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Der Abmarsch der Abteilung, mit der die Maslowa abgehen sollte, war auf den 5. Juli festgesetzt. Auch Nechljudow hielt sich bereit, ihr an diesem Tage nachzureisen. Am Tage vor seiner Abreise kam Nechljudows Schwester mit ihrem Manne nach der Stadt gefahren, um sich von ihrem Bruder zu verabschieden.
Nechljudows Schwester, Natalia Iwanowna Ragoschinskaja, war zehn Jahre älter als der Bruder. Er war zum Teil unter ihrem Einflusse aufgewachsen. Sie hatte ihn als Knaben sehr gern gehabt, und kurz vor ihrer Heirat hatten sie beide, das fünfundzwanzigjährige Mädchen und der fünfzehnjährige Junge, fast auf gleichberechtigtem Fuße miteinander verkehrt. Sie war damals in seinen verstorbenen Freund Nikolenjka Irtenjew verliebt gewesen. Sie hatten beide Nikolenjka geliebt, und sie hatten in ihm wie in sich selbst das geliebt, was es im Menschen an Gutem, Vereinigendem gibt. Seit jener Zeit waren sie beide sittlich verdorben worden: er durch das Militär, durch ein schlechtes Leben; sie – durch die Ehe mit einem Menschen, zu dem sie in sinnlicher Liebe entbrannt war, der jedoch alles das, was einstmals für sie und Dmitrij das Heiligste und Teuerste gewesen war, nicht nur nicht liebte, sondern seinem Wesen nach gar nicht begriff und jegliches Streben nach sittlicher Vervollkommnung, jede Bemühung, den Menschen zu dienen – was ihr einstmals Lebensbedürfnis gewesen – einzig auf den ihm allein verständlichen Begriff der Eigenliebe und den Wunsch, sich vor der Welt hervorzutun, zurückführte.
Ragoschinskij war ein Mann ohne Namen und ohne Vermögen, doch dabei ein sehr geschickter Beamter, der höchst gewandt zwischen dem Liberalismus und Konservatismus hin und her zu lavieren wußte und sich stets derjenigen der beiden Richtungen bediente, die zur gegebenen Zeit und im gegebenen Falle ihm persönlich die besten Chancen bot. Er hatte seine verhältnismäßig glänzende juristische Karriere hauptsächlich einer gewissen Anziehungskraft, die er auf die Frauen ausübte, zu verdanken. Er war über die erste Jugend bereits hinaus, als er im Ausland die Nechljudows kennen lernte und Natascha, die auch nicht mehr jung war, in sich verliebt machte. Er hatte sie fast gegen den Wunsch ihrer Mutter geheiratet, die in dieser Ehe eine Mesalliance sah. Nechljudow haßte seinen Schwager, wenn er dieses Gefühl auch vor sich selbst verbarg und zu bekämpfen suchte. Er war ihm durch die Banalität seines Empfindens und seine selbstgefällige Beschränktheit unsympathisch, vor allem aber, weil seine Schwester diesen so dürftig begabten Menschen so selbstisch und leidenschaftlich lieben und unter seinem Einfluß alle besseren Regungen, die sie früher gehabt, so völlig ersticken konnte. Es war ihm immer höchst schmerzlich gewesen, sich Natascha als die Frau dieses selbstgefälligen, stark behaarten Menschen mit der blanken Glatze vorzustellen. Sogar den Kindern dieses Mannes gegenüber vermochte er seine Abneigung nicht zu beherrschen. Sobald er erfuhr, daß Natascha einen Familienzuwachs erwarte, hatte er jedesmal eine Art schmerzlichen Mitleids mit ihr, als habe dieser ihnen allen fremde Mensch sie mit einer bösen Krankheit angesteckt.
Die Ragoschinskijs waren allein, ohne Kinder gekommen – deren sie zwei, einen Knaben und ein Mädchen, hatten – und waren im besten Quartier des besten Gasthofs abgestiegen. Natalia Iwanowna war gleich in die alte Wohnung der Mutter gefahren; als sie jedoch den Bruder dort nicht antraf und von Agrafena Petrowna erfuhr, daß er in ein Chambre garnie gezogen sei, begab sie sich dahin. Der schmutzige Diener des letzteren, der ihr in dem dunklen, übelduftenden, auch am Tage nur durch eine Lampe erhellten Korridor begegnete, erklärte ihr, daß der Fürst nicht zu Hause sei.
Natalia Iwanowna wünschte in die Wohnung des Bruders einzutreten, um ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Der Korridordiener führte sie hinein. Sie betrat die beiden kleinen Zimmer, die Nechljudow bewohnte, und musterte sie aufmerksam. Überall konnte sie die ihr bekannte Sauberkeit und Akkuratesse des Bruders bemerken; vor allem aber fiel ihr die bescheidene, schlichte Art auf, in der er sich eingerichtet hatte, und die ihr an ihm neu war. Auf dem Schreibtisch sah sie den ihr bekannten Briefbeschwerer mit der kleinen Bronzefigur eines Hundes, ferner die mit peinlicher Sorgfalt verteilten Portefeuilles und Schriftstücke, das Schreibzeug, das Strafgesetzbuch, ein englisches Buch von Henry George und ein französisches von Tarde samt dem ihr bekannten großen, geschweiften Elfenbeinmesser.
Sie setzte sich an den Tisch und schrieb einen Zettel für ihn, in dem sie ihn bat, unbedingt noch heute zu ihr zu kommen; dann verließ sie, in Verwunderung über das, was sie gesehen, den Kopf schüttelnd, seine Wohnung und kehrte nach ihrem Gasthof zurück.
Natalia Iwanowna interessierte sich, was ihren Bruder anbetraf, für zwei Fragen: erstens für seine Heirat mit Katjuscha, von der sie in ihrem Provinzneste gehört hatte, da ja alle Welt davon sprach, und zweitens für die Neuregelung, die er betreffs seines Grundbesitzes vorgenommen hatte, die gleichfalls allgemeines Tagesgespräch war und von vielen Leuten als eine gefährliche politische Neuerung angesehen wurde. Daß Nechljudow Katjuscha heiraten wollte, gefiel Natalia Iwanowna auf der einen Seite. Sie freute sich über diese Entschlossenheit, in der sie ihn und sich selbst wiederzuerkennen meinte, so wie sie beide in jenen schönen Tagen vor ihrer Verheiratung gewesen. Zugleich jedoch ward sie von Entsetzen erfüllt bei dem Gedanken, daß ihr Bruder eine so schreckliche Person heiraten wolle. Das letztere Gefühl behielt die Oberhand, und sie hatte sich vorgenommen, ihn womöglich von seinem Plane abzubringen, obschon sie sich nicht verhehlte, daß dies keineswegs leicht sein würde.
Die andere Angelegenheit, die Übergabe des Landes an die Bauern, ging ihr nicht so sehr zu Herzen; dagegen hatte diese Angelegenheit den höchsten Unwillen ihres Gatten erregt, und er hatte verlangt, daß sie alles daransetze, um den Bruder auf andere Gedanken zu bringen. Ignatij Nikiforowitsch hatte geäußert, daß eine solche Handlung der Gipfel der Ungereimtheit, des Leichtsinns und des Hochmuts sei, daß sie, wenn überhaupt, nur aus der Sucht, sich hervorzutun, zu renommieren und von sich reden zu machen, erklärt werden könne.
»Welcher Sinn liegt darin, das Land an die Bauern abzutreten gegen eine Rente, die sie an sich selbst bezahlen?« sagte er. »Wenn er schon etwas derartiges tun wollte, dann konnte er das Land doch durch die Bauernbank verkaufen. Das hätte einen Sinn gehabt. Überhaupt ist das eine Handlung, die schon beinahe über die Grenze des Normalen hinausgeht,« hatte Ignatij Nikiforowitsch erklärt, und er beschäftigte sich bereits mit dem Gedanken an eine Kuratel und verlangte von seiner Frau, daß sie mit ihrem Bruder ernstlich über diese seine sonderbare Absicht rede.