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23.

In der Zeit, da Nechljudow Selenin als Studenten kannte, war dieser ein vortrefflicher Sohn, ein treuer Kamerad und, in Anbetracht seiner Jugend, ein Weltmann von Bildung und feinem Takt gewesen – stets elegant und schick, und dabei ungewöhnlich wahrheitsliebend und ehrenhaft. Er lernte sehr gut und ohne große Mühe, war in keiner Hinsicht pedantisch und bekam für seine Aufsätze stets goldene Medaillen.

Er hatte sich nicht nur mit Worten, sondern auch in seinem Wirken das Ziel gesetzt, sein Leben dem Dienste der Menschheit zu weihen. Diesen Dienst vermochte er sich nicht anders vorzustellen, als in der Form des Staatsdienstes; sobald er daher die Universitätskurse beendet hatte, prüfte er systematisch alle Berufe, in denen er seine Kräfte betätigen könnte, und entschied sich dahin, daß er am nützlichsten in der zweiten Abteilung der kaiserlichen Zivilkanzlei wirken könne, die sich mit der Redigierung der Gesetze befaßte, und in diese trat er denn auch ein. Doch obschon er alles das, was von ihm verlangt wurde, aufs genauste und gewissenhafteste erfüllte, fand er in diesem Dienstzweige doch nicht die erwartete Befriedigung seines Wunsches, sich nützlich zu machen, und konnte sich nicht davon überzeugen, daß er das tue, was er nach seiner Meinung tun mußte. Dieses Gefühl der Unbefriedigtheit steigerte sich infolge verschiedener Zusammenstöße mit seinen sehr kleinlichen, eitlen Vorgesetzten so sehr, daß er aus der zweiten Abteilung ausschied und zum Senat überging. Im Senat fühlte er sich zwar wohler, doch verfolgte ihn hier dasselbe Gefühl der Unbefriedigtheit. Er wurde die Empfindung nicht los, daß das alles nicht das war, was er erwartet hatte, und was sein mußte. Während er im Senat tätig war, setzten seine Verwandten seine Ernennung zum Kammerjunker durch, und er mußte in der gestickten Uniform, mit dem vorschriftsmäßigen Abzeichen eines Dieners, zu verschiedenen Personen fahren, um sich dafür zu bedanken, daß man ihn zu dieser hervorragenden Lakaienstellung befördert hatte. Noch deutlicher als vorher fühlte er jetzt, daß dies nicht das »Rechte« sei, doch konnte er einerseits die Ernennung nicht ablehnen, um diejenigen nicht zu verletzen, die ihm damit eine große Freude bereitet zu haben glaubten, und andrerseits schmeichelte diese Ernennung doch auch den schlechteren Instinkten seiner Natur, und es bereitete ihm immerhin ein Vergnügen, sich im Spiegel in der goldgestickten Uniform zu sehen und die Achtung zu genießen, die diese Ernennung bei einigen Leuten hervorrief.

Ähnlich erging es ihm auch mit seiner Heirat. Man hatte ihm eine – vom Standpunkte der Welt betrachtet – überaus glänzende Partie verschafft, und er war auf die Sache eingegangen, gleichfalls wieder aus dem Hauptgrunde, weil er durch eine Ablehnung der jungen Dame, die die Heirat wünschte, wehgetan und diejenigen, die sie arrangiert hatten, verletzt hätte, und nebenbei wohl auch, weil die Heirat mit einem jungen, hübschen, vornehmen Mädchen seiner Eigenliebe schmeichelte und ihm Freude machte. Sehr bald aber stellte sich heraus, daß diese Heirat ebensowenig das »Rechte« war, wie seine dienstliche Stellung und sein Hofamt. Nach dem ersten Kinde wollte die Frau keine Kinder mehr haben und begann ein luxuriöses Weltleben zu führen, an dem auch er wohl oder übel teilnehmen mußte. Obschon sie durch diese Lebensführung ihrem Manne das Dasein vergiftete und selbst nur Anstrengungen und Enttäuschungen davon hatte, blieb sie doch diesem Leben geflissentlich treu. Alle seine Versuche, sie davon abzubringen, prallten an ihrer von allen ihren Verwandten und Bekannten unterstützten Überzeugung, daß es so sein müsse, wie an einer ehernen Mauer ab.

Das Kind, ein Mädchen mit langen goldenen Locken und schlanken, nackten Beinchen, war ein dem Vater vollkommen fremdes Wesen, da es ganz anders erzogen wurde, als er wünschte. Zwischen den Eheleuten bildete sich der übliche Zustand des gegenseitigen Nichtverstehens und sogar Nichtverstehenwollens aus, und es kam zu einem schweigsamen, vor der Welt verborgenen und nur durch die Vorschriften des Anstandes gemilderten Kampfe, der Selenin das Leben im Hause sehr schwer machte. Sein Familienleben schien ihm somit in noch weit höherem Grade »nicht das Rechte« zu sein, als selbst der Dienst und die Stellung am Hofe.

Am stärksten aber äußerte sich seine Unbefriedigtheit auf dem Gebiete der Religion. Wie die meisten Angehörigen seiner Gesellschaftskreise, hatte auch er durch seinen Bildungsgang die Fesseln der kirchlichen Anschauung, in der er erzogen worden war, mit Leichtigkeit abgestreift, und als ein ernster, ehrlicher Mensch hatte er während seiner Studentenzeit dies im nahen Verkehr mit Nechljudow nicht verheimlicht. Sobald er jedoch in den Dienst getreten war, begann diese geistige Freiheit ihn zu stören. Selten ging ein Tag vorüber, ohne daß er in irgendwelche Beziehungen zu den äußeren Formen des Kultus getreten wäre – Beziehungen, denen aus dem Wege zu gehen nicht anging. Immer wieder mußte er, weil es der Dienst und die öffentliche Meinung so verlangten, den kirchlichen Zeremonien beiwohnen – er mußte also entweder, was ihm bei seinem rechtschaffenen Charakter unmöglich war, sich so stellen, als glaube er an Dinge, an die er in Wirklichkeit nicht glaubte, oder er mußte sich einen inneren Ausgleich, einen Ausweg aus dem Dilemma zu schaffen suchen, der ihm gestattete, jene Dinge zu bejahen und die Stellung im Staatsdienste zu behalten, die ihm jetzt schon Gelegenheit bot, recht viel Nützliches für die Menschheit zu leisten und, wie er hoffte, ihm in Zukunft noch viel mehr Gelegenheit dazu bieten würde.

So ließ er denn zunächst eine kleine Lüge zu, die darin bestand, daß er sich sagte: um das Unvernünftige unvernünftig nennen zu können, muß man seine Unvernunft erst studiert haben. Und so wandte er sich dem Studium solcher philosophischen und religiösen Werke zu, die wenigstens den Schein einer inneren Beruhigung und einer Rechtfertigung der kirchlichen Lehre, in der er erzogen war, erzeugten – jener Lehre, die sein Verstand zwar schon lange verworfen hatte, deren offene Ablehnung jedoch sein Leben mit allerhand Verdruß erfüllt hätte, der bei Anerkennung der Lehre ohne weiteres fortfiel. So eignete er sich denn die gewöhnlichen Sophismen an, daß »der Verstand des Einzelmenschen die Wahrheit nicht zu erkennen vermöge«, daß »die Wahrheit nur der Gesamtheit der Menschen offenbart worden sei«, daß »die Kirche die Trägerin der Offenbarung sei« und dergleichen. Von diesem Standpunkte aus konnte er alle kirchlichen Zeremonien mitmachen und seiner dienstlichen Tätigkeit treu bleiben, die ihm die Möglichkeit gab, Nutzen zu stiften und sich über sein freudloses Familienleben zu trösten. Er glaubte selbst, daß er glaube, sagte sich jedoch im stillen, daß dieser Glaube »nicht das Rechte« sei, und darum hatte er stets diese schwermütigen, trauervollen Augen.

Als er nun jetzt Nechljudow erblickte, den er noch in jener Zeit gekannt hatte, da all diese Lügen und Zweifel sich noch nicht in ihm eingenistet hatten, sah er sich selbst plötzlich so, wie er damals gewesen, und fühlte mehr als je, zumal nachdem er ihm eine Andeutung über seine neue religiöse Auffassung gegeben, daß seine religiöse Auffassung »nicht das Rechte« sei, und es wurde ihm gar wehmütig zumute. Und ein Gefühl der Wehmut empfand auch Nechljudow nach dem ersten Eindruck der Freude, den der Anblick des alten Freundes in ihm hervorgerufen hatte. Und darum suchten beide, obschon sie einander zugesagt hatten, daß sie sich wieder treffen wollten, dieses Wiedersehen nicht und sahen sich während dieses Aufenthalts Nechljudows in Petersburg in der Tat nicht.


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