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Ich habe ein Wort mit euch zu reden, ihr, die ihr die Herren und Meister seid. Unser Ja von heute ist kein ewiges Ja. Unser Ja von heute gilt nur für heute. Der morgige Tag erfordert sein eigenes Ja. Wir streikten. Wir verlangten mehr Lohn und weniger Arbeitszeit. Ihr sagtet Nein. Und so mußten wir mit euch darum kämpfen. Wir haben gekämpft und gewonnen. Ihr habt uns zehn Prozent geben müssen. Wir haben euch gezwungen, euch mit acht Stunden zu begnügen. Nun sind wir wieder an der Arbeit. Nun sagt man von uns, wir seien zufrieden. Täuscht euch nicht. Dies ist kein Friede. Dies ist nur Waffenstillstand. Jeder Prozentsatz unter hundert Prozent bedeutet nur Waffenstillstand. Nur hundert Prozent bedeutet Frieden. Wir haben eine weite Reise angetreten. Manche von uns, manche von euch nennen sie einen Feldzug. Jedenfalls geht die Reise weit. Wir müssen uns dann und wann ausruhen. Die Ruhepunkte sind der Waffenstillstand. Fünf Prozent bedeutet Vergleich. Für fünf Prozent Nahrung ist nicht so gut, wie für zehn Prozent Nahrung. Aber es genügt, um Leib und Seele beisammen zu halten. Wir nehmen, was wir bekommen. Wir geben nach. Wir machen Zugeständnisse. Wir schließen Vergleiche. Wir bewahren unsre gute Laune. Doch während sich der Magen auf einen Waffenstillstand einläßt, ist die Seele auf völligen Frieden aus. Der Friede ist in weiter Ferne. Wir sehen ihn nur undeutlich. Aber wir sehen ihn. Wenn ihn das Fleisch aus den Augen verliert, so entdecken die Augen des Geistes ihn wieder. Er leuchtet heller als eine Sonne. Er erscheint zauberhafter als ein Traum. Aber er ist da. Wir sind bekümmert. Wir schleichen abends müde nach Haus. Doch wir sehen die Leuchte. Sie ist weit weg. Hunderte von uns werden stranden, ehe das Ziel erreicht ist. Doch was schadet es? Das Opfer lohnt sich. Niemand wird dorthin gehen, weil er sich fürchtet. Niemand wird dorthin gehen, weil es ihm Freude macht. Die Menschen werden dorthin gehn, weil das Licht dort ist. Sie werden zum Licht gehn, wie sie essen gehn. Ja, wie sie schlafen gehn. Ja, wie sie das Leben wieder aufnehmen, wenn der Morgen kommt. Darum werden sie zum Ziele gelangen. Wenn der Kampf zu verlieren wäre, weil die Menschen feig, oder obwohl sie tapfer sind, so gäbe es weder Sieg noch Verlust. Einmal auf dem Marsch fliehen wir nicht mehr. Vielleicht weichen wir gelegentlich zurück. Aber zurückweichen heißt nicht fliehen. Strategie kann uns zurückweichen heißen. Oft sind wir am gefährlichsten, wenn wir zurückweichen. Dort im Hintergrund finden wir frischen Mut. Dort, wo ihr uns nicht sehen und hören könnt, beratschlagen wir und bereiten uns auf einen stärkeren Angriff vor. Durch falsche Zeichen lassen wir uns nicht irreführen. Zehn Prozent bereden und betrügen uns nicht. Wir haben Augen, die durch alle zehn Prozent hindurchschauen zu weiteren zehn Prozent. Und dann, hinter all den Zehn, sehen wir die Hundert. Die Hundert sind das Ziel. Wir hungern und dürsten für die Hundert. Wir sterben für die Hundert. Ihr findet uns überall auf euren Straßen verhungert und verwesend. Geht ihr abends zu Bett in der Hoffnung, daß Verwesung Niederlage bedeute? Ihr habt die Leichen auf dem Weg ihrem Schicksal überlassen. Aber die Idee lebt weiter. Meint ihr, meine leiblichen Augen werden sich am Stern des Ideales einer fernen Zukunft? Wäre ich auf meine leiblichen Augen angewiesen, so hätte ich den Weg schon längst verloren. Es ist die Idee, die sieht und gesehen wird. Es ist die Idee, die Vergleich gegen Vergleich tauscht und auf einem endgültigen Austrag besteht. Der endgültige Austrag bedeutet Frieden. Friede heißt Hundert Prozent.
Das ist alles sehr roh. Es sieht gerade aus, als hielte ich euch eine Wage mit Bäuchen vor die Augen. Und ihr seid so geistig. Ihr fragt, was der Lohn mit dem Glück zu tun habe und mit der Tugend und mit den heiligeren Interessen der Seele. Schon wahr. Was denn auch? Und wenn Reichtum mit Glück, Tugend und Seele nichts zu tun hat, warum besteht ihr darauf, euch alles anzueignen? Wenn die Menschen ebensogut ohne als mit Reichtum leben können, warum kämpft ihr bis aufs Messer, euch euren Besitz zu erhalten? Vielleicht ist es nicht richtig, daß wer die schönen Dinge der Welt produziert, auch die entsprechenden Vorteile sollte genießen dürfen. Aber gerade so wenig ist es richtig, daß wer nichts tut, solche Wunder zu produzieren, das Eigentum der Gesamtheit plündern darf. Vielleicht ist Geben besser als Nehmen. Doch wer nimmt, sagt sich schwerlich, daß Geben besser ist als Nehmen. Wir führen unsrem Schmarotzer ein paar schreckliche Kontraste zu Gemüte. Wir erinnern ihn daran, daß es besser ist, dem Mann, der schwer dafür gearbeitet hat, zehn Taler zu geben, als einen Taler für ungetane Arbeit zu nehmen. Indem wir die zehn Prozent aufeinander häufen, erinnern wir ihn daran, daß genügend Zehn Hundert ausmachen. Wir erinnern ihn daran, daß Zehn vielleicht Waffenstillstand bedeutet, daß aber zum Frieden die vollen Hundert erforderlich sind.
Nun höre ich euch fragen, was aus euch werden solle, wenn die andern die Hundert erhalten. Das ist schon alles bedacht. Wir haben euch nicht vergessen. Durchaus nicht. Ihr sollt nicht weggeworfen werden. Für euch ist gesorgt. Eure kleinen Klassen werden alle zu einer großen vereinigt. Wir werden euch besser behandeln, als ihr uns. Wenn bei uns nichts mehr zu holen war, so warft ihr uns auf die Straße. Ihr überließt uns der Schande und Not. In unsrer Philosophie aber gibt es kein Draußen. Ihr werdet sehen, daß euch getan wird, was ihr den andern nicht tun wolltet. Oder vielmehr, ihr werdet sehen, daß euch das getan wird, was unter eurem barbarischen System kein Mensch dem andern tun konnte. Ihr nehmt eure Rechentafel und überzeugt euch davon, daß die Hundert Prozent euch von eurem Platze wegdrängen. Sie drängen euch von einem Platz weg, der euch nicht zukommt. Doch weisen sie euch zugleich eine Stelle an, wo ein edleres Leben möglich ist.
Ihr zittert, wenn ich von Waffenstillstand rede. Waffenstillstand erinnert euch an vergangene und künftige Schlachten. Doch gibt es noch schlimmere Dinge. Lieblosigkeit ist schlimmer als Waffenstillstand. Euer Friede ist schlimmer als unser Vergleich. Ich sage nicht, Vergleich sei das beste. Ich sage, er sei etwas Besseres. Aber Vergleich ist nur Kompromiß. Friede ist das Ziel. Wir verlangen nicht von einander, daß wir zu zehn Prozent gut seien, sondern daß wir gut seien. Wir erwarten nicht immer die hundert Prozent; doch arbeiten wir darauf hin. Wenn du in feindlicher Absicht auf mich losgehst, und ich protestiere; wie wäre es dann, wenn du sagtest: »Zehn Prozent meiner Absichten will ich bessern. Aber die übrigen neunzig mußt du dir gefallen lassen«? Ich glaube, ich müßte wohl nachgeben. Deine Karten sind gesteckt. Deine Fäuste geballt. Ich könnte nur gute Miene zum bösen Spiel machen und den Einsatz bezahlen. Aber wenn du mit deinen verderblichen neunzig Prozent neunzig Prozent meines Schlüsselbeins zerschlagen hättest, würde der Rest meines Körpers den Kampf wieder aufnehmen.
Unter solchen Bedingungen läßt sich der Waffenstillstand mit dem Frieden vereinen. Mit solchem Vorbehalt werden die zehn von den hundert Prozent angenommen. Die Zehn sind wund von Kopf bis zu Fuß. Aber ihre Wunden sind heilig. Die Zehn sehen nichts und hören nichts als die Hundert, nach welchen sie hinstreben. Jeder Prozentsatz unter hundert bedeutet Waffenstillstand. Nur hundert Prozent bedeuten Frieden. Das ist das Wort, das ich euch zu sagen habe, euch, die ihr die Herren und Meister seid.