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Der Advokat ließ Nechljudow außer der Reihe vor und begann sogleich von dem Prozesse der Menjschows zu reden, dessen Akten er durchgelesen hatte. Er war außer sich über die gänzlich unbegründete Anklage.
»Die Sache ist einfach empörend,« sagte er. »Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Brandstiftung von dem Besitzer selbst verübt wurde, dem es um die Versicherungsprämie zu tun war. Doch zunächst handelt es sich nicht um seine Schuld, sondern vielmehr um den Nachweis, daß die Menjschows unschuldig sind. Für ihre Schuld liegen nicht die geringsten Beweise vor. Das ist dem besonderen Eifer des Untersuchungsrichters und der Nachlässigkeit des Staatsanwaltsgehilfen zu danken. Wenn die Sache nur nicht in der Kreisstadt zur Verhandlung kommt – hier, bei uns, bürge ich Ihnen für einen Erfolg, ich würde die Verteidigung sogar ohne jedes Honorar übernehmen. Nun die andere Sache: das Gnadengesuch der Fedoßja Birjukowa ist aufgesetzt. Wenn Sie nach Petersburg fahren, nehmen Sie es, bitte, mit, reichen Sie es selbst ein und verwenden Sie sich dafür. Sonst erfolgen erst allerhand Anfragen, und es kommt bei der Sache nichts heraus. Suchen Sie jedenfalls die Bekanntschaft von Persönlichkeiten zu machen, die in der Bittschriftenkommission Einfluß haben. So – das wäre wohl alles?«
»Doch nicht. Man schreibt mir noch ...«
»Sie sind da, wie ich sehe, zu einer Art Trichter, einem Flaschenhalse geworden, durch den sich alle Beschwerden des Gefängnisses ergießen,« sagte lächelnd der Advokat. »Es ist schon gar zu viel, Sie werden es nicht bewältigen.«
»Nein, es handelt sich da wirklich noch um eine besondere Sache,« sagte Nechljudow und erzählte kurz die Geschichte eines schriftkundigen Bauern, der im Dorfe mit seinen Freunden zusammen das Evangelium gelesen und es ihnen erklärt hatte. Auf Betreiben der Geistlichkeit war einzig deshalb eine Untersuchung gegen ihn eröffnet und die Anklage erhoben worden.
»Ja – was wundert Sie denn daran?«
»Nicht weniger als alles. Ich kann einen Polizeiwachtmeister begreifen, der Ordre parieren muß – aber der Staatsanwaltsgehilfe, der die Anklage erhebt – der ist doch ein gebildeter Mensch! ...«
»Darin liegt eben der Irrtum, daß wir anzunehmen geneigt sind, unsere Gerichtsbeamten seien liberale Leute. Vielleicht sind sie das einmal gewesen, heute aber steht die Sache anders. Sie sind einfach Beamte, deren Sorge sich einzig und allein um den Zwanzigsten In Rußland der Tag des Gehaltsempfangs. dreht. Der Mann bekommt sein Gehalt, möchte aber noch mehr haben, denn er braucht noch mehr – das ist der Inbegriff seiner Prinzipien. Er wird anklagen, richten, verurteilen, wen Sie wollen ... Ich sage den Herren Richtern stets,« fuhr er fort, »daß ich meinen Blick immer nur mit Dankbarkeit zu ihnen erhebe, denn wenn ich, oder Sie, oder überhaupt wir alle nicht hinter Schloß und Riegel sitzen, so schulden wir das einzig ihrer Güte.«
»Aber wenn alles von der Willkür dieser Herren abhängt – was sollen dann die Gerichte?«
Der Advokat lachte ganz vergnügt.
»Was für Fragen Sie stellen! Nun, Väterchen, das ist Philosophie. Gewiß, man kann sich auch darüber unterhalten. Kommen Sie doch am Sonnabend zu uns, Sie treffen bei uns eine ganze Schar von Gelehrten, Literaten und Künstlern. Dann wollen wir diese allgemeinen Fragen aufs Tapet bringen,« sagte der Advokat, den Ausdruck »allgemeine Fragen« mit ironischem Pathos hervorhebend. »Sie kennen doch meine Frau? Kommen Sie, bitte!«
»Ja, ich will zusehen,« sagte Nechljudow. Er fühlte, daß er eine Unwahrheit sagte, denn an nichts in der Welt lag ihm weniger als an dieser Abendgesellschaft bei dem Advokaten, samt all den Gelehrten, Literaten und Künstlern.
Er verabschiedete sich. Bis zum Gefängnis war es noch weit, und es war schon spät, und darum nahm er eine Droschke und fuhr hin. Auf einer der Straßen wandte sich der Kutscher, ein Mann in mittleren Jahren mit klugem, gutmütigem Gesichte, zu Nechljudow um und zeigte nach einem ungeheuren Gebäude, das dort im Bau begriffen war.
»Da, was für ein mächtiges Haus sie hier aufgerichtet haben!« sagte er, als habe er selbst den Bau mit veranlaßt und sei stolz auf ihn.
In der Tat war es ein auffallend großes Haus, das da in irgendeinem ungewöhnlichen Stil errichtet wurde. Ein festes Gerüst aus mächtigen Tannenbalken, die durch eiserne Klammern zusammengehalten wurden, umgab den Bau, der durch einen Bretterzaun von der Straße getrennt war. Auf den Absätzen des Baugerüstes wimmelten gleich Ameisen kalkbespritzte Arbeiter umher: die einen mauerten, die andern meißelten an Steinblöcken herum, noch andere trugen Mulden und Kübel mit Baumaterial hinauf oder brachten sie leer herunter.
Ein dicker, elegant gekleideter Herr, wahrscheinlich der Architekt, stand neben dem Baugerüst, zeigte nach oben und sprach mit dem respektvoll zuhörenden Unternehmer, dem man seine Herkunft aus der Gegend von Wladimir ansah. Aus dem Tor fuhren leere Wagen, an dem Architekten und dem Unternehmer vorüber, während beladene hineinfuhren.
»Und wie fest sie alle, die Arbeitenden wie die Arbeitgeber, davon überzeugt sind, daß das alles so sein müsse, daß, während ihre Frauen daheim über ihre Kräfte arbeiten und ihre Kinder in den Flickenhäubchen angesichts des drohenden Hungertodes greisenhaft lächeln und mit den Beinchen zappeln, sie dieses dumme, überflüssige Haus für irgend einen dummen, überflüssigen Menschen bauen müssen!« dachte Nechljudow, während er das Haus betrachtete.
»Ja, ein verdammt dummes Haus,« sagte er, seinen Gedanken laut aussprechend.
»Wieso denn dumm?« versetzte der Kutscher gekränkt. »Es gibt den Leuten wenigstens Arbeit, daran ist doch nichts Dummes!«
»Aber es ist keine notwendige Arbeit.«
»Wenn man baut, wird sie schon notwendig sein,« sagte der Kutscher. »Sie schafft doch den Leuten Brot!«
Nechljudow schwieg, zumal das Wagengerassel die Unterhaltung erschwerte. Kurz vor dem Gefängnis bog der Kutscher von der gepflasterten Straße auf die Chaussee ab, so daß das Sprechen erleichtert wurde, und er wandte sich wieder an Nechljudow.
»Wie viel Volk jetzt in der Stadt zusammenströmt – nicht zu sagen ist's!« sagte er, während er sich auf dem Bock umwandte und Nechljudow auf eine Gruppe ländlicher Arbeiter aufmerksam machte, die in Halbpelzen, mit Sägen, Äxten und Säcken über den Schultern, ihnen entgegenkamen.
»Kommen denn jetzt mehr als in früheren Jahren?« fragte Nechljudow.
»Gar kein Vergleich! Jetzt drängen sich die Leute so um jede Stelle, daß es ein Jammer ist. Die Arbeitgeber gehen mit dem Volke um wie mit Holzspänen. Alles wimmelt von Arbeitsuchenden.«
»Wie kommt das nur?«
»Es gibt zu viel Menschen. Wo sollen sie alle bleiben?«
»Was tut's denn, daß ihrer so viel sind? Warum bleiben sie nicht im Dorfe?«
»Was sollen sie da? Es fehlt doch an Land!«
Nechljudow hatte eine ähnliche Empfindung wie jemand, der eine kranke Stelle am Körper hat: es scheint ihm, daß er sich immer wieder an dieser Stelle stößt – es scheint ihm jedoch nur darum so, weil nur die Stöße gegen diese kranke Stelle ihm Schmerz verursachen.
»Überall dieselbe Ursache,« dachte er und begann den Kutscher auszufragen, wie viel Land zu seinem Dorfe gehöre, wie viel er selbst besitze, und warum er in der Stadt lebe.
»Bei uns kommt eine Desjatine auf die Seele, lieber Herr,« erzählte ihm der Kutscher bereitwillig. »Wir nehmen für drei Seelen Land: ich habe den Vater und einen Bruder daheim, ein anderer Bruder ist Soldat. Die beiden bebauen nun das Land, aber was ist da viel zu bebauen! Auch der Bruder wollte nach Moskau kommen.«
»Können sie denn kein Land hinzupachten?«
»Wo sollen sie heute Land pachten? Die Herrchen, die es früher hatten, sind bankerott. Die Kaufleute haben alles Land in Händen, und die geben nichts in Pacht, die bearbeiten alles selber. Bei uns ist ein Franzose, der das Land vom früheren Besitzer gekauft hat. Der verpachtet nichts, abgemacht.«
»Was für ein Franzose?«
»Dufare heißt er, vielleicht haben Sie von ihm gehört. Er macht im ›Großen Theater‹ die Perücken für die Schauspielerinnen. Ein gutes Geschäft, hat ihm viel Geld gebracht. Er hat das ganze Gut von unserem gnädigen Fräulein gekauft. Jetzt ist er unser Herr und reitet auf uns nur so herum. Er selbst ist ein ganz guter Mensch, aber seine Frau, eine Russin, ist ein solches Biest, daß Gott erbarm'. Sie plündert das Volk ganz aus, ein Elend ist's! ... Da ist das Gefängnis. Wo soll ich' halten – an der Einfahrt? Ich glaube nicht, daß Sie eingelassen werden.«