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25.

Als Nechljudow am nächsten Morgen erwachte, war sein erstes Gefühl, daß er am Abend vorher eine Gemeinheit begangen habe.

Er rief sich die Vorgänge des Tages ins Gedächtnis zurück: eine eigentliche Gemeinheit, eine wirkliche schlechte Handlung hatte er zwar nicht begangen, wohl aber hatte er bösen Gedanken Raum gegeben. Er hatte es als möglich hingestellt, daß alle seine bisherigen Vorsätze – die Verheiratung mit Katjuscha, die Übergabe des Landes an die Bauern – nichts als Träumereien seien, die sich nicht verwirklichen ließen. Er hatte dem Gedanken Raum gegeben, daß er allen diesen Dingen nicht gewachsen sein würde, daß das alles gekünstelt und unnatürlich sei und er so wie bisher weiterleben müsse.

Eine schlechte Handlung war allerdings nicht da, wohl aber etwas, das schlimmer war als die schlechte Handlung, nämlich Gedanken, aus denen die schlechten Handlungen hervorwachsen. Eine schlechte Handlung kann man das nächste Mal unterlassen, kann sie bereuen; schlechte Gedanken jedoch erzeugen immer wieder schlechte Handlungen.

Eine schlechte Handlung bahnt nur den Weg zu weiteren schlechten Handlungen; schlechte Gedanken jedoch ziehen den Menschen unwiderstehlich auf dem Wege des Schlechten fort.

Nechljudow rief sich am Morgen die gestrigen Gedanken wieder ins Gedächtnis zurück, und er wunderte sich, wie er ihnen auch nur einen Augenblick hatte nachgeben können. So neu und so schwierig auch dasjenige sein mochte, was er zu tun beabsichtigte – er wußte jedenfalls, daß dies fortan das einzige für ihn mögliche Leben sei, und wie leicht es auch, seinen Gewohnheiten nach, sein mochte, zum früheren Leben zurückzukehren – er wußte, daß dies für ihn der sittliche Tod sein würde. Die Verführung, der er gestern erlegen, erinnerte ihn an die Lage eines Menschen, der vom Schlafe erwacht ist und kein eigentliches Schlafbedürfnis mehr hat, sich aber noch ein wenig im Bett strecken und rekeln möchte, obschon er weiß, daß es Zeit ist aufzustehen, und daß ein wichtiges, freudiges Werk ihn erwartet.

An diesem Tage, dem letzten seines Aufenthalts in Petersburg, begab er sich früh morgens zur Schustowa nach Wassiljewskij Ostrow.

Die Wohnung der Schustowa befand sich im zweiten Stockwerk. Der Hausknecht wies Nechljudow nach dem hinteren Aufgang, und auf einer steilen, geraden Treppe gelangte er unmittelbar in eine heiße, von schwerem Speisegeruch erfüllte Küche. Eine ältliche Frau mit aufgestreiften Ärmeln, in einer Schürze und mit einer Brille, stand am Herd und rührte irgend etwas in einer dampfenden Kasserolle.

»Zu wem wollen Sie?« fragte sie streng und musterte den Eintretenden über ihre Brille hinweg.

Kaum hatte Nechljudow seinen Namen genannt, als das Gesicht der Frau einen zugleich freudigen und erschrockenen Ausdruck annahm.

»Ach – Sie, Fürst!« rief die Frau und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Aber warum kommen Sie denn über die Hintertreppe? Ach, unser Wohltäter! Ich bin nämlich ihre Mutter: Sie sind ja unser Retter gewesen,« sagte sie, während sie Nechljudows Hand nahm und sie küssen wollte. »Ich war gestern bei Ihnen, meine Schwester hatte mich so darum gebeten. Hierher, hierher – bitte, kommen Sie mit mir!« sagte sie, während sie Nechljudow durch die schmale Tür und den kleinen dunklen Korridor geleitete und unterwegs ihr aufgestecktes Kleid herunterließ und ihr Haar zurechtstrich. »Meine Schwester ist nämlich die Kornilowa, Sie haben wohl von ihr gehört,« fügte sie flüsternd hinzu und blieb vor einer Tür stehen. »Sie war in politische Geschichten verwickelt. Eine sehr kluge Frau!«

Die Mutter der Schustowa öffnete eine auf den Korridor hinausgehende Tür und führte Nechljudow in ein kleines Zimmerchen, in dem an einem Tische auf einem kleinen Diwan ein nicht sehr großes, volles Mädchen in einer gestreiften Baumwollbluse saß. Sie hatte lockiges blondes Haar, das ihr rundes, sehr blasses, der Mutter ähnliches Gesicht umrahmte. Ihr gegenüber saß, den Oberkörper in bequemer Haltung weit vorbeugend, ein junger Mann in einem gestickten russischen Hemd, mit schwarzem Schnurrund Kinnbärtchen. Sie waren beide so in ihr Gespräch vertieft, daß sie sich erst umsahen, als Nechljudow bereits durch die Tür eingetreten war.

»Lida, Fürst Nechljudow – derselbe ...«

Das blasse Mädchen sprang nervös auf, strich eine Haarsträhne zurecht, die sich vor ihr Ohr gewagt hatte, und sah den Eintretenden mit ihren großen grauen Augen erschrocken an.

»Sie also sind jene gefährliche Dame, für die Wjera Jefremowna sich verwandt hat,« sagte Nechljudow lächelnd und streckte ihr die Hand entgegen.

»Ja, ich selbst bin es,« sagte Lydia, und ein gutes, kindliches Lachen, das zwei Reihen prächtiger Zähne sichtbar werden ließ, erschien auf ihrem Gesichte. »Die Tante wollte Sie nämlich gar zu gern sehen. Tante,« wandte sie sich laut rufend mit ihrer angenehmen, sanften Stimme nach der Tür.

»Wjera Jefremowna war sehr empört darüber, daß man Sie in Haft nahm,« sagte Nechljudow.

»Bitte, nehmen Sie Platz – hier, oder da,« sagte Lydia und wies nach einem gebrechlichen, weichen Lehnstuhl, von dem der junge Mann sich soeben erhoben hatte. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Vetter Sacharow vorstelle,« fügte sie hinzu, als sie den Blick bemerkte, mit dem Nechljudow den jungen Mann ansah.

Der junge Mann begrüßte den Gast mit demselben gutmütigen Lächeln wie Lydia, holte sich, nachdem Nechljudow seinen Platz eingenommen hatte, einen Stuhl vom Fenster und setzte sich neben ihn. Aus dem anstoßenden Zimmer kam noch ein blonder Gymnasiast von etwa sechzehn Jahren herein und setzte sich schweigend auf das Fensterbrett.

»Wjera Jefremowna ist mit der Tante sehr befreundet, während ich sie so gut wie gar nicht kenne,« sagte Lydia.

In diesem Augenblick kam aus dem anstoßenden Zimmer eine Frau mit einem sehr sympathischen, klugen Gesichte, in einer weißen Bluse mit einem Ledergürtel, herein.

»Seien Sie mir gegrüßt! Herzlichen Dank, daß Sie gekommen sind,« begann sie, nachdem sie neben Lydia auf dem Diwan Platz genommen hatte. »Nun, was macht Wjerotschka? Haben Sie sie gesehen? Wie erträgt sie ihre Lage?«

»Sie klagt nicht,« sagte Nechljudow. »Sie sagt, sie sehe alles mit olympischer Ruhe an.«

»Ach, daran erkenne ich meine Wjerotschka,« sagte die Tante lächelnd und nickte mit dem Kopfe. »Man muß sie kennen. Eine herrliche Natur: alles für die andern, nichts für sich selbst.«

»Ja, sie hatte in der Tat für sich selbst keine Wünsche, sondern war nur um Ihre Nichte besorgt. Ganz besonders schmerzte es sie, daß man sie so um nichts und wieder nichts in Haft genommen hatte.«

»Ja, so ist's in der Tat,« sagte die Tante. »Eine schreckliche Sache! Sie hat nämlich für mich leiden müssen.«

»Durchaus nicht, Tante,« sagte Lydia. »Ich würde auch ohnedies die Papiere an mich genommen haben.«

»Gestatte einmal – ich kenne dich besser,« versetzte die Tante. »Das kam nämlich, sehen Sie,« fuhr sie, zu Nechljudow gewandt, fort – »alles daher, daß jemand mich bat, seine Papiere für einige Zeit in Verwahrung zu nehmen, und da ich keine Wohnung hatte, brachte ich sie zu ihr. Nun wurde bei ihr in der Nacht darauf eine Haussuchung abgehalten, und man nahm sie samt den Papieren mit und hielt sie bis jetzt fest – sie sollte durchaus sagen, von wem sie die Papiere hätte.«

»Und ich hab's ihnen doch nicht gesagt,« sagte Lydia rasch, während sie nervös an der Haarsträhne zupfte, die ihr gar nicht im Wege war.

»Ich behaupte es auch nicht, daß du es gesagt hast,« entgegnete die Tante.

»Wenn man Mitin verhaftet hat, ist es jedenfalls nicht durch mich geschehen,« sagte Lydia errötend, während sie sich unruhig umsah.

»Sprich doch nicht davon,« sagte die Mutter.

»Warum nicht? Ich will es erzählen,« sagte Lydia, die nun nicht mehr lächelte, sondern ganz rot geworden war und an der Haarsträhne nicht mehr bloß herumzupfte, sondern sie ganz um ihre Finger gewickelt hatte und dabei ihre Augen immer wieder in die Runde gehen ließ.

»Du weißt doch, wie es gestern war, als du davon zu reden anfingst,« sagte die Mutter.

»Nicht doch ... laß nur, Mamachen. Ich habe es nicht gesagt, ich habe nur geschwiegen. Als er mich zweimal über die Tante und über Mitin befragte, habe ich nichts gesagt und ihm erklärt, ich würde ihm nicht antworten. Da begann Petrow ...«

»Dieser Petrow war ein Gendarm, ein Spion, und ein großer Schuft,« fügte die Tante, die Worte der Nichte erläuternd, hinzu.

»Dann begann also Petrow, mich zu überreden. ›Alles, was Sie mir sagen,‹ meinte er, ›kann niemandem schaden, sondern im Gegenteil ... Wenn Sie es sagen, verhelfen Sie nur Unschuldigen zur Freiheit.‹ Nun, ich blieb doch dabei, daß ich nichts sagen würde. Da meinte er: ›Nun gut, sagen Sie nichts, aber verneinen Sie auch nicht, was ich sage.‹ Und er begann, verschiedene Namen zu nennen, und nannte auch Mitin.«

»So sprich doch nicht,« sagte die Tante.

»Ach, Tante, stören Sie mich nicht! ...« fuhr Lydia fort, während sie unaufhörlich an der Haarsträhne zog und sich immer wieder umsah. »Und mit einem Mal, denken Sie sich, erfahre ich tags darauf – man teilte es mir durch Klopfen mit – daß Mitin festgenommen sei. Nun, denk' ich, ich habe ihn verraten, und das quälte mich so sehr, so sehr, daß ich fast den Verstand darüber verlor.«

»Und dann stellte sich heraus, daß du an seiner Verhaftung nicht die geringste Schuld hattest,« sagte die Tante.

»Aber das wußte ich doch nicht! Ich dachte immerzu, ich hätte ihn verraten. Ich gehe und gehe, immer von Wand zu Wand, und muß es immer wieder denken. Du hast ihn verraten, sag' ich mir. Ich lege mich hin, ziehe die Decke über den Kopf und höre, wie mir jemand ins Ohr flüstert: ›Du hast ihn verraten, du hast ihn verraten ... Mitin hast du verraten!‹ Ich weiß, daß es eine Halluzination ist, und ich muß doch immer wieder hinhören. Ich will einschlafen – und kann es nicht. Ich will nicht daran denken – und ich muß es doch. Ach, das war so schrecklich!« sagte Lydia, wurde immer erregter, sah sich immer wieder um und wickelte abwechselnd die Strähne um den Finger und wieder von ihm ab.

»Lidotschka, so beruhige dich doch,« wiederholte die Mutter, ihre Schulter berührend.

Aber Lidotschka konnte nicht mehr an sich halten.

»Das ist darum so schrecklich ...« begann sie von neuem, brach aber plötzlich, ohne zu Ende geredet zu haben, in Schluchzen aus, sprang vom Diwan auf und lief, an den Lehnsessel anstoßend, aus dem Zimmer. Die Mutter folgte ihr.

Der Gymnasiast, der auf dem Fenster saß, murmelte zornig irgend etwas vor sich hin.

»Was ist dir?« fragte ihn die Mutter.

»Nichts ... ich meinte nur ...« begann er, brach jedoch sogleich wieder ab, griff nach einer auf dem Tische liegenden Zigarette und rauchte sie an, während die Mutter hinter Lydia aus dem Zimmer ging.

»Ja, für die Jungen ist die Einzelhaft schrecklich,« sagte die Tante kopfschüttelnd und zündete sich gleichfalls eine Zigarette an.

»Ich meine, sie ist es für alle,« sagte Nechljudow.

»Nein, nicht für alle,« antwortete die Tante. »Für die eigentlichen Revolutionäre ist sie, wie man mir sagte, eine Zeit des Ausruhens. Solch ein Illegaler lebt in ewiger Aufregung, in Entbehrungen und Angst um sich, um die andern und um die Sache; nimmt man ihn fest, dann ist alles zu Ende, die ganze Verantwortung fällt fort: sitz und ruhe aus! Für die Jungen dagegen – namentlich wenn sie unschuldig sind, wie Lidotschka, und solche nimmt man immer zuerst fest – ist die erste Verhaftung entsetzlich. Nicht die Freiheitsberaubung, oder die rohe Behandlung, die schlechte Kost, die abscheuliche Luft bewirkt das – sondern der moralische Chok, den man erleidet, wenn man zum erstenmal hineinfällt.«

»Haben auch Sie Erfahrungen gemacht?«

»Ich habe zweimal gesessen,« sagte die Tante mit einem schwermütigen Lächeln. »Als ich zum erstenmal – gleichfalls unschuldig – verhaftet wurde, zählte ich zweiundzwanzig Jahre, ich hatte ein Kind und erwartete ein zweites. Wie schwer mir damals auch die Trennung von dem Kinde, von dem Manne fiel – alles das bedeutete nichts im Vergleich zu der Empfindung, daß ich aufgehört hatte, ein Mensch zu sein, daß ich zu einer Sache geworden. Ich wollte meinem Töchterchen Lebewohl sagen – und man sagte mir, daß ich mich sofort in die Droschke setzen solle. Ich fragte, wohin man mich bringe – und man antwortete mir, ich würde es erfahren, wenn ich dort sei. Auf die Frage, wessen ich angeklagt sei, bekam ich überhaupt keine Antwort. Als ich nach dem Verhör meine Kleider ausziehen und das Gefängniskleid mit der Nummer anziehen mußte, als ich dann durch die Gewölbe geführt wurde, als man eine Tür aufschloß und mich hineinstieß, als das Schloß von draußen zugeschlossen wurde und alle fortgingen bis auf die Wache, die schweigend hin und her ging und von Zeit zu Zeit durch das Guckloch in meiner Tür blickte – da wurde mir ganz entsetzlich zumute. Am meisten hatte mich der Umstand erschüttert, daß der Gendarmerieoffizier, der mich verhörte, mir eine Zigarette anbot: er wußte also, daß die Menschen gern rauchen, wußte sicher auch, daß sie die Freiheit und das Licht lieben, daß die Mütter ihre Kinder und die Kinder ihre Mütter lieben – warum hatte man mich also von alledem losgerissen und mich gleich einem wilden Tiere eingesperrt? Ich habe seit jener Zeit aufgehört, an die Menschen zu glauben, und wurde erbittert,« schloß sie lächelnd ihre Rede.

Nach einer Weile kehrte die Mutter zurück und erklärte, daß Lidoschka sich sehr angegriffen fühle und nicht mehr erscheinen werde.

»Warum hat man nun dieses junge Leben vernichtet?« sagte die Tante. »Ganz besonders schmerzt es mich, weil ich, ohne es zu wollen, die Ursache davon war.«

»So Gott will, wird sie sich auf dem Lande erholen,« sagte die Mutter, »wir schicken sie zum Vater.«

»Ja, wenn Sie nicht gewesen wären, wäre sie ganz zugrunde gegangen,« sagte die Tante zu Nechljudow. »Herzlichen Dank dafür! Wenn ich Sie ersuchen ließ, hierher zu kommen, so geschah es, weil ich Sie bitten wollte, Wjera Jefremowna einen Brief zu übergeben,« sagte sie, den Brief aus der Tasche ziehend. »Der Brief ist nicht verschlossen, Sie können ihn lesen, können ihn zerreißen oder übergeben, wie Sie es Ihren Überzeugungen nach für richtiger halten,« sagte sie. »Es ist nichts Kompromittierendes darin enthalten.«

Nechljudow nahm den Brief und versprach, ihn zu übergeben. Dann stand er auf, verabschiedete sich und ging auf die Straße hinaus.

Er verschloß den Brief, ohne ihn gelesen zu haben, und nahm sich vor, ihn der Person, für die er bestimmt war, zu übergeben.


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