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Nach zwei Wochen konnte die Sache im Senat zur Verhandlung kommen, und zu dieser Zeit gedachte Nechljudow in Petersburg zu sein, um, falls die Appellation an den Senat erfolglos geblieben sein sollte, ein Gnadengesuch an die Allerhöchste Stelle einzureichen, wie auch der Advokat ihm geraten hatte. Sollte das Kassationsgesuch zurückgewiesen werden, worauf man nach der Meinung des Advokaten gefaßt sein konnte, da die Kassationsgründe sehr schwach waren, dann konnte der nächste Trupp der zu Zwangsarbeit Verurteilten, zu denen voraussichtlich auch die Maslowa gehörte, etwa Anfang Juni sich auf den Weg machen; wenn also Nechljudow, wie es seine feste Absicht war, der Maslowa nach Sibirien folgen wollte, mußte er, um alle Vorbereitungen zur Abreise zu treffen, jetzt seine Güter besuchen, um dort seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.
Zunächst begab sich Nechljudow nach Kusminskoje, seiner nächstgelegenen großen Besitzung in dem fruchtbaren Gebiete der »schwarzen Erde«, von der er den größten Teil seines Einkommens bezog. Er hatte in jungen Jahren auf dieser Besitzung gelebt, war dann als Erwachsener zweimal dagewesen und hatte das eine Mal auf Betreiben seiner Mutter einen deutschen Verwalter mitgenommen und mit ihm zusammen den Stand der Wirtschaft revidiert, so daß er den Zustand des Gutes und die Beziehungen der Bauern zum Gutskontor, das heißt zum Gutsbesitzer, seit langem kannte. Diese Beziehungen waren so geordnet, daß die Bauern sich in voller Abhängigkeit vom Gutskontor befanden. Nechljudow wußte das noch von seinen Studentenjahren her, als er sich zu der Lehre Henry Georges bekannt und sie öffentlich vertreten hatte. Unter dem Einflusse dieser Lehre hatte er damals das vom Vater ererbte Gut an die Bauern abgegeben. Nachdem er sich dann während seiner Militärzeit an ein Jahresbudget von annähernd zwanzigtausend Rubeln gewöhnt hatte, hatten alle diese Theorien für seine praktische Lebensführung ihre Bedeutung verloren, er hatte sie vergessen und legte sich nicht nur niemals die Frage vor, woher eigentlich das von ihm verbrauchte Geld, das seine Mutter ihm zukommen ließ, stammte, sondern bemühte sich auch, überhaupt über diese Dinge nicht nachzudenken. Doch der Tod der Mutter, die Übernahme der Erbschaft und die Notwendigkeit, über sein Vermögen, das heißt seinen Landbesitz, Verfügungen zu treffen, veranlaßten ihn wieder, über seine Stellung zu der Frage des Privateigentums am Grund und Boden ernstlich nachzudenken. Noch einen Monat vorher hätte Nechljudow sich gesagt, daß er nicht die Kraft besitze, die bestehende Ordnung der Dinge zu ändern, daß die Verwaltung seines Grundbesitzes nicht in seinen Händen liege, und er hätte sich, zumal er fern von seinen Besitzungen lebte und nur die Gelderträge von ihnen bezog, mehr oder weniger über die Frage beruhigt. Jetzt aber war er der Meinung, daß er trotz der bevorstehenden Abreise nach Sibirien und seiner verwickelten Beziehungen zu der Welt der Gefängnisse, die er nur auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung und vor allem seiner stets flüssigen Geldmittel aufrechtzuerhalten vermochte, die Angelegenheit des Landbesitzes nicht auf sich beruhen lassen dürfe, sondern hier, wenn auch zu seinen Ungunsten, eine Änderung treffen müsse. Die Änderung sollte darin bestehen, daß er den Grund und Boden nicht mehr selbst, mit gemieteten Arbeitern, bewirtschaftete, sondern ihn zu einem billigen Zins an die Bauern verpachtete und ihnen so die Möglichkeit bot, sich vom Eigentümer unabhängig zu machen. Er verglich dabei die Lage des heutigen Grundbesitzers mit derjenigen des Leibeigenenbesitzers der alten Zeit und fand, daß die Verpachtung des Landes an die Bauern, statt der Selbstbewirtschaftung mit Hilfe von Arbeitern, etwa gleichbedeutend sei mit dem Verfahren des Leibeigenenbesitzers, der seine fronpflichtigen Bauern auf den Pachtschilling setzt. Das war noch nicht die endgültige Lösung der Frage, aber immerhin ein Schritt zu ihrer Lösung: es war der Übergang von einer groben Form der Vergewaltigung der Menschen zu einer weniger groben. Und dementsprechend gedachte er nun die Frage praktisch zu lösen.
Nechljudow kam gegen Mittag in Kusminskoje an. In seinem Bestreben, nach jeder Richtung hin seine Lebensweise zu vereinfachen, hatte er seine Ankunft nicht telegraphisch angezeigt, sondern auf der Eisenbahnstation einen kleinen zweispännigen Wagen genommen. Der Fuhrmann war ein junger Bursche in einem faltigen Nankingrock, den er unterhalb der Taille gegürtet trug. Er saß nach Fuhrmannsart seitwärts auf dem Kutschbock und unterhielt sich um so lieber mit seinem Fahrgast, als dabei das lendenlahme, hinkende weiße Gabelpferd und das magere, dämpfige Beipferd im Schritt gehen konnten, wozu sie immer ganz besonders aufgelegt waren.
Der Fuhrmann erzählte von dem Verwalter in Kusminskoje, ohne zu wissen, daß er den Besitzer des Gutes fuhr. Nechljudow hatte es ihm absichtlich nicht gesagt.
»Der hat es heraus, der Deutsche,« sprach er, halb zu dem Fahrgast gewandt, während er den langen Peitschenstiel bald unten, bald oben faßte. »Einen Dreispänner hat er sich angeschafft, lauter Isabellschimmel, und wenn er nun mit seiner Madame ausfährt, da meint er, wer weiß, was er ist. Und im Winter, zu Weihnachten, was hatte er da für einen Christbaum im Hause! Auch ich hab' damals Gäste hingefahren. Wunderschön ausgeputzt war der Baum, im ganzen Gouvernement findet man so was nicht wieder. Und Geld hat er sich zusammengemaust – die schwere Menge! Warum auch nicht, er kann ja schalten und walten, wie er will. Auch ein schönes Gut soll er sich gekauft haben.«
Nechljudow war bisher gegen die Art und Weise, wie der Deutsche sein Gut verwaltete und ausnützte, völlig gleichgültig gewesen. Aber die Erzählung des Fuhrmanns mit der langen Taille war ihm doch unangenehm. Er schwelgte im Genuß des herrlichen Tages, im Anblick der dichten, dunklen Wolken, die zuweilen die Sonne bedeckten, der Fluren, über denen die Lerchen sich erhoben, der oben in den Wipfeln und am Boden schon mit frischem Grün bedeckten Wälder, der Wiesen, auf denen bereits die Rinder und Pferde weideten, der Felder, über die die pflügenden Bauern lange Furchen zogen – bei alledem jedoch hatte er immer wieder ein peinliches Nebenempfinden, und als er sich fragte, worin es seinen Grund hatte, erinnerte er sich der Erzählung des Fuhrmanns von der Art, wie der Deutsche in Kusminskoje schalte und walte.
Erst als Nechljudow in Kusminskoje angekommen war und sich selbst in der Wirtschaft umtat, verlor sich dieses Gefühl.
Die Durchsicht der Kontobücher und das Gespräch mit dem Buchhalter, der ihm in naiver Weise klarzumachen suchte, wie vorteilhaft es sei, daß die Bauern nur wenig Land besäßen und rings vom herrschaftlichen Land eingekreist seien, bestärkten Nechljudow noch in seiner Absicht, die Selbstbewirtschaftung aufzugeben und den ganzen Grund und Boden den Bauern zu überlassen. Aus den Kontobüchern und der Unterredung mit dem Buchhalter hatte er ersehen, daß zwei Drittel des besten Ackerbodens, wie auch früher schon, durch gemietete Tagelöhner mittels verbesserter Gerätschaften bearbeitet wurden, während das letzte Drittel von den Bauern für ihre eigene Rechnung gegen eine Pacht von fünf Rubeln für die Desjatine bestellt wurde. Für diese fünf Rubel war der Bauer verpflichtet, jede Desjatine dreimal zu pflügen, dreimal zu eggen und zu besäen, dann das Getreide abzumähen oder mit der Sichel zu schneiden, zu binden und auf die Tenne zu bringen, das heißt Arbeiten zu verrichten, die bei freier Entlohnung, billig gerechnet, wenigstens zehn Rubel für die Desjatine gekostet hätten. Dagegen mußten die Bauern für alles, was sie vom Kontor benötigten, die teuersten Preise in Form von Arbeit entrichten. Sie arbeiteten für das Heu von der Wiese, für das Holz aus dem Walde, selbst für das Kartoffelkraut und waren fast alle beim Kontor verschuldet. Man nahm für die entlegenen Parzellen, die an die Bauern abgegeben waren, von der Desjatine fast zehnmal so viel, wie bei Zugrundelegung einer fünfprozentigen Verzinsung recht und billig gewesen wäre.
Alles das hatte Nechljudow auch früher schon gewußt, doch es erschien ihm jetzt in einem neuen Lichte, und er wunderte sich nur darüber, wie er, und wie überhaupt alle Menschen, die sich in einer ähnlichen Lage befanden, die Anomalität dieser Beziehungen nicht einsehen konnten. Die Ausführungen des deutschen Verwalters, der nachzuweisen suchte, daß das Inventar nun allen Wert verlieren und kaum für ein Viertel des Preises, den es gekostet, losgeschlagen werden würde, daß die Bauern den Boden verderben würden, und daß Nechljudow überhaupt bei der Übergabe des Landes an die Bauern enorme Verluste erleiden müsse, bestärkten diesen nur in seiner Überzeugung, daß er ein gutes Werk vollbringe, wenn er den Bauern das Land übergebe und auf einen großen Teil seiner Einkünfte verzichte. Er war entschlossen, diese Angelegenheit jetzt sofort, noch während seiner Anwesenheit auf dem Gute, zu ordnen. Das Abernten und den Verkauf des ausgesäten Getreides, die Veräußerung des Inventars und der überflüssigen Gebäude – alles das sollte der Verwalter nachträglich erledigen. Für diesmal bat er den Verwalter nur, die Bauern der drei Dörfer, die von seinem Grundbesitz eingekreist wurden, zu einer Versammlung am nächsten Tage zu bestellen, damit er ihnen seine Absichten mitteilen und über den Pachtschilling mit ihnen einig werden könnte.
In dem angenehmen Bewußtsein, den Argumenten des Verwalters gegenüber tapfer standgehalten zu haben und seiner Absicht, für die Bauern ein Opfer zu bringen, treugeblieben zu sein, verließ Nechljudow das Kontor und machte, über die geplante Änderung weiter nachdenkend, einen Rundgang um das Haus. Er kam durch die Blumengärten, die in diesem Jahre vernachlässigt waren – dafür hatte der Verwalter seiner eigenen Wohnung gegenüber einen schönen Blumengarten angelegt – schritt dann über den mit Zichorien überwucherten Tennisplatz und durch die Lindenallee, in der er früher mit Vorliebe seine Zigarre geraucht, und wo vor drei Jahren die hübsche Kirimowa, die damals auf dem Gute zu Gaste weilte, mit ihm kokettiert hatte. Er überdachte noch einmal kurz die Rede, die er morgen den Bauern halten wollte, ging dann zum Verwalter, um bei ihm den Tee einzunehmen, besprach mit ihm nochmals die Liquidierung der ganzen Wirtschaft und begab sich schließlich, vollkommen beruhigt und zufrieden mit dem guten Werke, das er zugunsten der Bauern zu vollbringen im Begriff stand, nach dem für ihn im großen Hause bereitstehenden Zimmer.
In diesem nicht sehr großen, sauberen Zimmer mit den Ansichten von Venedig an den Wänden und dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern stand ein sauberes Bett mit einer Sprungfedermatratze und ein kleiner Tisch mit einer Wasserkaraffe, Zündhölzern und einem Lichtlöscher. Auf dem großen Tische neben dem Spiegel stand sein geöffneter Reisekoffer, in dem das Toilettennecessaire und die Bücher, die er mitgenommen, sichtbar waren: eine russische Abhandlung über »die psychologischen Grundlagen des Verbrechens«, eine deutsche Schrift über dasselbe Thema und ein englisches Buch. Er wollte diese Bücher in seinen freien Minuten lesen, während er seine Güter besuchte, heute jedoch weilte sein Geist, als sein Blick die Bücher streifte, weitab von den Fragen, die da behandelt wurden. Heute interessierten ihn ganz andere Dinge.
In einer Ecke des Zimmers stand ein altertümlicher Lehnsessel aus Mahagoni mit eingelegter Arbeit, und der Anblick dieses Sessels, der im Schlafzimmer seiner Mutter gestanden hatte, weckte plötzlich in seiner Seele ganz unerwartete Empfindungen. Es tat ihm plötzlich leid um das Haus, das nun verfallen würde, und um den Garten, der verwildern, um die Wälder, die man abholzen würde, und um all die Viehhöfe, Pferdeställe, Gerätschuppen, Maschinen, Pferde, Kühe, die mit so vieler Mühe – wenn auch nicht von ihm – angeschafft und instand gehalten worden waren. Eben noch war es ihm so leicht erschienen, sich von alledem zu trennen, und nun tat es ihm auf einmal nicht nur um alles dies, sondern auch um den Grund und Boden leid und um diese Hälfte der Einkünfte, die er aufzugeben im Begriff stand, und die er vielleicht gerade jetzt sehr nötig brauchen würde. Und sogleich tauchten, wie dienstfertige kleine Geister, allerhand Erwägungen in seiner Seele auf, die ihn zu überzeugen suchten, daß es unvernünftig sei, den Bauern das Land zu übergeben und die ganze eigene Wirtschaft zu untergraben, und daß der ganze Plan daher besser unausgeführt bleibe.
»Ich darf kein Land besitzen – besitze ich aber kein Land, so kann ich auch diese ganze Wirtschaft nicht unterhalten; überdies gehe ich ja jetzt nach Sibirien und brauche daher weder das Haus noch das Gut,« sprach die eine Stimme. – »Ganz richtig,« sprach eine andere Stimme, »aber erstens wirst du nicht dein ganzes Leben in Sibirien verbringen. Und wenn du heiratest, wirst du möglicherweise Kinder haben: wie du die Wirtschaft in guter Ordnung übernommen hast, mußt du sie von Rechts wegen weitergeben. Es gibt eben Pflichten der Erde gegenüber. Alles wegzugeben, alles aufzulösen, ist sehr leicht – sehr schwer dagegen, es wieder neu einzurichten. Vor allem mußt du über die weitere Gestaltung deines Lebens nachdenken und reiflich überlegen, wie du es einrichten willst – erst dann kannst du über dein Eigentum in entsprechender Weise verfügen. Und dann mußt du auch genau erwägen, ob diese ganze Umwandlung dir eine wirkliche, ernste Gewissenssache ist, oder ob du das alles nur tust, um dich vor den Leuten zu brüsten!«
So schwirrten die Fragen in Nechljudows Kopfe durcheinander, und er mußte wohl zugeben, daß der Gedanke, was wohl die Leute über ihn sagen würden, auf seinen Entschluß nicht ohne Einfluß geblieben sei. Und je mehr er nachdachte, desto mehr Fragen erhoben sich vor seinem Geiste, und desto schwieriger schien es ihm, sie zu entscheiden. In dem Wunsche, alle diese Gedanken loszuwerden, legte er sich in das frische Bett und wollte erst einmal einen gesunden Schlaf tun, dann aber am Morgen mit frischem Sinn all die Fragen entscheiden, die ihn jetzt nur verwirrten. Doch er konnte lange nicht einschlafen; durch die offenen Fenster drang zugleich mit der frischen Luft und dem Mondlicht das Quaken der Frösche ins Zimmer, das von dem Flöten und Trillern der Nachtigallen – der einen, die dicht unterm Fenster im eben erblühten Fliederbusch schlug, und der andern weiter im Parke – übertönt wurde. Als Nechljudow so dalag und auf die Nachtigallen und Frösche lauschte, fielen ihm die musikalischen Übungen der Inspektorstochter ein, und auch der Inspektor fiel ihm ein, und die Maslowa, deren Lippen sich so seltsam verzogen hatten – fast wie die Lippen der quakenden Frösche – als sie zu ihm sagte: »Kümmern Sie sich nicht weiter um mich!« Und dann schien es ihm, als steige der deutsche Verwalter zu den Fröschen hinunter, und er wollte ihn zurückhalten, doch der Verwalter stieg weiter und weiter hinab, und er nahm die Gestalt der Maslowa an und rief ihm vorwurfsvoll zu: »Ich bin eine Zuchthäuslerin, und Sie sind ein Fürst!« – »Nein, ich gebe nicht nach,« dachte Nechljudow, und indem er wieder aus dem Halbschlummer erwachte, fragte er sich: »Wie denn – ist das, was ich vorhabe, gut oder schlecht? Noch weiß ich es nicht, doch werde ich es morgen wissen.« Und er stieg nun selbst hinunter, dahin, wohin auch der Verwalter und die Maslowa schon hinabgestiegen waren, und dann war alles zu Ende.