die vielen von den ältesten alchimistischen Schriftstellern vertraut war – deren Suchen in Wahrheit ein geistliches Erforschen der tiefsten Seelengeheimnisse war –, beweisen die Schlußworte des ersten Teiles der alten »goldenen Abhandlung über die Erzeugung des Steins der Weisen«, die unter dem Namen des Hermes Trismegistos geht. »Dies, o mein Sohn,« heißt es in jenem bemerkenswerten Traktat, »ist der verborgene Stein von vielen Farben, der in einer Farbe geborgen und hervorgebracht wird; diesen merke und halte geheim … er führt aus dem Dunkel ins Licht, aus dieser Wüstenwildnis zu einer sichern Wohnung und aus Armut und Enge zu freiem und reichem Besitz Zitiert in A Suggestive Enquiry into the Hermetic Mystery p. 107. In dieser Arbeit wird der ganze Inhalt des goldenen Traktats dargelegt.

Der Mensch war also für die Alchimisten »das wahre Laboratorium der hermetischen Kunst«, die den Lebensprozeß seines Aufstiegs zu jenem vollkommenen Zustande, in dem er fähig war, Gott zu begegnen, in einem Gewirr von vagen und widerspruchsvollen Symbolen verbarg. Dieser Zustand ist nicht mit einer bloßen sittlichen Reinheit zu verwechseln, sondern er bringt eine vollständige Umwandlung in eine »neue Gestalt« mit sich. Hieraus folgt naturgemäß, daß viele christliche Alchimisten den innewohnenden Christus, den »Eckstein«, die »Sonne der Gerechtigkeit«, mit dem Stein der Weisen und Sol identifizierten und ihn zur gleichen Zeit als das Bild und als die Bürgschaft dieses »großen Werkes« ansahen. Sein Geist war die »edle Tinktur«, die »das Niedrigste im Tode zu seiner höchsten Zierde bringen kann Jakob Boehme, Von dem dreifachen Leben des Menschen IV, 23.«, das Natürliche in das Übernatürliche wandelt, die »neue Geburt« bewirkt. »Das«, sagt Boehme, »ist der edle, hochteure Stein Lapis Philosophorum, den die Magi finden, der die Natur tingieret und einen neuen Sohn im alten gebieret; der ihn findet, achtet ihn höher als diese Welt. Denn der Sohn ist vieltausendmal größer als der Vater.« Und wiederum: »So du aber nun den Geist der Tinktur ergreifest, so gehest du zwar auf einem Wege, auf welchem viele Solem haben gefunden. Aber sie sind dem Wege nachgegangen bis auf Solis Herze, da hat sie der Geist der himmlischen Tinktur gefangen und in die Freiheit, in die Majestät geführet: allda sie dann den edlen Stein Lapidem Philosophorum haben erkannt und sich gleich entsetzet vor der menschlichen Blindheit und gesehen die vergebene Arbeit. Willst du den edlen Stein finden, siehe, so wollen wir dir ihn genug zeigen, bist du ein Magus und dessen wert; sonst bleibest du wohl blind. So greif es also an, denn er hat nichts mehr als drei Zahlen. Erstlich zähle von eins bis auf X, das ist zehen, und ist eine Kreuzzahl … da liegt der Stein ohne große Mühe, denn er ist rein und mit der irdischen Natur nie beflecket.«

»In diesem Steine liegt verborgen, was Gott und die Ewigkeit, dazu Himmel, Sterne und Elemente haben und vermögen. Es ist kein besserer noch köstlicherer von Ewigkeit nie gewesen als eben dieser, und der wird dem Menschen von Gott angeboten und geschenket; es mag ihn ein jeder haben, wer nur will. Er ist in schlichter Gestalt und hat die Kraft der ganzen Gottheit in sich Boehme, Von dem dreifachen Leben des Menschen VI, 98; X, 4-8; XIII, 1.

Boehme gebraucht jedoch hier die alchimistischen Symbole, seiner Gewohnheit gemäß, auf eine freie und künstlerische Weise, denn der wahre hermetische Stein der Weisen ist nicht etwas, das man finden kann, sondern etwas, das man erzeugen muß. Die Alchimisten, ob sie nun eine physikalische oder eine geistliche »Tinktur« suchen, sagen immer, daß diese Tinktur das Erzeugnis Athanors und des Ofens ist, ferner, daß sie aus »drei Zahlen« oder Elementen besteht, die sie Schwefel, Salz und Quecksilber nennen. Diese bilden, wenn man sie gefunden und in die richtige Verbindung gebracht hat, den »Azoth« oder »das philosophische Ei«, den ungeformten Stoff oder die prima materia des großen Werkes. Schwefel, Salz und Quecksilber sind jedoch nicht in einem zu buchstäblichen Sinne zu verstehen.

»Ihr braucht unsern metallischen Samen nicht unter den Elementen zu suchen,« sagt der Mönch Basilius, »so weit fort braucht man ihn nicht zu suchen. Wenn ihr nur das Quecksilber, den Schwefel und das Salz (ich meine das der Magier) rektifiziert, bis Metallgeist und Metalleib durch die Metallseele untrennbar verbunden sind, so schmiedet ihr dadurch die Kette der Liebe fest zusammen und bereitet den Palast für die Krönung The Golden Tripod of the Monk Basilius Valentinus (The Hermetic Museum I, p. 319).

Von diesen drei Bestandteilen ist der wichtigste das geistliche Prinzip, der ungreifbare Merkur, der durchaus nicht das Metall ist, das man sonst unter diesem Namen versteht (Quecksilber). Das Quecksilber, das die Alchimisten suchten – oft an seltsamen Orten –, ist eine verborgene und mächtige Substanz. Sie nennen es »Merkur der Weisen«, und wem es gelingt, es zu entdecken, der ist auf dem Wege zum Erfolg. Der nach mystischer Weisheit suchende Leser fängt bereits an verwirrt zu werden, aber wenn er in diesem Labyrinth von Symbolik ausharrt, entdeckt er bald – wie der Mönch Basilius in der Tat andeutet –, daß der Schwefel und das Salz oder »die Metallseele und der Metalleib« der geistlichen Chemie etwas dem menschlichen Körper und Geist Analoges darstellen: Schwefel seine irdische Natur, die mit dem Salz des Intellekts gewürzt ist. Das Quecksilber ist Geist im mystischsten Sinne, die Synteresis oder der heilige Bewohner des Innersten, der innewohnende Funke oder das göttliche Prinzip seines Lebens. Nur »der Weise«, der mystisch Erweckte, kann dies Quecksilber, den Bewirker der Umwandlung des Menschen erkennen, und bis dahin, wo es entdeckt, aus der Verborgenheit ans Licht gebracht wird, kann nichts geschehen. »Dies Quecksilber oder dieser Schneeglanz ist eine himmlische Substanz, die aus den Strahlen der Sonne und des Mondes gewonnen wird. Es ist das einzige Agens, das es in der Welt für diese Kunst gibt A Short Enquiry Concerning the Hermetic Art p. 17..« Es ist der göttlich-menschliche »Seelenfunke«, die Brücke zwischen Gold und Silber, Gott und Mensch.

Wenn die drei Grundbestandteile in den Athanor oder Schmelztiegel, welcher der Mensch selbst ist, eingeschlossen und einem milden Feuer – dem Incendium Amoris – ausgesetzt sind, so kann das große Werk, die mystische Umwandlung des natürlichen Menschen in den geistlichen, beginnen. Dies Werk hat, wie die Teile, aus denen es besteht, »drei Zahlen«, und der Urstoff nimmt während seiner Verwandlung nacheinander drei verschiedene Farben an: Schwarz, Weiß und Rot. Diese drei Farben entsprechen genau den drei herkömmlichen Stufen des mystischen Weges: Reinigung, Erleuchtung, Einigung.

Die Alchimisten nennen sie die erste Stufe oder das Schwarze Fäulnis. Hier werden die drei Elemente, Körper, Seele und Geist, die zusammen den ganzen Menschen bilden, »sublimiert«, bis sie als ein schwarzes Pulver voller Fäulnis erscheinen, und der unvollkommene Körper wird »von dem feinen Quecksilber aufgelöst und gereinigt«, wie der Mensch durch Dunkel, Elend und Verzweiflung, die dem Erwachen seines geistlichen Bewußtseins folgen, geläutert wird. Wie seelische Umwälzung und Störung zum geistigen Wachstum zu gehören scheint, so ist Solve et coagula – reiße nieder, damit du aufbauen kannst – die Losung des geistlichen Alchimisten. Das »schwarze Tier«, das Element der Leidenschaft, das der niedern Natur angehört, muß hervorkommen und abgetan werden, bevor irgend etwas anderes geschehen kann. »Es ist ein schwarzes Tier in unserm Walde«, heißt es in dem in hohem Maße allegorischen »Book of Lambspring«, »sein Name ist Fäulnis, seine Schwärze wird das ›Rabenhaupt‹ genannt; wenn dies abgehauen wird, kommt die Weiße zum Vorschein The Hermetic Museum I, p. 272.«. Diese Weiße, der Zustand des Mondes oder des Silbers, der »keuschen und unbefleckten Königin«, entspricht dem Wege der Erleuchtung, der höchsten Stufe, die der Mystiker vor der Vereinigung mit dem Absoluten erreichen kann. Dieser weiße Stein ist rein und kostbar, aber in ihm ist das große Werk der geistlichen Entwicklung des Menschen noch nicht am Ziel. Dies Ziel ist die Erreichung des Rot, der Farbe der Vollkommenheit oder des alchimistischen Goldes, ein Vorgang, der bisweilen als »die Hochzeit von Luna und Sol« bezeichnet wird – die Verschmelzung des menschlichen und göttlichen Geistes. Unter diesem Bilde verbirgt sich das letzte Geheimnis des mystischen Lebens, die Einswerdung des Endlichen und Unendlichen, die liebende Empfängnis der einströmenden göttlichen Lebenskraft, woraus das Magnum Opus entsteht: der vergottete oder geistliche Mensch.

Ich sagte schon, daß neben der mineralogischen und astrologischen Bildersprache der Alchimisten eine eigenartige heraldische Symbolik herläuft, zu der sie ihre Zuflucht nehmen, wenn sie fürchten, meistens ohne Grund, daß sie ihre Geheimnisse einer unerlösten Welt zu offen verkünden. Viele von diesen heraldischen Sinnbildern werden so willkürlich verwandt, daß sie, wenn sie auch für den betreffenden Alchimisten und die Schüler, für die er schrieb, einen Sinn hatten, für andere doch unverständlich sind und immer unverständlich bleiben müssen. Andere jedoch haben eine allgemeinere Verwendung und finden sich in der Literatur des 17. Jahrhunderts, in mystischer wie nichtmystischer, so häufig, daß eine Erörterung derselben vielleicht von Nutzen ist.

Die vielleicht seltsamste und beliebteste von all diesen Allegorien ist die, die das Suchen nach dem Stein der Weisen als die »Jagd auf den grünen Leuen Vgl. A Short Enquiry p. 17 und A Suggestive Enquiry p. 297 ff., wo der gereimte alchimistische Traktat Hunting the Greene Lyon vollständig abgedruckt ist.« schildert. Der grüne Leu ist, was wenige erraten würden, die Prima materia des großen Werkes; also in der geistlichen Alchimie der natürliche Mensch in seiner Ganzheit – Salz, Schwefel und Quecksilber in ihrem Rohzustande. Er wird grün genannt, weil er, vom transzendentalen Standpunkte aus betrachtet, noch unreif ist und seine latenten Kräfte unentwickelt sind: und ein Löwe wegen seiner Kraft, Wildheit und Männlichkeit. Hier wird der allgemein verbreiteten Ansicht, eine fromme Weichlichkeit, eine dünne und liebenswürdige Geistigkeit sei das geeignete Rohmaterial für das mystische Leben, nachdrücklich widersprochen. Nicht durch Erziehung des Lammes, sondern durch Jagen und Zähmen des wilden, unbändigen Löwen, der voll von Lebenskraft, Mut und Feuer auf der sinnlichen Ebene sich heldenhaft zeigt, wird das große Werk vollbracht. Das Leben der Heiligen predigt uns dasselbe Gesetz.

» Our lyon wanting maturitie
Is called greene for his unripeness trust me:
And yet full quickly he can run,
And soon can overtake the Sun
Ebenda. (»Unser Löwe, dem die Reife fehlt, wird wegen seiner Unreife grün genannt, glaubt mir; und doch kann er gar schnell rennen und kann bald die Sonne einholen.«)

Der grüne Leu in seiner Kraft und Ganzheit ist also das einzige Geschöpf, das die Möglichkeit hat, Vollkommenheit zu erlangen. Der Mensch muß sich den ganzen Reichtum seiner Natur zu eigen machen und denselben läutern, nicht nur seinen transzendentalen Neigungen nachhängen, wenn er die Vollkommenheit einholen und das große Werk vollbringen will. Das Himmelreich wird mit Gewalt gewonnen, nicht mit liebenswürdigem Bestreben. »Der grüne Leu«, sagt ein Alchimist, »ist der Priester, von dem Sol und Luna getraut werden.« Mit andern Worten, der Rohstoff der unbezähmbaren menschlichen Natur ist das Mittel, wodurch der Mensch zur Vereinigung mit dem Absoluten gelangt.

Die Aufgabe des Alchimisten also, der Verwandlungsprozeß, wird geschildert als die Jagd nach dem grünen Leuen, durch den Wald der Sinnenwelt. Er ist wie der Jagdhund des Himmels auf der Liebesjagd auf und ab durch Tage und Nächte.

Wenn der Löwe gefangen ist, wenn das Schicksal ihn ereilt hat, dann muß ihm als Vorbedingung für den notwendigen Zähmungsprozeß das Haupt abgeschlagen werden. Dieses wird »wegen seiner Schwärze« von den Alchimisten das Haupt des Raben, der Krähe oder des Geiers genannt. Es stellt das wilde und verderbte Leben der Leidenschaften vor, und seine Entfernung bedeutet den »Tod der niedern Natur«, der der Zweck aller Askese ist, – d. h. die Reinigung. Der Leu, der ganze Mensch, die Menschheit in ihrer Kraft, wird sozusagen »der Welt abgetötet« und dann zu neuem Leben erweckt, aber in sehr veränderter Gestalt. Durch sein Hindurchgehen durch diesen mystischen Tod oder die »Fäulnis der drei Grundstoffe« wird die »Farbe der Unreife« hinweggenommen. Wenn seine Zähmung vollendet ist, erhält er Flügel, womit er zur Sonne, zum Vollkommenen oder Göttlichen emporfliegen kann, und wird, wie die Alchimisten sagen, in den roten Drachen verwandelt. Dies ist für uns natürlich ein unerhört groteskes Bild, aber für die hermetische Philosophie, deren Sinn für das Wunderbare noch unverdorben war, war es das tief mystische Sinnbild eines neuen, seltsamen übersinnlichen Lebens, das Himmel und Erde zugleich beherrschte. Was der Engel für den Menschen, das war der Drache für die Welt der Tiere: eine Gestalt der Herrlichkeit und des Schreckens, ein Übertier, das wirklich existierte, wenn es auch selten gesehen wurde. Wir können die Bedeutung, die dies Symbol für die alchimistischen Schriftsteller hatte, vielleicht einigermaßen schätzen, wenn wir uns erinnern, welch einen heiligen Sinn es für die Chinesen hat, denen der rote Drache das herkömmliche Sinnbild freien geistigen Lebens ist, wie der Tiger das Leben auf sinnlicher Ebene in seiner intensivsten Form darstellt. Da die Ausübung der Alchimie von China nach Europa gekommen sein soll, kann man wohl annehmen, daß der rote Drache eins der ältesten und bedeutungsvollsten Symbole der hermetischen Kunst ist.

In der geistlichen Chemie stellt also der rote Drache den vergotteten Menschen dar, dessen In-Erscheinung-Treten vom Standpunkte der bloß-natürlichen Welt aus immer wie die Geburt eines ungeheuerlichen und staunenerregenden Geschöpfes erscheinen muß. Mit seinem In-Erscheinung-Treten ist die Aufgabe des Alchimisten, insofern er Mystiker ist, erfüllt. Der Mensch ist über seine niedere Natur hinausgegangen, hat Flügel erhalten, womit er auf höheren Ebenen der Wirklichkeit leben kann. Die Tinktur, die latente Goldheit, ist gefunden und zur Herrschaft gebracht, das große Werk ist vollbracht. Daß der eigentliche Inhalt dieses Werkes, wenn wir ihn seiner vielen symbolischen Hüllen entkleiden, in der Tat mehr eine Neuordnung der geistigen als der materiellen Elemente war, ist eine Ansicht, die auf festerer Grundlage ruht als auf subjektiven Deutungen alter Allegorien und alchimistischer Traktate. Der Norwicher Arzt Sir Thomas Browne, der selbst in der hermetischen Wissenschaft sehr belesen war, hat in wenigen, aber herrlichen Worten seinen festen Glauben an sie bezeugt. Sie enthalten das wahre Geheimnis von des Menschen ewigem innern Suchen nach dem Stein und bringen das andere, nach außen gehende Suchen nach dem »verborgenen Schatz, der sich sehnt, gefunden zu werden«, mit jenem in Einklang.

»Zieht nur die Körperlichkeit von den Körpern ab oder löst die Dinge auf bis über ihre Urmaterie hinaus, und ihr findet die Wohnung der Engel, die ich glaube die allgegenwärtige göttliche Substanz nennen zu dürfen, ohne die Theologie zu beleidigen Sir Thomas Browne, Religio Medici I, 35.


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