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Als Nechljudow auf dem Bahnhof anlangte, saßen bereits sämtliche Arrestanten in den Waggons mit den vergitterten Fenstern. Auf dem Perron stand eine Anzahl von Leuten, die ihnen das Geleit gegeben hatten und in die Waggons nicht hineingelassen wurden. Die eskortierenden Soldaten schienen in einer auffallend gedrückten Stimmung. Auf dem Wege vom Gefängnis nach dem Bahnhof waren außer den beiden Arrestanten, die Nechljudow gesehen hatte, noch drei weitere am Hitzschlag gestorben Im Anfang der achtziger Jahre starben an einem einzigen Tage während der Überführung vom Butyrskischen Gefängnis in Moskau nach dem Nischnijnowgoroder Bahnhof fünf Arrestanten am Hitzschlag.: einer war ebenso wie jene beiden nach der nächsten Wache gebracht worden, und zwei waren hier, auf dem Bahnhof, zusammengebrochen. Was die eskortierenden Soldaten beunruhigte, war nicht die Tatsache, daß diese fünf Menschen, die jetzt noch hätten am Leben sein können, überhaupt gestorben waren. Das bekümmerte sie nur sehr wenig – wohl aber bekümmerte es sie, daß das Gesetz ihnen für einen solchen Fall die Erfüllung von allerhand Formalitäten vorschrieb. Da hieß es die Toten samt ihren Papieren und Sachen da und da abliefern und sie aus der Liste derjenigen streichen, die nach Nischnij gebracht werden sollten – und das war, zumal bei dieser Hitze, keineswegs sehr einfach.
Das war es, was die Leute von der Eskorte beschäftigte, und darum ließen sie, bevor das alles erledigt war, weder Nechljudow noch all die andern, die darum baten, in die Waggons hinein. Nechljudow erreichte es schließlich doch noch, daß er hindurchgelassen wurde, und zwar dadurch, daß er dem Unteroffizier von der Eskorte Geld gab, wobei dieser ihn freilich bat, sich möglichst zu beeilen, damit sein Vorgesetzter ihn nicht sähe. Es waren im ganzen achtzehn Waggons, und alle diese Waggons, bis auf den für die Vorgesetzten bestimmten, waren über und über mit Arrestanten vollgestopft. Als Nechljudow an den Fenstern der Waggons vorüberging, horchte er auf das, was in ihnen vorging. Aus allen Waggons ließ sich Kettenklirren, wirres Getöse und lautes Reden, das mit zotigen Worten gespickt war, vernehmen – nirgends jedoch wurde, wie Nechljudow es eigentlich erwartet hatte, von den unterwegs zusammengebrochenen Kameraden gesprochen. Die Reden drehten sich zumeist um die Säcke, das Trinkwasser und die Auswahl der Plätze. Als Nechljudow durch die Fenster eines der Waggons blickte, sah er in der Mitte, im Durchgang, ein paar Eskortesoldaten, die den Arrestanten die Handschellen abnahmen. Die Arrestanten streckten die Arme vor, und einer der Soldaten öffnete mit einem Schlüssel das Schloß an den Handschellen und zog sie ab, während ein zweiter Soldat sie sammelte.
Als Nechljudow an sämtlichen Waggons der Männerabteilung vorbeigeschritten war, kam er zu den Waggons der Frauen. Aus dem zweiten derselben ließ sich das eintönige Stöhnen einer weiblichen Stimme, untermischt mit den Ausrufen: »O–o–o! Gott, o Gott! O–o–o! Gott, o Gott!« vernehmen.
Nechljudow ging weiter und trat, nachdem er einen der Eskortesoldaten nach der Maslowa gefragt hatte, an das Fenster des dritten Waggons. Ein heißer, von dem dumpfen Geruche menschlicher Ausdünstungen gesättigter Luftstrom schlug ihm aus dem Fenster entgegen, und kreischende weibliche Stimmen tönten an sein Ohr. Auf allen Bänken saßen Frauen in Schlafröcken oder Jacken, ganz rot und in Schweiß gebadet, und sprachen laut miteinander. Sie bemerkten sogleich Nechljudows Gesicht am Gitter des Waggonfensters, und die Zunächstsitzenden verstummten und rückten noch näher nach dem Fenster hin. Die Maslowa saß, nur in der Jacke und ohne Kopftuch, am gegenüberliegenden Fenster. Näher zu ihm hin saß die blonde, lächelnde Fedoßja. Als sie Nechljudow erkannte, stieß sie die Maslowa an und zeigte mit der Hand nach dem Fenster. Die Maslowa stand eilig auf, warf das Kopftuch über das schwarze Haar, trat mit lebhaftem Ausdruck in dem roten, schwitzenden Gesichte an das Fenster und faßte nach dem Gitter.
»Ist das eine Hitze!« sagte sie mit freudigem Lächeln.
»Haben Sie die Sachen bekommen?«
»Brauchen Sie nicht noch etwas?« fragte Nechljudow, dem die Hitze aus dem glühend heißen Waggon wie aus dem Ofen einer Badstube entgegenströmte.
»Ich brauche nichts weiter, ich danke.«
»Nur etwas zu trinken,« sagte Fedoßja.
»Ja, etwas zu trinken,« wiederholte die Maslowa.
»Haben Sie denn kein Wasser?«
»Man hat uns welches gebracht, doch ist es längst ausgetrunken.«
»Sofort,« sagte Nechljudow. »Ich werde die Leute von der Eskorte darum bitten. Bis Nischnij bekommen wir uns jetzt nicht mehr zu sehen.«
»Fahren Sie denn mit?« fragte die Maslowa, als ob sie von nichts wüßte, und sah dabei Nechljudow mit freudigem Blicke an.
»Ich komme mit dem folgenden Zuge nach.«
Die Maslowa sagte nichts, und erst nach einem Weilchen seufzte sie tief auf.
»Ist's denn wahr, Herr, daß zwölf Mann von den Gefangenen unterwegs zu Tode gekommen sind?« fragte eine alte, finster dreinschauende Gefangene mit bäurisch-grober Stimme.
Es war die Korablewa.
»Zwölf Mann? Davon habe ich nichts gehört. Ich habe nur zwei gesehen,« sagte Nechljudow.
»Es sollen aber zwölf sein. Soll ihnen das wirklich so hingehen? Diese Mörder!«
»Ist keine von den Frauen erkrankt?« fragte Nechljudow.
»Die Weiber sind zäher,« sagte lachend eine zweite Gefangene, ein ganz winziges Persönchen. »Nur einer ist's eingefallen, ein Kind zu bekommen: da, wie sie schreit!« sagte sie und zeigte nach dem Nachbarwaggon, aus dem sich immer noch das laute Stöhnen vernehmen ließ.
»Sie fragten, ob wir etwas brauchten?« sagte die Maslowa, während sie sich bemühte, das freudige Lächeln um ihre Lippen zurückzudrängen. »Könnte man nicht vielleicht diese Frau hier lassen, sie muß sich sonst so quälen. Vielleicht sagen Sie es der Obrigkeit?«
»Ja, ich will es sagen.«
»Und könnte sie« – sie wies mit den Augen nach der lächelnden Fedoßja – »nicht vielleicht den Taras, ihren Mann, sehen? Er fährt doch mit Ihnen, nicht wahr?«
»Heda, Herr – das Sprechen ist verboten!« ertönte plötzlich die Stimme eines Unteroffiziers – nicht desselben, der Nechljudow zugelassen hatte.
Nechljudow trat von den Waggons hinweg und suchte den Eskorteoffizier auf, um ihm sein Anliegen betreffs der in Geburtswehen liegenden Frau und des Bauern Taras vorzutragen. Er konnte den Gesuchten jedoch lange nicht finden noch auch von den Soldaten seinen Aufenthalt erfahren. Sie hatten alle Hände voll zu tun: die einen führten einen Arrestanten irgendwohin ab, die andern liefen fort, um sich mit Proviant für die Reise zu versehen, oder brachten ihre Sachen in den Waggons unter, noch andere bemühten sich um eine Dame, die den Eskorteoffizier auf der Fahrt begleitete, und nur ungern und widerwillig gaben sie Nechljudow auf seine Fragen Antwort.
Erst nach dem zweiten Läuten erblickte Nechljudow den Eskorteoffizier. Er strich sich eben, den kurzen Arm emporhebend, den über seinen Mund herabhängenden Schnurrbart und gab, die Schultern hoch emporziehend, dem Feldwebel wegen irgend etwas einen Verweis.
»Was wollen Sie denn?« fragte er Nechljudow.
»In einem der Waggons ist eine Frau, die ihrer Niederkunft entgegensieht – ich meine, man sollte sie ...«
»So lassen Sie sie doch, es wird sich schon alles finden,« sagte der Offizier und begab sich, die kurzen Arme rasch hin und her schwenkend, nach seinem Waggon.
In diesem Augenblick ging der Zugführer mit der Pfeife in der Hand vorüber: das letzte Läuten ertönte, dann folgte ein Pfiff, und unter den auf dem Perron Zurückbleibenden wie in den Waggons der Frauen ließ sich lautes Weinen und Klagen vernehmen. Nechljudow stand mit Taras auf dem Perron und sah zu, wie die Wagen mit den vergitterten Fenstern und den dahinter sichtbaren rasierten Männerköpfen langsam einer nach dem andern vorüberglitten. Dann kam der erste Frauenwaggon, aus dessen Fenstern eine Anzahl von Köpfen, teils bloß, teils von Tüchern umhüllt, hervorschauten; dann folgte der zweite Waggon, aus dem noch immer das Stöhnen der Gebärenden sich vernehmen ließ, und hierauf kam der Waggon, in dem sich die Maslowa befand. Sie stand mit andern zugleich am Fenster, blickte nach Nechljudow hin und lächelte ihm schmerzlich zu.