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Immer vor allem.

Ich kann warten.
Die Welt hat lange auf mich gewartet, ich kann auf die Welt warten,
Die Gerechtigkeit hat lange auf mich gewartet, ich kann auf die Gerechtigkeit warten,
Die Liebe hat lange auf mich gewartet, O, solcher Liebe Leidensliebe,
      und ich kann auf die Liebe warten, O, solcher Liebe Leidensliebe!
Ich kann warten, O herrliche Gewißheit – Ich kann warten,
Warten, solange alles verkehrt ist, bis alles recht wird,
Warten, solange der Tod Leben zeugt, bis das Leben den Tod zeugt,
Warten, solange die Menschen weinen, bis die Menschen lachen,
Ich kann warten, ich kann warten, ich kann warten,
Und lieben im Warten.

 

Immer vor allem.

Immer vor allem kommt die Gerechtigkeit und die Liebe. Nicht die Speise, die du ißt. Nicht die Kleidung, die du trägst. Nicht der Luxus, den du genießt. Sondern Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeit muß alles andere nachstehn. Du hast ein Handwerk und meinst, dein Handwerk komme vor der Gerechtigkeit. Du bist Geschäftsmann und meinst, das Geschäft gehe der Gerechtigkeit vor; ja auch der Liebe. Du übst einen Beruf aus: dein Beruf geht der Gerechtigkeit vor. Verhängnisvoller Irrtum! Gerechtigkeit kommt zuerst. Gerechtigkeit steht allen Lebensäußerungen voran. Gerechtigkeit ist die einzig gültige Lebensbezeugung. Jeden anderen Anspruch magst du erfüllen. Doch fürs Leben ist nichts getan, bis die Gerechtigkeit erfüllt ist. Du hast dein Leben geregelt und keinen Raum gelassen für die Gerechtigkeit. Alle Einzelheiten hast du erwogen, aber das Ganze nicht. Die Gerechtigkeit hast du vergessen oder verleugnet. Und Gerechtigkeit kommt immer vor allem. Nur in der Gerechtigkeit ist alles beschlossen. Ihre Sprache allein ist der ganzen Menschheit verständlich. Was weniger als Gerechtigkeit ist, heißt Kompromiß, Abfindung oder Flucht. Der Menschengeist schuldet sich selbst ein Höchstes: die Schuld der Gerechtigkeit. Sie ist die Vorsehung der Gemeinschaft. Schau dich nach Gerechtigkeit um: wo Gerechtigkeit ist, da siehst du keine Herrscher, keine zinstragenden Pfandbriefe, keine pachtbringenden Grundstücke, keine proviteinstreichenden Krämer. Du siehst Menschen, die Ueberschüsse und Prämien verschmähen. Du siehst Menschen, die es verschmähen, andere zu Sklaven ihres Talentes zu machen. Die Gerechtigkeit erklärt, daß das Talent nicht kaufen und verkaufen soll. Sie gewährt ihm ein einziges Vorrecht: Unterordnung. Nicht dem einzelnen gehört das Talent; es gehört allen. Gerechtigkeit kommt vor allem. Sie stellt die Menschen einander gleich. Sie erhält die Menschheit in stetigem Einvernehmen mit sich selbst. Sie sanktioniert die Ganzheit des Lebens, nicht die Vereinzelung. Das Beste an dir ist in höherem Sinne Gemeingut der Menschheit. Ich kann meine persönlichen Gaben nicht trennen von dem unpersönlichen Schatz, von der Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit kommt immer vor allem. Ich weiß, was die zünftigen Logiker sagen: Gerechtigkeit ist nicht Logik. Was der Prediger sagt, wenn er in seiner Gemeinde dem Geld gegenübersteht: Gerechtigkeit ist nicht Religion. Was die Staatsmänner im Ministerrat sagen: Gerechtigkeit ist nicht Politik. Und wenn mich der Arzt mit Arzneien stopft, sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Medizin. Und wenn der Künstler ein Bild malt, des Ruhmes oder des Geldes wegen, so sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Kunst. Und wenn der Dichter seine Verse einem Gönner widmet, so sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Poesie. Und wenn der Advokat in seinem Schriftsatz lügt, so sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Gesetz. Und wenn der Händler seinen Profit einsackt, so sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Geschäft. Und wenn der Hausherr einen Mieter auf die Straße setzt, so sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Miete. Und selbst wenn der Arbeiter seinen Lohn holt, sagt er: Gerechtigkeit ist nicht Lohn. Und so haben wir das Leben zu einem Handelsgeschäft erniedrigt. Alle geben nicht Leben um Leben, daß ein jeder sein Ganzes gäbe für das Ganze des andern. Jeder schachert vielmehr mit dem Leben, so gemein er kann, daß er soviel wie möglich daraus ziehe für möglichst geringe Gegenleistung. Und dieses Verfahren ist die Regel in Rechtswesen, Religion und Kunst. Das nennt die Welt Logik. Das nennt die Welt Rechtlichkeit. Und wenn ich daher komme, nach Gerechtigkeit rufend, um Gerechtigkeit weinend, das Herz von Kummer beschwert, da ich nirgends Gerechtigkeit sehe; das Herz von Hoffnung geschwellt, da ich ihres Kommens gewiß bin – so stürzt sich alles auf mich, meine Logik niederzuschreien. Der Priester verfolgt mich und der Staatsmann und der Dichter und der Künstler. Alle Käufer und Verkäufer verfolgen mich. Selbst die Lohnarbeiter, die unschuldig Betrogenen, verfolgen mich. Und ich komme kaum mit dem Leben davon. Und doch steht die Gerechtigkeit immer allem voran.

Ich bin ein Alarmrufer und Verkünder der Gerechtigkeit. Ihr kommt zu mir, Tribut zu entrichten. Die Wissenschaft kommt und zahlt mir Tribut. Die Kunst kommt mit ihrer Träume Erfüllung, die Musik mit schwellenden Tönen, der Handel mit vollen Kisten. Doch bringt ihr Gerechtigkeit? Ihr könnt allerlei lernen und lehren. Doch könnt ihr Gerechtigkeit lernen und lehren? Ohne Gerechtigkeit ist alles Leben Strophe und Gegenstrophe der Hohlheit. Die Wissenschaft ist hohl ohne Gerechtigkeit. Ich glaube, du hast umsonst gearbeitet, als du deine Leinwand bemaltest. Denn Gerechtigkeit hast du nicht darauf. Und sie allein kann deinem Gemälde die Fülle geben. Und jegliches Kunstwerk und alle Theorie und Spekulation und metaphysische Wissenschaft muß hohl bleiben, hohl, für immer hohl – ohne Gerechtigkeit. Ich sage nicht: die Gerechtigkeit ist logisch. Sondern ich sage: Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit. Ich sage nicht, die Zivilisation sei keine Zivilisation. Mag sie es sein. Ueber Worte will ich nicht mit euch streiten. Ich sage aber: solange die Zivilisation nicht Gerechtigkeit ist, kann sie ebensogut nichts sein. Sie ist nichts. Du meinst, die Gesellschaft könnte Gesellschaft sein und die eine Hälfte vergessen oder übervorteilt? Die Gerechtigkeit vergißt keinen und benachteiligt keinen. Sie kennt keine Verworfenen, keine Ausgebeuteten, also auch keine Ausbeuter. Die Gerechtigkeit kennt nur eine allgemeine Seele, woraus die persönlichen Seelen hervorgehen und wohin sie alle zurückkehren, sich zu verjüngen. Wir sind nicht Millionen von Einzelwesen mit vielen Schulden. Wir sind ein einziges Wesen mit einer gemeinsamen Schuld. Dies ist vielleicht weder Logik noch Religion, noch Staatskunst, noch Wissenschaft, noch was immer die Kümmerlichkeit des Einzelbewußtseins anführen mag. Aber Gerechtigkeit ist es. Und Gerechtigkeit kommt immer vor allem.

Sei praktisch; sei praktisch; sei praktisch, sagen alle Herrgötter des heutigen Systems. Sei wie ich, sagt die Religion, die nichts wagt. Sei wie ich, sagt die Kunst, die nichts wagt. Sei wie ich, sagt der Freund, der nichts wagt. Und der Meister sagt, sei wie ich. Und jeder Hochstehende sagt, sei wie ich. Und am traurigsten macht es mich zuweilen, wenn ich sogar den Sklaven sagen höre: Sei wie ich. Und wohin ich immer gehe, höre ich Stimmen. Und all die Stimmen sagen: Sei wie wir. Wozu das alles? Ich soll logisch sein. Sei logisch, sagt die Welt, und ziehe deine Miete ein. Sei logisch und behalte deinen Ueberschuß für dich. Sei logisch und sing' falsche Lieder. Ja, mach' falsche Bilder. Ja, predige Lügen. Sei logisch. Beute die Menschen aus, laß sie verhungern, ersticken. Raube. Morde. Nur sei logisch. Kann man sich darum kümmern, wer zu leiden hat? Die Logik wird jedem Vorwurf begegnen. Gerechtigkeit wäre ganz schön, wenn es keine Logik gäbe. Doch vor der Logik muß die Gerechtigkeit weichen. Logisch ist alles Unrecht der Welt. Logisch ist die Lüge des Lügners, die Selbstsucht des Handels, das Schiff, das zum Seeraub ausläuft. Die Logik ist grausam in dem beißenden Frost wirtschaftlicher Katastrophen. Die Logik hat Platz für alles Unrecht, aber keinen Raum für den Rebellen; keinen Raum für Protest; keinen Raum für das Gefühl allgemeiner Liebe, für Gerechtigkeit. Und doch steht eure Liebe immer allem voran. Ich habe gemeint, Gerechtigkeit sei die einzige Logik; und die Grundbesitzer und Kapitalisten und Wucherer seien nicht logisch; die Priester und Dichter und Meineidstifter seien nicht logisch; nur der Rufer nach Gerechtigkeit sei letzten Endes logisch. Ich habe gemeint, wenn auch mein Gehirn nicht soviele Gramm wöge und mein Leib nicht soviele Zoll mäße, so wäre ich doch edel gebaut, wenn ich Gestalt und Größe der Gerechtigkeit hätte. Vielleicht würden die Menschen mich nicht bewundern, sondern meinen Ruf hassen; meinen Ruf, wie ich vorwärts schreite und nach Gerechtigkeit rufe. Aber die Logik würde mein Maß bestätigen und die Melodie meiner Rede anerkennen, wenn ich die Fragen der Gerechtigkeit beantwortete. Ich will der Logik nicht in ihre Verstecke folgen. Die Logik der Geschichte ist der Besitzer. Besitzer, wer emporkommt, Sklave, wer herabkommt. Immer einer sehr hoch oben und viele sehr tief unten. Logik ist das Klatschen der Peitsche. Logik ist die Aussperrung und der Streik. Logik ist Kanone und Krieg. Logik ist Haß. So sagen wenigstens die Gelehrten. Die Logik hält den Gegensatz von Eleganz und Lumpen aufrecht. Die Logik hat einen Schild mit zwei Seiten: Ueberfluß auf der einen, Mangel auf der andern. Die Logik hat einen Fuß auf dem Thron, den andern in der Gosse. So sagen wenigstens die Gelehrten. Und ihre Geschichtsbetrachtung sagt so. Ich aber habe geglaubt, Gerechtigkeit sei die einzige Logik; und die Gerechtigkeit komme immer vor allem.


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