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Weder von geschichtlicher, noch von mythischer Seite erschließt sich uns der wahre und volle Gehalt des deutschen Heldenliedes. Das Geschichtliche ist nur in Durchgängen und Umrissen erkennbar, das Mythische verdunkelt und mißverstanden. Gleichwohl ist diese Heldensage nicht als verwittertes Denkmal alter Volksgeschichte oder untergegangenen Heidenglaubens stehen geblieben, sie ist im längst bekehrten Deutschland lebendig fortgewachsen, im dreizehnten Jahrhundert in großen Dichtwerken aufgefaßt worden, hat noch lange nachher in der Erinnerung des Volkes gehaftet und spricht noch jetzt verständlich zum Gemüte.
Die Erklärung ist einfach, wenn wir sie im Wesen des Gegenstandes suchen. Unsere Sagenwelt ist weder Geschichte, noch Glaubenslehre, sie soll auch keines von beiden für sich sein. Sie ist Poesie, und zwar diejenige Art derselben, die wir als Volksdichtung bezeichnet und deren Haupterscheinung wir im Epos gefunden haben. Ihr Lebenstrieb muß daher ein poetischer, er muß in der Natur der Volkspoesie gekeimt sein. Eine zum Epos ausgebildete Volkspoesie stellt als solche das Gesamtleben des Volkes dar, aus dem sie hervorgegangen ist. Sie umfaßt also zwar auch Volksgeschichte und Volksglauben, aber sie vergeistigt jene und veranschaulicht diesen, sie nimmt dieselben ungeschieden von den übrigen Beziehungen des Lebens.
Denn wie die Geschichte selbst nicht bloß äußeres Ereignis ist, sondern teils in Taten ein Erzeugnis des Volksgeistes, teils durch äußere Einwirkungen, die er in sich verarbeitet, eine Entwicklung desselben, so sind noch weit mehr der Poesie die geschichtlichen Bestandteile nur das Mittel, den Volksgeist zur Erscheinung zu bringen. Das Einzelne, Vorübergehende, faßt sie als Ausdruck des Allgemeinen, Dauernden. Nur in Beziehung auf das letztere kommt ihr geschichtliche Treue zu, jenes löst sie in diesem auf. Und so finden wir uns nicht auf die einzelnen Personen und Begegnisse, sondern auf Leben und Sitte des Volkes im ganzen, als die Grundlage der epischen Darstellungen, verwiesen. Einer urkundlichen Auffassung und Bewahrung des Geschichtlichen widerspricht auch geradezu die Natur einer fortlebenden Volkspoesie. Jedes denkwürdige Ereignis, jeder aufstrebende Held, der in den Gesang aufgenommen wird, reiht sich dem Kreise poetischer Überlieferungen an, deren Ursprung sich in die dunkeln Anfänge des Volks selbst verliert, deren Geist und Wesen durch den neuen Zuwachs nicht so leicht umgewandelt, als, sich diesen aneignend, fortgebildet und vielgestaltiger ausgeprägt wird. Die Vorstellungen eines Volkes vom rechten und kräftigen Leben, vom Großen und Edeln, sowie von den Gegensätzen, die damit im Kampfe stehen, sind zu tief eingepflanzt, als daß nicht der geschichtliche Held, der gewaltigste Eroberer, dessen Name und Wirken in die Überlieferung eintritt, dem Charakter nach je mehr und mehr in jenen volkstümlichen Ansichten aufgehen müßte. Geht aber mit dem Volksgeiste selbst allmählich eine Umwandlung vor, so wechselt auch die Bedeutung der Sage, und das Geschichtliche, was in ihr lag, ist notwendig dieser Veränderung mit unterworfen. Auf der andern Seite spricht sich der Glaube jugendlicher Völker nicht in abgezogenen Lehrbegriffen, sondern in dichterischen Bildern aus. Der innere Gehalt selbst, der unter diesen Bildern ruht, ist durch das äußere Leben vielfach bedingt. Die höchsten und einfachsten Erkenntnisse liegen in jedem Menschen und jedem Volke, wenn nicht entwickelt, doch der Entwicklung fähig; sie sind von jeder geistigen Natur unzertrennlich. Auch ohne Überlieferung müßten sie sich mit dem Menschengeschlecht ewig neu erzeugen, und wo sie durch Überlieferung entstellt oder verkümmert sind, werden sie aus dem Innern reiner und kräftiger wiedergeboren. Aber ihre Entwicklung, ihr Ausdruck, ihre Anwendung wird durch die Verschiedenheit der äußern Umstände auf das mannigfaltigste bestimmt. So bedeutend die Glaubenslehre auf das Leben eines Volkes einwirkt, so gewiß ist ihr Geist und ihre Gestaltung von dessen äußern Lebensverhältnissen abhängig. Je weniger dasselbe noch für allgemeine Wahrheit empfänglich ist, je mehr ihm die religiösen Antriebe nur in unmittelbarem Bezug auf das Leben erkennbar und bedeutsam sind, um so mehr muß sein Glaube das Gepräge des Lebens an sich tragen. Daher der kriegerische Geist der odinischen Lehren, daher die sinnliche Gestalt, welche das Christentum selbst im Mittelalter an sich genommen. Vornehmlich aber wird die Volkspoesie, im Unterschied von derjenigen eines besondern Priesterstandes, aus der Glaubenslehre nur dasjenige ergreifen, was sich in Tat und Leben gestalten läßt. Von der mythischen also, wie von der geschichtlichen Seite unserer Volkspoesie kommen wir auf dasselbe Gebiet; keine von beiden für sich konnte uns das Wesen dieser Poesie erschließen; nur da, wo beide zusammentreffen, wo die Geschichte aus der Gesinnung hervorgeht, wo der Glaube sich in Gestalt und Handlung zeigt, nur in dem Ganzen des Volkslebens und der Volkssitte, des Volkscharakters, der wie der Charakter des einzelnen aus den mannigfachsten innern und äußern Bestimmungen zusammengesetzt ist, kann uns auch das Gesamtbild, welches die Poesie gibt, seine volle Erklärung gewinnen. Die beiden Äußersten, Geschichtliches und Mythisches, haben sich in der Wirklichkeit wie im Gedichte bedeutend abgeschliffen; die geschichtlichen Erscheinungen haben andern und anderartigen Platz gemacht und ebenmäßig sind auch die geschichtlichen Bestandteile des Epos vergessen oder verwandelt; der odinische Glaube, der gotische Mythus mußten der christlichen Lehre weichen und so sind auch die mythischen Sagenbilder zurückgetreten; aber der Kern, in dem äußeres und inneres Leben zusammenschmolz, ist unaufgelöst geblieben, Grundzüge des germanischen Volkscharakters haben die mächtigsten, politischen und religiösen, Veränderungen überdauert, sie konnten darum auch im Gedichte fortleben und schon diese Fortdauer im Wechsel verbürgt ihnen zugleich eine allgemeine menschliche Geltung. Sie nun als das Gemeinsame in Leben und Liede hervorzuheben, soll im folgenden versucht werden. Es wird sich dabei zeigen, wie aus der allgemeinen Begründung, aus der gemeinsamen Wurzel auch das einzelne in Gestalten und Ereignissen oft in auffallendem Einklang zwischen Wirklichkeit und Gedicht hervorgeht, ohne daß wir bei diesen Übereinstimmungen im einzelnen einen eigentlich geschichtlichen Zusammenhang anzunehmen genötigt oder befugt wären.
Staatenbildungen, darin der einzelne mit Bewußtsein sich der Idee des Gesamtvereins unterordnet, sind nicht das Werk der Zeitalter, in welchen die Sagendichtung erblüht. In der Jugend der Völker knüpft sich jedes gesellige Band unmittelbar durch Naturgesetz, nächstes Bedürfnis, persönliche Schätzung und Zuneigung; durchaus bindet sich nur Lebendiges an Lebendiges, Person an Person, das Nächste an sein Nächstes. So bildet sich eine Menge besonderer Genossenschaften im Gegensatz eines allgemeinen Gesellschaftsverbandes. Was aber allen Völkern auf derselben Lebensstufe gemeinsam ist, das haben auf ausgezeichnete Weise die germanischen Stämme auch in die vorgerückte, umfassendere Bildung ihres sittlichen und gesellschaftlichen Zustandes übertragen und bis zum Wendepunkte des Übergangs der mittleren in die neuere Zeit beharrlich daran festgehalten.
Die erste und ursprünglichste jener Genossenschaften ist die Familie. Aus ihr oder nach ihrem Vorbilde gestalten sich die weiteren Vereine. Auf diese Fortbildung aber war es von bedeutend verschiedenem Einfluß, ob ein Volk von uralter Zeit in seinen Wohnsitzen geblieben war und sich auf den Verteidigungskrieg, auf heimische und nachbarliche Fehden, beschränkt, oder ob es wandernd und erobernd sich auswärts verbreitet hatte.
Schon im ältesten, Deutschland finden wir, bei Tacitus, die Grundformen vorgezeichnet und unterschieden, aus welchen sich das germanische Gesellschaftsleben im Lauf der Jahrhunderte nach jenen beiderlei Hauptrichtungen entwickelt hat.
In dem einen Zustande, dem seßhaften, stellt sich zuerst die Familie selbst in ihrem ursprünglichen Wesen dar. Das unstädtische Einzelwohnen der Germanen, wie es bis jetzt noch in abgelegeneren Gegenden sich erhalten hat, die Abgeschlossenheit der eingehegten Höfe, jeder mit seinem Quelle, seinem Feld und Walde (Tac. Germ. K. 16), bezeichnet, schon in malerischem Anblick, die Vorliebe für Beschränkung auf den engeren Kreis des Hauses. Die Genossen desselben sind auf das genaueste unter sich verbunden und verbürgt, jeder muß die Feindschaften und Freundschaften seines Vaters oder Verwandten übernehmen, das ganze Haus empfangt die Sühne für Totschlag und Gewalttat an seinen Angehörigen (Germ. K. 21. 7). Auch in der Schlacht bildet nicht zufällige Zusammenrottung die Scharen, sondern Hausgenossen und Blutsverwandtschaften stehen zusammen, ein vorzüglicher Anreiz zur Tapferkeit (K. 7). Je weniger nun bei alteingesessenen oder in großer Masse angesiedelten Völkern die gemeine Freiheit der andern, erobernden Richtung unterlegen ist, um so länger erhielt sich bei ihnen die volle Kraft des Familienbandes, um so stetiger erweiterte sich dasselbe zu den größern Bürgschaften der Gemeinde, des Gaues, des gesamten Volksstamms. Bei den Dithmarsen, die bis in späte Zeit ihre Volksfreiheit behauptet, bestand noch im sechzehnten Jahrhundert die Einteilung in Geschlechter (Schlachten, Klufte), deren Mitglieder in Lieb und Leid, in Eid und Blutrache sich auf alle Wege zu vertreten hatten. Überhaupt haben auch die größeren Vereinigungen, bis zu der Gesamtbürgschaft unter allgemeinem Volksrecht und Gerichte, sich nicht etwa bloß nach Ähnlichkeit des Familienverbandes ausgebildet, sondern diesem selbst wurden fortwährend seine unmittelbarsten Befugnisse belassen. Die ältern germanischen Rechte, wie sie besonders zur Zeit der fränkischen Herrschaft aufgezeichnet worden, gestatten bei gröbern Friedensbrüchen dem Verletzten und seiner Verwandtschaft noch immer die Wahl zwischen Klage und Selbsthilfe oder Selbstrache; ein solches Fehderecht besteht das ganze Mittelalter hindurch, und im Gerichtswege selbst, wie er durch Landrechte und Weistümer bestimmt ist, bleiben die alten Blutsrechte in der Klage auf Wehrgeld und der Eideshilfe durch die Gesippten anerkannt.
Das andere der beiden Grundverhältnisse, die Richtung auf Fahrt und Eroberung, hat ihre älteste Form in der Gefolgschaft, Abkömmlinge der edelsten Geschlechter umgaben sich, nach Tacitus, mit einer Schar erlesener Jünglinge, denen sie Nahrung, Roß und Waffen reichten und deren Unterhalt sie, wenn die Anzahl groß und daheim langer Friede war, nur dadurch aufzutreiben vermochten, daß sie dieselben auswärts auf Krieg und Beute führten. Ein solches Gefolge hatte seine Abstufungen; alle wetteiferten, wer dem Führer am nächsten stehe; er selbst rang mit ihnen um den Preis der Tapferkeit; seinem Ruhm auch ihre Taten beizuzählen, ihn zu schützen und zu schirmen, war ihre heiligste Pflicht, ehrlos für immer, wer ihn überlebend aus der Schlacht gekehrt ( Germ. K. 13. 14). Dieser einfachen Anlage war ein unbegrenzter Spielraum eröffnet in jener großen Bewegung, welche die Völker aus ihren Wohnsitzen aufrüttelte, in den Heereszügen, die Jahrhunderte hindurch von einem Ende Europas zum andern drängten. Aus der Gefolgschaft erwuchs in den bewältigten Ländern Königsgewalt und Mannendienst. Wie in der Richtung nach innen das Landrecht, so entwickelte sich in dieser erobernden das Lehenrecht. Fortwährend begünstigt durch den kriegerisch unternehmenden Geist des Mittelalters, erreichte sie ihr Äußerstes, indem sie das Deutsche Reich zu einem vollendeten Lehnstaat umschuf. Aber sie verleugnet nicht die Beziehung auf die Bande des Bluts.
Die besondere Schutzpflicht, welche das Gefolge seinem Häuptling schuldig war, die Ächtung derjenigen, welche seinen Fall überlebten, entsprechen den Bürgschaften des Familienvereins. Verschiedene Arten der Bluts- und Waffenbrüderschaft traten hinzu und sollten ganz die Stelle der angeborenen Verwandtschaft ersetzen. Der Lehensherr und die Mannen, die unter und mit ihm zu einem Lehenhofe vereinigt waren, bildeten eine Genossenschaft, die nach Art eines Geschlechts in sich verbunden und verbürgt war. Der Schlußstein jeder solchen Verbürgung, Recht und Pflicht der Blutrache, kann auch der Gefolgschaft und ihren Entwicklungen ursprünglich nicht gemangelt haben, und es ließen sich darüber bestimmte Nachweisungen geben. Selbst die eigentlichen Blutsbande fehlen nicht, denn je mehr im Zeitverlaufe Lehenbesitz und Dienstpflicht stetig und erblich wurden, um so vielfacher die engere Befreundung durch Heirat und durch Übertragung der Lehen auf Anverwandte; Mannschaft und Magschaft werden daher so häufig recht im Anklange zusammengenannt. Durchaus reiht sich auch im Lehenverbande je ein lebendiges Glied an das andre. Eben darum aber konnte durch das Lehenwesen niemals eine feste Staatsverfassung begründet werden, in deren Begriff es liegt, daß jeder einzelne dem Ganzen diene. Die Verkettung ging über ihren Grundsatz hinaus, sie war zu ausgedehnt, um noch lebendig fühlbar zu sein, und die Kraft der einzelnen, näheren Gliederungen war größer, als die des allgemeinen Zusammenhangs; sie schwächte diesen und hob ihn oft gänzlich auf. Der Feudalkaiser, an der Spitze des Ganzen, wurde dessen niemals mächtig und seine Hauptstärke lag in seinen unmittelbaren Lehensverbindungen. Die religiöse Idee des Kaisertums trat zu wenig in die Wirklichkeit, um die fehlende Kraft der Einigung zu ersetzen; sie vermochte nicht, die Gegenwirkungen des germanischen Lebenstriebes zu bemeistern.
Je weniger in den allgemeinen Einrichtungen Gewähr der Sicherheit lag, um so fester mußten die Glieder der besonderen Genossenschaften sich zusammenschließen. Hier allein war Schutz und Anhalt in so stürmisch bewegter Zeit. Hier wurden Not und Neigung, Liebe und Pflichtgefühl, Blutsband und Wahlverwandtschaft, Gewohnheit und bewährtes Vertrauen mannigfach und unauflöslich verflochten. Der Inbegriff aber all dieser leiblichen und geistigen, natürlichen und sittlichen Bindmittel ist die Treue; in ihr erkennen wir die beseelende und erhaltende Kraft des germanischen Lebens.
Das allgemeine Gebot der Treue, sich wechselseitig zu vertreten und zu unterstützen, äußert sich nach der Natur jeder Genossenschaft und dem jeweiligen Bedürfnis ihrer Glieder auf sehr verschiedene Weise. Wenn dithmarsische Bundbriefe die Verbindlichkeit auflegen, dem verunglückten Genossen das abgebrannte Haus wieder unter Dach zu bringen oder den gebrochenen Deich herzurichten, dem Erkrankten den Acker zu bestellen und die Ernte einzusammeln, so enthalten die Lehenssatzungen die ritterliche Mannenpflicht, den Herrn nicht im Kampfe zu verlassen, bei Verlust des Lehens, ja ihm, wenn er in Gefahr ist, statt des verlorenen Pferdes das eigene abzutreten, ganz entsprechend der vorerwähnten Verpflichtung des altgermanischen Gefolges. Von den Hilfleistungen und Liebesdiensten jener mildern Art steigt die Treuepflicht an bis zu den strengsten der Fehde und der Blutrache.
Das Sicherheitsgefühl des einzelnen beruhte vorzüglich darin, daß jeder Angriff auf ihn zugleich seine Blutsverwandten oder sonstigen Genossen verletzte und aufrief; der Erschlagene selbst lag nicht eine vergessene Leiche, er lebte fort in der beleidigten Genossenschaft, bis sein Fall vergolten war; seinen Harnisch und mit diesem die Rachepflicht übernahm der nächste Erbe gleich als erstände der Tote selbst in seinen Waffen. Lex Anglior. et Werinor. Tit. 6. De Alodibus: Ad quemcumque hereditas terræ per pervenerit, ad illum vestis bellica, id est lorica, et ultio proximi, et solutio leudis, debet pertinere. Der gewaltsame Tod eines einzigen Mannes wucherte fort in blutiger Fehde der Geschlechter und Landsmannschaften. Davon sind die nordischen Geschichtsagen voll, und die gleiche Erscheinung zeigt sich bei den deutschen Stämmen, welche das altgermanische Wesen am treuesten bewahrt haben. Ein Beispiel der ostfriesischen Geschichte des zwölften Jahrhunderts führte von der Bahre eines Erschlagenen, durch stufenweises Anschwellen einer zwanzigjährigen Fehde zwischen Ostringern und Wangerländern und ihren beiderseitigen Verbündeten, zuletzt auf Schlachtfelder, wo Hunderte und Tausende gefallen sein sollen. Wiarda, Ostfriesische Geschichte I, 160 ff. Das deutsche Recht suchte den Gewalttaten zu steuern, indem es Bußen festsetzte, welche der Beschädigte oder seine Angehörigen einzuklagen, der Täter und die Seinigen zu bezahlen hatten. Die wichtigste derselben war das Wehrgeld, die Buße für den Totschlag; Todesstrafe, überhaupt körperliche Bestrafung, den germanischen Völkern nur für einzelne Ausnahmefälle erhört, kam erst nach Einführung des Christentums allmählich bei ihnen auf. Die Bußen erscheinen bereits bei Tacitus und im nordischen Mythus und sind überall in den ältesten Gesetzen mit großer Genauigkeit bestimmt und abgestuft. Die Lösung der Asen durch Füllen und Hüllen des Otterbalges mit Gold ist als eine Getreidebuße nachgewiesen, von der noch in sächsischen Bauernweistümern Spuren übrig sind, nur daß die Fabel Gold statt des Weizens ausschütten läßt. (Grimm, Rechtsaltertümer S. 668 - 75. Aber die Rechtshilfe durch Bußen war schon dem Grundsatze nach sehr unzureichend, sie konnte den Frieden nicht sichern, sie machte ihn nur möglich. Denn es stand bei den Beleidigten, ob sie durch Klage oder durch Fehde Genugtuung suchen wollten, und der Beleidiger hatte die Wahl, vor Gericht oder auf dem Kampfplatz sich zu verteidigen. Die Mordklage selbst noch war von kriegerischer Art, der Kläger auf Wehrgeld erschien in den Waffen, bereit, an dem widerspenstigen Gegner gewaltsame Genugtuung zu nehmen, den leugnenden im Gerichtskampfe zu überweisen. Überhaupt aber wurde in der Gesinnung der Wehrhaften die Fehde dem Abkommen auf das Wehrgeld vorgezogen. Es gab solche, die sich rühmten, niemals zur Bezahlung einer Buße sich verstanden zu haben; noch mehr aber galt es für fromm und ehrenvoll, Rache statt der Buße zu nehmen. »Ich will meinen Sohn nicht im Beutel tragen,« sprach ein isländischer Greis, als ihm Buße für den erschlagenen Sohn geboten ward; ei nahm lieber den edlen Ausweg, dem flehenden Totschläger Wohltaten zu erweisen. Der dänische Geschichtschreiber Saxo, ein christlicher Priester nach der Mitte des zwölften Jahrhunderts, gibt bei Anlässen, die ihm seine Erzählung zahlreich darbietet, offen genug zu verstehen, daß er die Verwandtenrache für rühmlich ansehe. Wenn dagegen, ein Jahrhundert später, der Bruder Berthold eifrig wider dieselbe predigt, so zeigt er nur, wie fest diese Sitte noch damals im Sinne des deutschen Volkes begründet war. Es ist auch nicht zu mißkennen, daß sie, so blutig ihre Früchte waren, doch in der tiefsten Treue selbst ihre mächtige Wurzel hatte. Wehrgeld und Blutrache bei nichtdeutschen Völkern; bei den Griechen, Jl. IX, 632–36. XVIII, 497–500. Od. III, 196–8. XV, 272. XXIII, 118–22, XXIV, 433–5. 470. Jl. II, 262 f.; Geschlechter stehen in der Schlacht beisammen. VI, 58. 61: Auch das Knäblein im Mutterschoße nicht verschont, vgl. XXII, 63 f. Bei den Serben, Talvj I. 279. Bei den Montenegrinern, Wila II, 263 f. Bei den Russen, v. Eggers, Altrussisches Recht. Die schottischen Clane, vgl. Minstrels I, LXX f. 290 f.
Wenden wir uns von diesem Blick auf das germanische Leben zu dem Ausdruck desselben in den Heldenliedern, so bemerken wir leicht, daß in ihnen sich vorzugsweise diejenige Seite des Lebens ausgeprägt, deren älteste und einfachste Erscheinung wir in den Gefolgschaften kennen gelernt haben. Schon der geschichtliche Bestandteil der Lieder gehört den Zeiten der Völkerzüge, der wechselvollen Gestaltung germanischer Königreiche in den eroberten Ländern an. In diese Richtung fällt überhaupt das gewaltigere, bewegtere Leben, dessen Wellenschlag im Liede tönt; wo das Heldentum selbst, da ist der Ursprung des Heldenliedes. Die Eroberung ist über ganz Europa geschritten. Die kriegerische, feudalistische Richtung hat auch in der Wirklichkeit die Oberhand gewonnen und durch die Jahrhunderte, in welchen der Heldensang geblüht, ihre Herrschaft ausgebreitet und festgepflanzt. Aber diese Poesie ist nicht in der Art einseitig geworden, daß sie der künstlicheren Abgemessenheit des Lehenwesens sich hingegeben hätte; sie hat sich ihre frische Volkstümlichkeit bewahrt, indem sie aus den verschiedenen Zeiten und Bildungsstufen, die sie durchzogen, nur das Gemeingültige in sich aufgenommen, indem sie noch überall die ursprünglichen Grundformen durchschauen läßt und an den natürlichen, einfach menschlichen Verhältnissen festhält. Die Treue, der Grundtrieb des germanischen Lebens, ist darum auch die Seele der Lieder; sie erscheint hier in ihrer vollen Stärke und Wahrheit, in ihren mildesten, edelsten Äußerungen, wie in den gewaltsamen der Blutrache, denn was die Zeit so mächtig und leidenschaftlich aufgeregt, dem konnte auch in der Poesie seine Geltung nicht entstehen.
Der dichtende Geist ist sich der Grundbestimmungen des Lebens, das er darstellt, auch nur in ihrer vollen, lebendigen Erscheinung bewußt. Diese ungeteilte Auffassung des Lebendigen ist am meisten denjenigen Zeitaltern eigen, in welchen alle geistigen Vermögen noch einzig und ungeschieden in der Poesie gesammelt sind. Die Hauptverhältnisse des Lebens treten daher durchaus in bestimmten Gestalten hervor: soferne aber diese nicht absichtlich erlesen sind, die Träger der Begriffe zu sein, sondern aus der Anschauung ins Gedicht übergehen, behaupten sie, neben der allgemeinen Bedeutung, ihren Anspruch als selbständige Charaktere. Die vorangestellten Andeutungen über das Wesen unsrer Lieder und ihren Zusammenhang mit dem Leben können daher nur dadurch vollständig erläutert und bestätigt werden, daß wir die Hauptcharaktere derselben, bald in Klassen aufgefaßt, bald einzeln hervorgestellt, wie es die Lieder selbst ergeben, der Reihe nach aufführen und beleuchten. Das Grundverhältnis der Gefolgschaft unterlegend, stellen wir uns die Helden um ihren König, den Herrn des Gefolges, im Kreise versammelt vor.