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Wenn alles andre bezahlt ist.

Wenn man an alles andre gedacht hat, dann denkt man auch an den Arbeiter. Wenn jedes andre Verdienst gewürdigt ist, wird auch das seine gewürdigt. Wir sorgen uns um unsre Jachten, um unsern Luxus in Essen und Kleidung. Um die Sommerreise und die Wintersaison in der Stadt. Und wenn wir uns um alles gesorgt haben, denken wir auch an den Arbeiter. Wir stellen alles andere sicher, ehe wir ihn sicherstellen. Ihn vertrösten wir bis auf die letzte Stunde. Er wird so lange hingehalten, bis wir keinen Anlaß mehr finden, ihn hinzuhalten. Warum sollten wir mit ihm rechnen? Er honoriert all unsre Wechsel mehr als bereitwillig. Warum sollten wir die seinen honorieren? Er präsentiert uns ja nicht einmal Wechsel. Er bittet uns entblößten Hauptes um Vergünstigungen. Und wenn uns noch etwas übrig bleibt, nachdem wir alle Vergünstigungen vergeben haben, lassen wir ihm die Ueberbleibsel zukommen. Wir vergessen ihn, bis wir jeden andern Bittsteller bedacht haben. Die Brotkrumen und Rinden kann er haben. Wenn die Gäste fort sind, kann er kommen und sich mit den Resten abfinden. Er deckt den Tisch. Er schafft die Speisen herbei. Aber mitessen darf er nicht. Er würde sich nicht gut ausnehmen. Er hat schmutzige Hände und Flecken am Rock und weiß sich nicht zu benehmen. Wir könnten ihn nicht mit der Elite verkehren lassen. Die Elite verdankt ihm ihr ganzes Wesen. Wenn er nicht wäre, so hätte die Elite keine Zeit und Gelegenheit, Lebensart zu studieren. Doch das macht nichts aus. Er ist ein Hund. Er soll nur draußen bellen, aber ja nicht während des Festes hereinkommen. Er hat seine Hütte. Ihm gehören die Brocken. Man kann ihn vielleicht später hereinlassen, damit er sie hole, oder kann er auch draußen im Hof warten, bis man sie ihm zuwirft. Auf diese Weise zahlen wir der Arbeiterschaft unsre Schuld. Unsre früheste Schuld. Die allererste Schuld, die ganz zuletzt bezahlt wird. Nun, Arbeiter, wie gefällt euch das? Es scheint mir, daß euch das ganz gut gefällt. Ihr könntet es ja jederzeit anders machen. Aber das tut ihr nicht. So seid ihr also zufrieden. Wenn ihr eure Rechnung vorlegt, wird sie bezahlt werden. Aber solange ihr damit wartet, werden euch die Herren nicht aufsuchen. Ihr traut eurer eigenen Sache nicht. Wenn ihr überhaupt eine Rechnung vorlegt, so ist sie nur halb fertig, und auch dafür entschuldigt ihr euch noch. Aber warum solltet ihr denn nicht die ganze Rechnung vorlegen? Nicht für Löhne. Sondern für das nächste Besitztum. Für Eigentumsrecht. Für Freiheit und Leben. Für Platz und für gute Luft zum Atmen. Für anständige Wohnung und Kleidung. Für weniger Arbeit für euch selbst und eure Frauen. Für Rücksicht auf die Kinder. So müßt ihr eure Forderungen stellen. Lohn habt ihr lange genug gehabt. Sogar ziemlich guten Lohn. Es gibt überhaupt keinen guten Lohn. Das Lohnsystem selbst ist ein Uebel. Erhebt die Anklage. Erhebt sie mit lauter Stimme. Ja, in derben Worten. Laßt die Höflichkeit ganz beiseite. Die kommt später von selbst. Man wird euch hören. Die falschen Gäste zerstreuen sich. Ihr nehmt ihre Plätze ein. Warum solltet ihr so verflucht bescheiden sein? Warum solltet ihr hungern, bis wir genug haben? Warum solltet ihr frieren, bis wir gekleidet sind? Wenn ihr nicht wäret, so wäre für niemand gesorgt. Warum solltet ihr dann zögern, mit den ersten hereinzukommen und euren Anteil am allgemeinen Gut in Empfang zu nehmen? Ihr braucht ihn. Er gehört euch. Nehmt ihn. Nehmt nicht bloß Stückchen davon. Nehmt das Ganze. Laßt euch nichts abziehn. Alles gehört euch. Laßt nichts zwischen euch und euren Anteil kommen. Hört ihr das Schreien eurer Kinder nicht? Und das Weinen eurer Frauen? Seid ihr nicht selbst aus Mangel an Nahrung entkräftet? Sorgt ihr euch nicht jeden Abend um den nächsten Morgen und jeden Morgen um den Abend? Sorgt euch nicht mehr. Nehmt, was euch gehört.

Ich habe die Frage an euch gestellt: Warum laßt ihr euch beiseite schieben? Nun stelle ich eine andre Frage an euch: Warum schiebt ihr euch selbst beiseite? Denn wenn die Herren alle andern Rechnungen bezahlen, ehe sie die eure bezahlen, so ist es eben doch, weil ihr euch habt hintansetzen lassen. Warum solltet ihr überhaupt Herren haben? Warum solltet ihr am Straßenrand stehen und den Herren die Mitte überlassen? Warum solltet ihr das Meer für ihre Jachten freigeben? Warum solltet ihr ihren Equipagen ausweichen? Warum solltet ihr eure Kinder aus der Schule tun, um die Kinder der Reichen ausbilden zu lassen? Seht auf die Uhr. Es wird schon spät. Es ist an der Zeit, daß ihr handelt. Wenn eure Herren die Pacht wollen, so zahlt ihr. Wenn sie den Zins für ihr Geld wollen, schlottern euch die Knie. Wenn sie an ihren Waren Profit machen wollen, so gebt ihr euren letzten Pfennig her. Warum tut ihr das? Die Pacht, der Zins, der Profit gehört euch. Und doch zahlt ihr ihnen alles. Wollt ihr euch ewig nasführen lassen? Ihr habt es euch so angewöhnt, euch zu bescheiden, daß ihr euch jetzt alles gefallen laßt. Die Herren treiben ihre Forderungen mit so leichter Mühe ein, daß sie gar nicht daran denken, sie zu ermäßigen. Eure Bescheidenheit ist ihre Einnahmequelle. Der Herr ruft: Sklave! und ihr antwortet: Hier! Der Herr befiehlt euch, daß ihr euch ducket. Ihr fallt auf die Knie. Er braucht euch keine Ungerechtigkeit zuzufügen. Ihr tut euch selbst soviel Unrecht an, daß ihr ihm die Mühe erspart. Er befiehlt euch, daß ihr euch selbst für ihn prügelt. Und ihr prügelt euch selbst. Er gibt euch alle Waffen der Unterdrückung in die Hände. Und ihr unterdrückt euch selbst. Einst, werdet ihr es lernen, diese Waffen am richtigen Platz zu gebrauchen. Doch ihr lernt langsam. Die Schule ist hart. Eure Erfahrung kennt erst Eine Jahreszeit. Den Winter. Die Höhe ewigen Schnees. Weiß Gott, ich verachte euch. Weiß Gott, ich liebe euch. Ich rufe euch laut zu. Ich rede euch flehentlich zu. Ich nehme euch in meine Arme. Ich versuche, euch die Augen zu öffnen. Ich hasse euch aus ganzer Seele. Ich liebe euch von ganzem Herzen. Ich will euch zu eurer eigenen Größe emporwachsen sehen. Ich will euch so gerecht sehen, daß ihr euch selbst gerecht werdet. Ich will euch so rein waschen, daß ihr den ehrlichen Schmutz eurer Hände als heilig erkennt. Ich will, daß ihr aufhöret, euch von andern verdrängen zu lassen. Ich will, daß ihr aufhöret, andere zu verdrängen. Ihr bleibt im Hintergrund, bis alles andere bezahlt ist. Ich will es erleben, daß alles andere im Hintergrund bleibt, bis ihr bezahlt seid. Bezahlt? Ja. Aber nicht von den Herren. Von euch selbst. Kein Mensch kann einen andern zum Zahlmeister haben als sich selbst. Jeder Mensch kann sein eigener Zahlmeister und Zahlsklave sein. Aber kein Mensch will zusehen, wie der Luxus den geweihten Gehalt seiner Arbeit verschwendet. Der Arbeit, die sein Leib ist und seine Seele.

Meine Brüder, ihr habt keine Selbstachtung. Das ist euer Fehler. Wenn ihr die rechte Selbstachtung besitzt, so werdet ihr niemandem nachstehen. In dieser Welt, bei der Arbeit dieser Welt, bei der Gerechtigkeit dieser Welt sollte es keinen Rangunterschied geben. Es sollte kein Erst und Letzt, es sollte nur Seelen geben. Die Welt wird nicht aus Arbeitern und anderen Leuten bestehen. Es wird keine »anderen Leute« geben. Die Erzeugnisse der Welt werden nicht in Profite und Löhne verteilt werden. Wenn die Löhne erhalten, was ihnen zukommt, wird für Ausbeutung kein Raum mehr sein. Wann werden die Löhne erhalten, was ihnen zukommt? Wenn ihr zum Selbstbewußtsein gelangt. Wenn ihr wißt, was euch gehört. Mein Gott! Seht ihr nicht, liebe Brüder? Das Problem ist so einfach. Ihr seid so schwierig. Ich sehe euch die Asche nach Kohlen durchsuchen. Um Nahrung betteln. Miteinander um Arbeitsgelegenheit streiten. Ausgeschlossen von allem Behagen. Im Winter erfrieren. Im Sommer verbrennen. Ungebildet. Beschäftigt ohne Muße, oder feiernd ohne Arbeit. Den Tag fürchten. Die Ehe fürchten. Sogar die Liebe fürchten. All das, meine Brüder. Und warum? Ihr seid selbst daran schuld. Wollt ihr noch lange so weitermachen? Schwört, daß ihr's nicht wollt! Spiegelt euch in eurer Selbstachtung. Lernt eure Gestalt und Größe besser kennen. Dann handelt so, wie Männer von solcher Gestalt und Größe handeln sollen. Geht zu den Herren und verkündet den neuen Beschluß. Laßt euch keinen Tag mehr beiseite schieben. Nehmt euren Platz ein. Haltet euch dort. »Geht zu euren Herren,« sagte ich eben. Jetzt sage ich: »Geht zu euch selbst.« Denn ihr selbst seid eure Herren, oder es gibt keine Herren. Laßt eure Rechnung die erste sein. Die ganze Rechnung. Weicht nicht von der Stelle, bis sie bezahlt ist. Was ist denn noch zu bezahlen, wenn eure Rechnung bezahlt ist? Nichts. Denn eure Rechnung ist die volle Rechnung des Lebens, der Seele.


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