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Es blieb für Nechljudow jetzt in Petersburg nur noch die Angelegenheit der Sektierer zu ordnen. Er wollte die in dieser Sache einzureichende Bittschrift an den Zaren seinem ehemaligen Regimentskameraden Bogatyrew zur Weiterbeförderung übergeben und traf diesen gerade, als er eben nach dem Frühstück das Haus verlassen wollte. Bogatyrew war, wie er schon in seinem Briefe erklärt hatte, bereit, die Bittschrift dem Herrscher persönlich zu übergeben, doch meinte er, es würde vielleicht besser sein, wenn Nechljudow zuerst zu Toporow fahren würde.
Bei der Erwähnung dieses Namens runzelte Nechljudow die Stirn.
»Alles hängt zuletzt doch von ihm ab,« meinte Bogatyrew, »man wird auf jeden Fall seine Ansicht über die Sache einholen.«
»Wenn du mir dazu rätst, fahre ich natürlich hin,« sagte Nechljudow.
»Ja, tu es – vielleicht wird er selbst deinen Wunsch erfüllen,« meinte der liebenswürdige Bogatyrew. »Na, und tut er es nicht, dann bringst du die Bittschrift eben zu mir; schon morgen werde ich sie übergeben.«
Sie traten beide zusammen in den Flur, und Nechljudow verabschiedete sich von dem Kameraden, dessen gesundes, frisches Wesen einen angenehmen Eindruck auf ihn machte.
Nechljudow erwartete nicht allzuviel von seinem Besuche bei Toporow, von dessen Entscheidung die Sache der Sektierer abhing. Toporows Amt bestand darin, daß er die Kirche und ihre Einrichtungen mit äußerlichen Mitteln, unter Einschluß der Gewalt, gegen ihre Feinde zu verteidigen hatte, und er hielt sehr ernsthaft darauf, daß ja kein andersgläubiger Geistlicher oder Sektierer diese Kirche zerstöre, die nach seiner Meinung für das Volk unumgänglich notwendig war, während er selbst in der Tiefe seiner Seele an die Lehren dieser Kirche längst nicht glaubte.
Im Empfangszimmer wurde Nechljudow von einem Beamten für besondere Aufträge über seine Sache befragt. Als der Beamte erfuhr, daß Nechljudow es übernommen habe, eine von Sektierern ausgehende Bittschrift an den Kaiser zu übergeben, fragte er ihn, ob er ihm nicht die Bittschrift zur Durchsicht übergeben wolle. Nechljudow reichte sie ihm hin, und der Beamte begab sich mit dem Schriftstück in das Kabinett. Eine ganze Weile wartete Nechljudow nun vergeblich, daß man ihn zum Nähertreten auffordern würde.
Inzwischen sah Toporow kopfschüttelnd die Bittschrift durch, von deren klarem, kräftig abgefaßtem Wortlaut er peinlich berührt ward. Wenn diese Bittschrift in die Hände des Herrschers kam, konnte sie leicht unangenehme Fragen und Mißverständnisse hervorrufen, sagte er sich, als er das Schriftstück zu Ende gelesen hatte. Schon einmal hatte er eine Bittschrift dieser Sektierer in Händen gehabt: es handelte sich darum, daß man diese von der rechtgläubigen Kirche abgefallenen Leute zuerst ermahnt, dann aber den Gerichten übergeben hatte, die sie jedoch freisprachen, worauf der Bischof und der Gouverneur beschlossen, auf Grund der Ungesetzlichkeit der Ehen dieser Sektierer die Männer, Frauen und Kinder an verschiedene Verbannungsorte getrennt zu verschicken. Diese Männer und Frauen baten jetzt, daß man sie wieder vereinigen möchte. Schon das erstemal hatte Toporow geschwankt, ob er dem Wunsche der Bittsteller nicht willfahren solle; er hatte sich jedoch schließlich auf die Seite des Bischofs gestellt, der einen so großen Eifer bewiesen, und so war es beim alten geblieben. Durch einen Verteidiger wie Nechljudow aber, der in Petersburg gute Verbindungen hatte, konnte die Sache auf Umwegen dem Kaiser vorgelegt und die Maßregel als grausam dargestellt werden, auch konnte die Angelegenheit leicht in die ausländische Presse gelangen. Toporow faßte daher einen unerwarteten Entschluß – er legte das Schriftstück auf den Tisch, klingelte und ließ Nechljudow in sein Kabinett bitten.
Er begrüßte Nechljudow mit der Miene eines vielbeschäftigten Mannes, empfing ihn im Stehen und ging sogleich zur Sache über.
»Ich kenne diese unglückliche Angelegenheit,« begann er – »sobald ich nur die Namen las, erinnerte ich mich ihrer sogleich. Und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich daran erinnern – die Gouvernementsbehörden sind da wirklich zu eifrig gewesen. Ich werde anordnen, daß die Maßregel zurückgenommen wird, und daß die Leute wieder nach ihrer Heimat zurückbefördert werden.«
»Ich brauche also nichts weiter zu unternehmen, damit die Bittschrift weitergegeben wird?« sagte Nechljudow.
»Sicherlich nicht – ich verspreche Ihnen, die Sache zu erledigen,« sagte er, das Wort »ich« ganz besonders hervorhebend. »Oder, noch besser: ich schreibe sogleich. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen.«
Er setzte sich an den Tisch und schrieb, während Nechljudow, ohne sich zu setzen, auf seinen schmalen, kahlen Schädel und die von dicken blauen Adern durchzogene, rasch schreibende Hand blickte und sich verwundert fragte: »Warum tut er das nur, und warum tut er es so hastig, während er doch sonst gegen alles so gleichgültig scheint?«
»Hier,« sagte Toporow, das Kuvert schließend. »Sie können Ihren Schützlingen selbst die Nachricht übermitteln,« fügte er hinzu, während er sein Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen suchte.
»Warum haben nun diese Leute gelitten?« fragte Nechljudow, als er das Kuvert entgegennahm.
Toporow hob den Kopf empor und lächelte, als ob Nechljudows Frage ihm Spaß machte.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen,« entgegnete er. »Ich kann nur sagen, daß die Interessen des Volkes, die wir zu beschützen haben, von solcher Wichtigkeit sind, daß ein zu großer Eifer in diesen Dingen weniger schädlich ist, als die große Gleichgültigkeit, die jetzt mehr und mehr überhand nimmt.«
»Aber wie konnten denn im Namen der Religion die allereinfachsten Forderungen des Guten so verletzt werden? Man hat die Familien getrennt ...«
Toporow lächelte noch immer ebenso nachsichtig – Nechljudows Frage kam ihm von seinem eigenen, staatsmännischen Standpunkte gar zu kindlich vor.
»Als Privatmann kann man die Sache wohl so auffassen,« sagte er – »für den Staatsmann jedoch stellt sie sich etwas anders dar. Übrigens, ich habe die Ehre,« sprach er, neigte den Kopf und reichte Nechljudow die Hand.
Nechljudow drückte sie und ging rasch, ohne noch ein Wort zu sagen, hinaus – er bereute, die Hand dieses Menschen gedrückt zu haben.
Nechljudow wäre noch am Abend desselben Tages abgereist, aber er hatte Mariette versprochen, sie im Theater aufzusuchen, und obschon er sich sagte, daß er es nicht tun sollte, fuhr er doch hin, indem er sein Gewissen damit beschwichtigte, daß er sich sagte, er müsse das einmal gegebene Wort halten. Außer dem Wunsche, Mariette noch einmal zu sehen, wandelte ihn auch die Lust an, sich, wie er sich einredete, »zum letzten Male« mit dieser Welt zu messen, die ihm einmal so nahegestanden, und die ihm jetzt so fremd geworden war.
»Ob ich wohl diesen Lockungen standhalten werde?« fragte er sich nicht ganz aufrichtig. »Ich will mich zum letzten Male prüfen.«
Er zog den Frack an und kam zum zweiten Akt der ewigen »Kameliendame«, in der eine gastierende Schauspielerin noch auf eine neue Art zeigte, wie schwindsüchtige Frauen sterben.
Das Theater war voll, und man wies Nechljudow sogleich höchst respektvoll nach Mariettes Parterreloge. Im Korridor stand ein Lakai in Livree, verbeugte sich vor ihm wie vor einem Bekannten und öffnete ihm die Tür.
Die Zuschauer waren ganz in die Betrachtung einer reich ausgeputzten, in Spitzen und Seide gekleideten, knochigen Schauspielerin versunken, die unter übertriebenen Geberden mit unnatürlicher Stimme einen Monolog hersagte. Irgend jemand zischte, als die Logentür sich öffnete; und zwei Luftströme, ein warmer und ein kalter, streiften das Gesicht Nechljudows.
In der Loge befanden sich Mariette und eine unbekannte Dame in einem roten Überwurf, mit einer großen, schweren Frisur, sowie zwei Herren – Mariettes Gatte, der General, ein stattlicher Mann von hoher Statur, mit strengem, undurchdringlichem Gesichte, einer Adlernase und einer hohen, mittels Watte und Steifleinwand hergestellten Militärbrust, und ein blonder, glatzköpfiger Mann mit einem ausrasierten Grübchenkinn zwischen zwei prächtigen Bartkoteletten. Mariette, graziös, schlank und elegant, trug ein tief ausgeschnittenes Kleid, das ihre kräftigen, muskulösen, vom Hals abfallenden Schultern mit dem dunklen Muttermal tief im Nacken sehen ließ. Sie sah sich sogleich um und zeigte Nechljudow mit dem Fächer nach dem hinter ihr stehenden Stuhle, wobei ein willkommenheißendes, dankbares und, wie ihm schien, bedeutsames Lächeln über ihre Züge glitt. Ihr Mann blickte mit der Ruhe, die ihm bei allem Tun eigen war, auf Nechljudow und neigte den Kopf. An dem Blicke, den er mit seiner Frau wechselte, sah man sogleich, daß er sich als den Herrn, den Besitzer seiner schönen Frau fühlte.
Als der Monolog zu Ende war, erdröhnte das Parkett von frenetischem Beifall. Mariette erhob sich und ging, den rauschenden seidenen Rock zusammenraffend, in den hinteren Teil der Loge, um Nechljudow mit ihrem Manne bekannt zu machen. Der General, der beständig mit den Augen lächelte, sagte, er sei sehr erfreut, und schwieg dann wieder in undurchdringlicher Ruhe.
»Ich hätte eigentlich heute abreisen sollen, aber ich hatte Ihnen die Zusage gegeben ...« sagte Nechljudow, zu Mariette gewandt.
»Wenn Sie auch mich nicht hätten sehen wollen – diese berühmte Schauspielerin mußten Sie doch sehen!« versetzte Mariette, auf den Sinn seiner Worte eingehend. »In der letzten Szene war sie doch ausgezeichnet, nicht wahr?« wandte sie sich an ihren Mann.
Der General nickte mit dem Kopfe.
»Das macht auf mich wenig Eindruck,« sagte Nechljudow. »Ich habe heute so viel wirkliches Unglück gesehen, daß ...«
»Ach ja, setzen Sie sich, erzählen Sie!«
Ihr Mann hörte zu, und seine Augen lächelten dabei immer ironischer.
»Ich war heute bei jener Person, die so lange in Haft war und nun freigelassen wurde – sie ist ein völlig geknicktes Geschöpf!«
»Es handelt sich um jenes Mädchen, von dem ich dir sprach,« sagte Mariette zu ihrem Gatten.
»Ja, ich freute mich sehr, daß sie freigelassen werden konnte,« erwiderte er ruhig, nickte mit dem Kopfe und lächelte, wie es Nechljudow schien, jetzt nicht mehr bloß mit den Augen, sondern auch unter dem Schnurrbart recht ironisch. »Ich will etwas rauchen gehen.«
Nechljudow saß da und erwartete, daß Mariette ihm jenes »Etwas« sagen würde, das sie ihm zu sagen hatte; doch sie sagte ihm nichts und versuchte nicht einmal, ihm etwas zu sagen, sondern scherzte und sprach von dem Stücke, das nach ihrer Ansicht Nechljudow ganz besonders ergriffen haben mußte.
Nechljudow sah, daß sie ihm einfach nichts zu sagen hatte, sondern sich ihm nur im vollen Reiz ihrer Abendtoilette, mit ihren schönen Schultern und dem Muttermal, zeigen wollte – und er hatte ein zugleich angenehmes und peinliches Gefühl. Jener Schleier des Lockenden, Reizvollen, der gestern über ihr Wesen gebreitet schien, war jetzt für ihn zwar noch nicht gelüftet, aber er sah doch schon, was unter dem Schleier war. Wenn er Mariette so ansah, empfand er zwar ein Wohlgefallen an ihr, zugleich aber sagte er sich, daß sie eine Lügnerin sei und höchst einträchtig mit einem Manne zusammenlebe, der seine Karriere um den Preis der Tränen von Hunderten und Aberhunderten von Menschen machte. Er sagte sich, daß alles, was sie gestern gesprochen, unwahr gewesen, und daß sie einfach ein Gelüste empfunden hatte, ihn in sich verliebt zu machen – weshalb, wußte er und wußte wohl auch sie nicht zu sagen. Und alles dies erschien ihm einerseits anziehend, andererseits aber widerwärtig. Er war mehrmals im Begriff zu gehen, nahm seinen Hut – und blieb doch wieder. Als dann aber ihr Mann, mit dem Tabakgeruch in dem dichten Schnurrbart, in die Loge zurückkam und ihn mit gönnerhafter Geringschätzung wie einen Unbekannten anblickte, ging er, noch bevor die Logentür sich hinter dem General geschlossen hatte, in den Korridor hinaus, nahm seinen Paletot und verließ das Theater.
Als er, auf dem Newskij Prospekt entlang gehend, nach Hause zurückkehrte, sah er vor sich eine hochgewachsene, sehr gut gebaute und herausfordernd geputzte Frau daherschreiten. Alle, die ihr begegneten oder sie überholten, sahen ihr ins Gesicht. Nechljudow ging schneller als sie, und auch er blickte sie unwillkürlich an. Ihr Gesicht, das sie anscheinend geschminkt hatte, war schön, und sie lächelte Nechljudow zu und blitzte ihn mit ihren Augen an. Und seltsamerweise mußte Nechljudow sogleich an Mariette denken, denn er hatte auch hier dieselbe Empfindung wie bei jener im Theater: sie zog ihn zugleich an und stieß ihn ab. Er ging rasch an ihr vorüber, lenkte, auf sich selbst böse, in die Morskaja ein, gelangte auf den Quai und begann dort, zum Erstaunen der Polizisten, auf und ab zu gehen.
»Ganz ebenso lächelte auch jene im Theater mir zu, als ich. eintrat,« dachte er – »und derselbe Sinn lag in jenem wie in diesem Lächeln. Der Unterschied liegt nur darin, daß diese hier einfach und ohne Umschweife spricht: ›Brauchst du mich, dann nimm mich – brauchst du mich nicht, dann geh vorüber.‹ Die andere aber stellt sich so, als denke sie gar nicht an solche Dinge, sondern lebe in irgendeiner höheren Gefühlssphäre, und doch ist's im Grunde genommen dasselbe. Diese hier ist wenigstens aufrichtig, während jene dort log. Und nicht genug daran: diese ist durch die Not in ihre Lage geraten, jene aber spielt und unterhält sich mit dieser schönen, abscheulichen, schrecklichen Leidenschaft. Diese Frau von der Straße ist wie ein Trunk schmutzigen, übelriechenden Wassers, der denjenigen angeboten wird, bei denen der Durst stärker ist als der Ekel; jene im Theater ist Gift, das unmerklich alles durchsetzt und vergiftet, wohin es gerät. Nechljudow dachte an seine Beziehungen zu der Frau des Adelsmarschalls, und beschämende Erinnerungen drangen auf ihn ein.
»Wie widerlich ist doch dieses Tierische im Menschen,« dachte er. »Erscheint es unverfälscht, dann kannst du es von der Höhe deines geistigen Lebens verachten – ob du fällst oder widerstehst, jedenfalls bleibst du derselbe, der du vorher gewesen; sobald aber dieses Tierische sich unter einer vermeintlich ästhetischen, poetischen Hülle verbirgt und Verehrung fordert, dann gehst du, indem du ihm Anbetung zollst, selbst ganz im Tierischen auf und vermagst gut und böse nicht mehr zu unterscheiden, und das ist dann furchtbar.«
Nechljudow sah das jetzt ganz klar, wie er den Fluß mit den Booten darauf, die Paläste, die Schildwachen und die Festung am andern Ufer sah. Und wie in dieser Nacht kein beruhigendes, Erholung spendendes Dunkel sich auf die Erde senkte, sondern ein unklares, freudloses, unnatürliches Licht, dessen Quelle man nicht sah, so gab es auch in Nechljudows Seele nicht mehr jenes Dunkel des Nichtwissens, das ihm Ruhe gewährt hätte, sondern Helligkeit und Licht. Es war ihm nun klar, daß alles das, was die Menschen für wichtig und gut halten, in Wahrheit nichtig oder widerwärtig ist, und daß all dieser Glanz, all diese Pracht nur alte Verbrechen verdeckt, an die sich die Menschen gewöhnt haben, die nicht nur nicht bestraft wurden, sondern triumphieren durften und von den Menschen mit allen Reizen, die sie nur irgend erdenken konnten, ausgeschmückt wurden.
Nechljudow wollte das vergessen, wollte es nicht sehen, doch konnte er nicht umhin, es trotz alledem zu sehen. Wenn er auch die Quelle des Lichtes nicht wahrnahm, bei dem sich ihm das alles offenbarte, wie er die Quelle des Lichtes nicht sah, das über Petersburg lag, und wenn auch dieses Licht ihm unklar, freudlos und unnatürlich erschien, konnte er doch nicht anders als eben sehen, was sich ihm bei diesem Lichte offenbarte, und es ward ihm zugleich freudig und bang zu Mute.