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Mit einem Gefühl der Beklemmung und des heimlichen Bangens, das ihm der Gedanke, in welcher Verfassung er wohl heute die Maslowa antreffen würde, wie überhaupt ihr ganzes Wesen und diese Zusammenpferchung von Menschen im Gefängnis verursachte, zog Nechljudow am Haupteingang die Klingel und fragte den Aufseher, der zu ihm hinaustrat, nach der Maslowa. Der Aufseher erkundigte sich und sagte, sie sei im Krankenhause. Nechljudow begab sich ins Krankenhaus. Der Krankenhauswächter, ein gutmütiges altes Männchen, ließ ihn sogleich ein und wies ihn, als er hörte, wen er sprechen wollte, nach der Kinderabteilung.
Ein junger Arzt, der sehr stark nach Karbolsäure roch, trat zu Nechljudow in den Korridor und fragte ihn in strengem Tone, was er wünsche. Dieser Arzt suchte den Gefangenen alle möglichen Erleichterungen zu verschaffen und hatte deshalb beständig unangenehme Zusammenstöße mit der Gefängnisverwaltung und sogar mit dem Oberarzt. Da er fürchtete, daß Nechljudow vielleicht von ihm irgendetwas Ungesetzliches verlangen könnte, und überdies zeigen wollte, daß er niemandem gegenüber eine Ausnahme mache, so stellte er sich absichtlich streng.
»Hier sind keine Frauen, hier sind die Kindersäle,« sagte er.
»Ich weiß es, aber hier befindet sich eine Wärterin, die vom Gefängnis aus hergeschickt wurde.«
»Ja, hier gibt es zwei solche Frauen. Was wünschen Sie also?«
»Ich kenne die eine von ihnen – die Maslowa – näher,« sagte Nechljudow, »und ich möchte sie sehen. Ich fahre nach Petersburg, um in ihrem Namen ein Kassationsgesuch einzureichen. Dann möchte ich ihr auch noch dies hier übergeben – es ist nur eine Photographie,« sagte Nechljudow, während er das Kuvert mit dem Gruppenbilde aus der Tasche zog.
»Dem steht nichts entgegen,« versetzte der Arzt in mildem Tone. Er wandte sich an eine alte Frau in einer weißen Schürze und sagte ihr, sie möchte die Gefangene Maslowa, die zur Pflege hier wäre, herbeirufen. »Wollen Sie nicht Platz nehmen, oder wenigstens ins Empfangszimmer gehen?«
»Ich danke Ihnen,« sagte Nechljudow. Er wollte sich die freundlichere Stimmung des Arztes zu nutze machte und fragte ihn, wie man im Krankenhause mit der Maslowa zufrieden sei.
»Ganz gut, sie macht ihre Sache nicht schlecht – wenn man in Betracht zieht, in welchen Verhältnissen sie bisher gelebt hat,« antwortete der Arzt. »Übrigens, da ist sie.«
Aus einer Tür trat die alte Wärterin, und ihr folgte die Maslowa. Sie trug eine weiße Schürze über einem gestreiften Kleide und auf dem Kopfe ein Tuch, das ihr Haar verbarg. Sobald sie Nechljudow erblickte, errötete sie jäh, blieb wie unschlüssig stehen, runzelte dann die Stirn und kam, die Augen niederschlagend, auf dem Korridorläufer mit raschen Schritten auf ihn zu. Als sie vor ihm stand, wollte sie ihm zuerst nicht die Hand reichen, gab sie ihm dann aber doch und errötete noch mehr. Nechljudow hatte sie seit jenem Zusammentreffen, bei dem sie sich wegen ihrer Heftigkeit entschuldigt hatte, nicht gesehen, und er erwartete sie jetzt ebenso zu finden wie damals. Sie war jedoch heute eine ganz andere, in ihrem Gesichtsausdruck lag etwas Neues, etwas Zurückhaltendes, Verlegenes, das, wie ihm schien, nicht zu seinen Gunsten zu deuten war. Er sagte ihr dasselbe, was er bereits dem Arzte gesagt hatte – daß er nach Petersburg reise, und übergab ihr das Kuvert mit der Photographie, die er aus Panowo mitgebracht hatte.
»Das habe ich in Panowo gefunden – eine alte Photographie, vielleicht macht es Ihnen eine kleine Freude. Behalten Sie sie!«
Sie zog die schwarzen Brauen empor und sah ihn mit ihren schielenden Augen verwundert an, als wollte sie fragen: wozu das? Dann nahm sie schweigend das Kuvert und steckte es hinter die Schürze.
»Ich habe dort Ihre Tante gesehen,« sagte Nechljudow.
»So – haben Sie sie gesehen?« versetzte sie gleichgültig.
»Wie gefällt es Ihnen hier?« fragte Nechljudow.
»Ich danke, gut,« sagte sie.
»Ist der Dienst nicht zu anstrengend?«
»Nein, gar nicht. Ich bin nur noch nicht daran gewöhnt.«
»Ich bin sehr froh, daß Sie hier sind. Es ist immer besser als dort.«
»Dort? Wo – dort?« sagte sie, und helle Röte übergoß ihr Gesicht.
»Dort, im Gefängnis,« sagte Nechljudow rasch.
»Inwiefern ist's hier besser?« sagte sie.
»Ich glaube, die Menschen sind hier besser. Es gibt hier keine solchen wie dort.«
»Dort sind viele gute Menschen,« sagte sie.
»Wegen der Menjschows habe ich Schritte getan, ich hoffe, daß sie freikommen werden,« sagte Nechljudow.
»Das gebe Gott, sie ist ein so prächtiges altes Mütterchen,« sagte sie, ihre Charakteristik der alten Menjschowa wiederholend, und lächelte dabei.
»Ich reise heute nach Petersburg ab. Ihre Sache wird bald zur Verhandlung kommen, und ich hoffe, daß das Urteil aufgehoben wird.«
»Ob sie es aufheben oder nicht – jetzt ist alles gleich,« sagte sie.
»Warum ›jetzt‹?«
»So,« sagte sie und sah ihm flüchtig, mit einem fragenden Blicke, ins Gesicht.
Nechljudow verstand dieses Wort und diesen Blick in dem Sinne, als wolle sie wissen, ob er an seinem Entschlüsse noch festhalte, oder ob er sich mit ihrem abschlägigen Bescheid zufrieden gebe und von seiner Absicht abstehe.
»Ich weiß nicht,« sagte er, »warum Ihnen jetzt alles gleich ist. Mir ist es in der Tat jetzt gleich, ob Sie freigesprochen werden oder nicht. Ich bin in jedem Falle bereit, das zu tun, was ich gesagt habe,« sprach er in bestimmtem Tone.
Sie hob den Kopf empor, und ihre schielenden schwarzen Augen waren voll auf sein Gesicht gerichtet, daß sie zugleich ihn anzusehen und an ihm vorüberzusehen schien. Sie strahlte vor Freude über das ganze Gesicht. Doch sagte sie etwas ganz anderes, als ihre Augen zu sagen schienen.
»Es hat keinen Zweck, was Sie da sagen,« sprach sie.
»Ich sage es nur, damit Sie es wissen.«
»Darüber ist schon alles gesagt und nicht weiter zu reden,« entgegnete sie, nur mühsam ein Lächeln unterdrückend.
Vom Saale her ließ sich ein Geräusch vernehmen. Man hörte das Weinen eines Kindes.
»Ich glaube, man ruft mich,« bemerkte sie, sich unruhig umsehend.
»Nun, dann leben Sie wohl,« sagte er.
Sie tat, als sehe sie nicht, daß er ihr die Hand entgegenstreckte, und ohne sie zu drücken, wandte sie sich um und ging, nur mühsam ihren Triumph verbergend, mit raschen Schritten auf dem Korridorläufer davon.
»Was geht in ihr vor? Wie denkt, wie fühlt sie? Will sie mich nur auf die Probe stellen, oder kann sie mir wirklich nicht verzeihen? Kann oder will sie mir das alles nicht sagen, was sie denkt und tut? Ist sie milder gestimmt, oder ist ihre Erbitterung noch gestiegen?« fragte sich Nechljudow und vermochte sich auf alle diese Fragen keine Antwort zu geben. Eins wußte er jedenfalls: daß sie anders geworden war, daß in ihrer Seele eine wichtige Wandlung sich vollzog, die sie nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem vereinigte, in dessen Namen diese Wandlung geschah. Und diese Vereinigung versetzte ihn in eine freudig erregte, rührungsvolle Stimmung.