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Ein Mensch verschwindet, und niemand weiß wohin?
Doch die Ereignisse überstürzten sich.
Als ich am nächsten Morgen eben im Begriffe stand, die Redaktion zu verlassen, um direkt zum Bahnhof zu fahren, stürzte mir im letzten Augenblick ein Kollege nach, riß mich zurück und rief: »Denken Sie sich, Bracu! Eben kam ein Telegramm aus Pelteanu! – – An der Fürstin Tatjana Trubakow ist ein Verbrechen verübt worden!«
Ich prallte zurück.
»Was erzählen Sie?! Woher wissen Sie denn?!«
»Hier!«
Er hielt mir ein Depeschenformular unter die Nase.
»Seit heute nacht ist die Fürstin aus ihrem Schlosse spurlos verschwunden«, sagte er.
»Verschwunden?«
»Ja – man nimmt eine Entführung an.«
»Eine Entführung – – durch wen?«
»Balaban! Er ist ebenfalls verschwunden!!«
Das fehlte mir noch. Ich stellte meine Handtasche auf den Boden und rannte in das Zimmer des Direktors, der mir schon an der Treppe entgegentrat.
»Nicu, was sagen Sie zu Tatjana?!« rief er, »ist das nun wieder ein Trick von ihr, um von sich reden zu machen – oder glauben Sie auch, daß, wie man in Pelteanu annimmt, ein Verbrechen vorliegt?«
»Welche Nachrichten liegen denn vor?«
»Nur ein Telegramm! Aber wir erwarten noch nähere Details. Man bringt Balaban mit ihrem Verschwinden in Zusammenhang.«
»Sollte Tete nicht vielleicht nach Bukarest gefahren sein?«
Der Direktor schüttelte den Kopf.
»Wir fragten bereits telephonisch in ihrer hiesigen Villa an. Aber sie ist noch nicht eingetroffen. Der Zug, den sie hätte benutzen können, lief schon vor zwei Stunden hier ein.«
»Weiß von nichts. Die Fürstin pflegt ihre Ankunft sonst telegraphisch anzumelden.«
»Das ist nicht geschehen?«
»Nein! Der Fall erscheint reichlich mysteriös. Ich halte es für das beste, wenn Sie, Nicu, an Ort und Stelle Recherchen einholen.«
»Ich war eben im Begriffe, abzureisen«, sagte ich.
»Wohin?«
»Nach Pelteanu, um die Fürstin zu besuchen und den morgigen Sonntag bei ihr zu verbringen.«
»Warten Sie noch einen Augenblick! Ich habe ein Gespräch mit der Gendarmeriestation von Pelteanu angemeldet. Vielleicht erfahren wir noch Näheres!«
Ich stürzte an den Apparat, um Armand Dupré von dem Ereignis zu verständigen. Doch da geschah etwas sehr Seltsames. Der Beamte in der Gesandtschaftskanzlei bedauerte, mich nicht weiter verbinden zu können. Warum? Monsieur Dupré habe sich heute morgen noch nicht in den Amtsräumen der Legation blicken lassen.
Wo er sei, fragte ich.
Wahrscheinlich noch zu Hause.
Ich rief die Wohnung Armands an, die sich zwar im Palais der Gesandtschaft befand, aber eine andere Telephonnummer hatte. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete. Aber es war nur sein Diener.
»Monsieur le Capitaine ist gestern abend abgereist«, sagte er.
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht, Monsieur Bracu, er ließ keinen Bescheid zurück!«
Ein fürchterlicher Verdacht stieg in mir auf.
»Können Sie mir nicht sagen, André, ob Herr Dupré die Absicht hatte, die Fürstin Tatjana Trubakow in Pelteanu aufzusuchen?«
»Dies kann ich wirklich nicht, Monsieur Bracu.«
»Welchen Zug benutzte er?«
»Das weiß ich nicht, Monsieur Bracu.«
»Sie haben auch keine Ahnung, wann er zurückkehren wollte?«
»Nein! Vielleicht weiß man in der Gesandtschaft Bescheid!«
»Danke!«
Merkwürdig, ja sonderbar war diese plötzliche Abreise Armands! Es lag nahe, einen Zusammenhang mit dem rätselhaften Verschwinden der Fürstin Trubakow anzunehmen. Aber um's Himmelswillen – was hatte bloß Balaban damit zu schaffen?! Er soll doch ebenso spurlos verschwunden sein wie Tete? In meinem Kopfe begann sich alles zu drehen. Armand – Tatjana – der Besuch bei dem Grafen Ezervary, der jähe Entschluß zur Abreise, über deren Ziel kein Mensch Näheres wußte – irgend etwas stimmte da nicht, oder noch besser – stimmte überein.
Ich ließ mir das Kursbuch holen, überflog die Abfahrtzeiten der Expreß- und Schnellzüge, um einen neuen Anhaltspunkt für meinen vagen Verdacht zu ermitteln. Richtig – um 5 Uhr 46 Minuten ging ein Zug in der Richtung Pelteanu ab. Kein Zweifel, daß Armand diesen noch erreichen konnte, wenn er sich bei seinen Einkäufen in der Stadt nicht allzulange aufhielt.
Armand Dupré! Was sollte ich nur von ihm denken? Was war bloß geschehen? Der Expreßzug, der um 5 Uhr 46 Minuten Bukarest verließ, traf fahrplanmäßig um 2 Uhr morgens in der Bahnstation ein, von der aus man das Gut Pelteanu erreichen konnte.
Es wäre wichtig, zu erfahren, zu welchem Zeitpunkt das Verschwinden der Fürstin bemerkt wurde. Das Telegramm ließ nähere Angaben vermissen. Es hieß dort nur, die Fürstin müsse im Laufe der Nacht entführt worden sein. Es sei ausgeschlossen, daß sie freiwillig das Schloß verlassen habe, weil ihre Schlafzimmertür abgesperrt war. Diese Umstände wiesen allerdings auf ein Verbrechen hin.
Aus den Erzählungen Tetes wußte ich, daß man mit dem Wagen von der Bahnstation bis zum Gute Pelteanu ungefähr zwei Stunden benötigte. Armand konnte demnach Pelteanu, sofern der Expreßzug keine Verspätung hatte, kaum vor 4 Uhr früh erreicht haben. Trotz der um diese Zeit noch herrschenden Dunkelheit – man schrieb Ende März – war es nahezu ausgeschlossen, daß er nicht von irgend jemandem gesehen worden war. Zweifellos dürfte er beim Aussteigen dem Fahrtdienstleiter der Station aufgefallen sein. Auch der Kutscher, der Armand nach Pelteanu gebracht hatte, mußte ermittelt werden.
Es war mir klar, daß es wenig Zweck hatte, müßige Erwägungen anzustellen. Nur an Ort und Stelle konnte ich nähere Details in Erfahrung bringen. Vielleicht hatte Armand gar keinen Wagen benutzt. Dann mußte er den Weg zu Fuß zurückgelegt haben? Dann aber konnte er frühestens erst um 6 Uhr früh in Pelteanu gewesen sein. In diesem Falle aber kam er für die Täterschaft nicht mehr in Betracht. Denn zu dieser Zeit pflegte auf dem Gutshofe im allgemeinen schon reges Leben zu herrschen.
Da wurde ich in meinen Überlegungen plötzlich unterbrochen. Am Telephon meldete sich die Gendarmeriestation von Pelteanu. Endlich! Endlich!
»Ist die Fürstin Trubakow schon gefunden worden?«
»Nein!«
»Seit wann wird sie vermißt?«
»Seit heute früh.«
»Hat man in der Nacht nichts Auffälliges bemerkt? Gab es Lärm oder Ähnliches?«
Der Gendarmeriekommandant verneinte. Gleich darauf aber sagte er, daß er keine weiteren Erklärungen abgeben könne, solange er von seiner vorgesetzten Behörde nicht dazu ermächtigt werde.
Eine wichtige Frage stand mir aber noch auf den Lippen. Ich mußte Gewißheit haben, ob Armand wirklich nach Pelteanu gefahren war. Von der Antwort hing es ab, ob mein Verdacht gegen Dupré bestehen blieb.
Dennoch fragte ich nicht, sondern schloß das Gespräch, das mir nicht die geringsten Anhaltspunkte bot, um mich von neuem mit der französischen Gesandtschaft in Verbindung zu setzen. Es gelang mir, den Gesandten persönlich zu sprechen, dem ich nicht unbekannt war.
»Verzeihen Exzellenz die Störung,« begann ich, »es ist mir sehr darum zu tun, Duprés Aufenthalt zu erfahren.«
»Capitaine Dupré hat gestern Bukarest auf einige Tage verlassen.«
»Ich weiß, Exzellenz, aber ich möchte gern wissen ...«
»Wohin er gefahren ist?«
»Ja.«
»Ich bedauere lebhaft, Ihnen keinen Bescheid geben zu können, da ich über seine Absichten nicht orientiert bin. Er hat gestern um drei Tage Urlaub angesucht. Handelt es sich um etwas Wichtiges?«
»In gewissem Sinne doch, Herr Minister, wir erhielten eben die Nachricht, daß die Fürstin Tatjana Trubakow in der heutigen Nacht auf geheimnisvolle Weise aus ihrem Schlosse in Pelteanu verschwunden ist.«
»Ah – das ist allerdings seltsam und dürfte Herrn Dupré sicher sehr interessieren.«
»Darf ich mir vielleicht eine Frage erlauben, Exzellenz? Halten Sie es für möglich, daß Dupré gestern nach Pelteanu gereist ist?«
»Ich glaube nicht,« versetzte der Gesandte rasch, »denn in diesem Falle hätte er mir gegenüber wohl eine Andeutung fallen lassen. Wir bringen ja alle der Fürstin die größte Sympathie entgegen. – Wissen Sie eigentlich schon Genaueres?«
»Nein, leider nicht! Die Meldung kam vor etwa einer halben Stunde. In Pelteanu scheint alles in heller Aufregung zu sein.«
»Handelt es sich nicht vielleicht um einen blinden Alarm? Es wäre doch denkbar, daß sich Tatjana Trubakow freiwillig entfernt hat, ohne ihre Dienerschaft zu benachrichtigen. Sie gilt ja als etwas exzentrisch.«
»Dies dachte ich im ersten Augenblick auch, Exzellenz, aber es sprechen verschiedene Umstände für die Annahme, daß eine gewaltsame Entführung stattgefunden hat.«
»Oh – wer sollte daran ein Interesse nehmen?«
»Das frage ich mich auch, Exzellenz. Auffallend ist es, daß gleichzeitig mit der Fürstin auch der Räuber Balaban spurlos verschwunden ist.«
»Balaban? Ah – den hatte Tatjana Trubakow doch erst kürzlich in ihre Dienste genommen? Wenn ich mich nicht irre – sogar durch Ihre freundliche Vermittlung?«
»Exzellenz scheinen ja glänzend unterrichtet zu sein. Aber es ist Ihnen wirklich nicht möglich, mir zu sagen, wo ich Armand Dupré erreichen könnte?«
»Mit Vergnügen, Monsieur, wenn ich von seinem gegenwärtigen Aufenthalt Kenntnis hätte. Aber dies ist leider nicht der Fall. Jedenfalls werde ich mich noch bei den anderen Herren erkundigen. Man wird Dupré benachrichtigen müssen. Ich persönlich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich über diese Affäre auf dem laufenden halten würden. Sollte ich über Dupré Näheres erfahren, so werde ich Sie anrufen lassen.«
»Zu liebenswürdig, Exzellenz, doch ich bin bereits auf dem Sprunge, um selbst nach Pelteanu zu reisen.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück. Hoffentlich gelingt es Ihnen, die Angelegenheit bald aufzuklären. Bon voyage, monsieur Bracu!« – –
Wieder nichts! Ich hatte nicht den Eindruck, daß mir der Gesandte Armands Aufenthalt aus irgendwelchen Gründen verheimlichen wollte.
Ihm schien gar nicht der Verdacht aufgestiegen zu sein, daß Armand Dupré an dem Verschwinden der Fürstin beteiligt sein konnte. Und dabei sollte man doch annehmen, daß Berufsdiplomaten über eine gewisse Kombinationsgabe verfügen. Aber vielleicht war meine Annahme falsch, die gestrige Abreise des Militärattachés nur ein Zufall, ein kurioser Zufall allerdings, der allzu leicht zu einem Trugschluß verleitete, dann bewegten sich natürlich auch alle daran geknüpften Vermutungen auf einer falschen Fährte.
Es wäre wohl ratsam gewesen, die Bukarester Villa der Fürstin aufzusuchen, um dort Ermittlungen anzustellen, aber dazu blieb mir keine Zeit mehr. In zehn Minuten ging mein Zug. Und der Weg von der Redaktion bis zum Nordbahnhof dehnte sich ein wenig. So packte ich wieder meine Tasche, verabschiedete mich von meinen Kollegen und sprang in das nächste Auto.