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XXV

Von Frau Centa von Vogelschrey

Ich stand mit meinem Mann am Fuß der Innentreppe des Schlosses. Der Poldl berichtete mir in Hast, was in der letzten Stunde an neuen Heimsuchungen Gottes über Vogelöd gekommen war. Allmählich stiegen wir, immer dazwischen stehen bleibend, die Stufen hinauf.

Oben war der Mönch aus Maria Stern bei der Mette, und es geschah so das Unerhörte, daß sie einem Priester eine Schuld unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses bekannte, die gleichzeitig jeder Mensch im Schloß schon wußte.

Dann kam ein mir fremder, kleiner, betagter Ordensvater die Treppe hinab. Sein wohlwollendes und menschenfreundliches Gesicht war verfärbt, erschöpft. Voll von nachträglichem Grauen. Er sah aus, als käme er von einer Teufelsbeschwörung.

» Portrei partire ...?« sagte er hastig, mich höflich begrüßend, zu meinem Mann und entsann sich dann erst, daß er nicht in seiner Heimat Rom war, und wiederholte auf deutsch, ob er einen Wagen angespannt bekommen könne. Der Poldl hat ihn gebeten, sich nach der Fahrt hierher und der seelischen Erschütterung der Beichte erst ein wenig auszuruhen und zu stärken. Aber der hochwürdige Herr wollte nur noch hinüber zur Leiche seines Vetters, indes man die Pferde anschirrte, und dann weg ... weg aus diesem Hause ...

Während mein Mann mit ihm verhandelte, bin ich langsam die Treppe zum zweiten Stockwerk hinaufgestiegen. Eine unheimliche Macht hat mich hinaufgezogen, nicht gegen meinen Willen, sondern ohne meinen Willen. Ich mußte wissen, – ich müßte es ... wer der Mensch war, den wir bisher als die Mette Safferstätt kannten ... Die Türe zu ihrem Zimmer war nur angelehnt. Es schien so, als sei alles voll Entsetzen vor ihr geflohen, auch die Poletta, ihre Jungfer. Sie selbst saß mitten in dem Raum. Ihr feines Gesicht unter dem reichen, aschblonden Haar war wie aus bleichem, gelbem Wachs geformt. Die großen, blauen Augen waren wolkig verschwommen und schauten starr auf mich wie die einer Blinden. Ich wußte nicht, ob sie mich erkannte. Ich blieb bebend, weit ab von ihr, an der Türe stehen. Ich sagte:

»Mette ... Wer bist du ...?«

»Ein sündiger Mensch!« sagte sie langsam. Sie war merkwürdig ruhig.

»Wie bist du zu der Todsünde gekommen?«

»Die Todsünde kam zu mir.«

»Die Sünde kann nur zu den Menschen kommen, die sie schon in sich tragen.«

»Ich habe sie in mir getragen, vielleicht schon von Kind an!«

Plötzlich sprang sie auf. Über ihrer zarten, kaum mittelgroßen, mädchenhaften Gestalt lag immer noch der süße, schwermütige Reiz von früher, um dessentwillen wir sie alle so liebten. »Und die Sünde hätte in mir geschlafen. Für immer!« sagte sie hart und hell. »Ebenso wie in euch andern allen! In jedem ist etwas Böses! Sogar in dir, du sanftes Katzel! Weckt es nur nicht auf! In mir habt ihr es erweckt!«

»Wer?«

»Ich hätte gelebt wie ihr andern und wäre einmal gestorben wie ihr anderen, wenn ich dasselbe Schicksal gehabt hätte wie ihr andern ...«

»Das Schicksal hat es mit dir nur zu gut gemeint!« sagte ich. Die Mette hörte mich nicht. Sie fuhr leidenschaftlich fort: »... wenn ich mein Leben mit einem anderen sündigen Menschen von Fleisch und Blut hätte teilen dürfen wie du mit deinem Poldl! Statt dessen haben mich meine Eltern, kaum daß ich von dem Englischen Fräulein heraus war, noch als halbes Kind an einen Heiligen vermählt!«

»Ja. Das war der Peter-Paul!«

Die Mette ging auf mich zu. Ich fürchtete mich vor ihr, aber ich vermochte nicht wegzulaufen. Ich blieb wie angewurzelt an der Türe stehen. Dicht vor mir machte die geisterbleiche, verstörte Frau halt.

»Weißt du, was das heißt: neben einem Heiligen zu leben?« sagte sie. »Stund' um Stunde, vom Morgen bis zum Abend, Jahr um Jahr nur das Fehlen aller Fehler zu sehen, durch die wir andere eben Menschen sind und uns als Menschen fühlen ...?«

Und – Gott verzeih' es mir! – es ging mir da durch den Kopf: Wenn wir alle schuldlos wären, so gäbe es kein irdisches Jammertal mehr, und die Welt wäre nicht mehr da, sondern nur noch das bessere Jenseits! Die Mette sprach heftig weiter. Ich fühlte ihren heißen, lebendigen Atem an meiner Wange.

»Weißt du, was das heißt: sich von so viel Vollkommenheiten neben sich erdrückt zu fühlen? Der Abstand zwischen dem Peter-Paul und gewöhnlichen Menschen wie mir war zu groß. Je unirdischer er schon bei Lebzeiten den Himmel schaute, desto sündiger fühlte ich mich neben ihm, viel sündiger, als wenn ich in der Ehe in einem zweiten Menschen mein Spiegelbild mit allen Schwächen und Fehlern gesehen und mich daran hätte bessern können. Viel sündiger fühlte ich mich, als ich war. Dadurch ist erst die Sünde in mir aufgewacht. Sonst hätte sie in mir zeitlebens geschlafen wie bei euch!«

Mir bangte vor der Mette. Ich konnte nichts erwidern. Auf ihren Zügen spielte ein verzweifeltes, irres Lächeln. Sie breitete die Arme in die leere Luft aus und ließ sie wehrlos fallen.

»Ich war nicht schlecht!« sagte sie. »Ich hab' nur gefroren. Ich hab' nur Sehnsucht nach einem Menschen von Fleisch und Blut gehabt, der meinesgleichen war. Ein Kind der Welt und nicht ein abgeklärter Heiliger, neben dem man sich verworfen vorkam. Ich habe mir in meinen Träumen, aus meiner ewigen Zerknirschung und meinem Trotz gegen das Schicksal heraus, einen Mann als Lebensgefährten gestaltet, der alle die Tugenden nicht hatte, an denen ich neben dem Peter-Paul hinstarb und mich verworfen fühlte – einen Dutzendmenschen – nicht besser und schlechter als ich! Da ist mir der Gaudenz in den Lebensweg gekommen ...«

Der war freilich schon ein Dutzendmensch ... dachte ich mir. Und als ob sie meine Gedanken erraten hätte, leise, ganz leise die Mette:

»Das war mein Unglück. Denn damit bin ich nicht auf den Erdenboden gekommen, den ihr anderen unter den Füßen habt, sondern tief, tief hinunter. Es war ein Sturz, ein Wechsel, und eigentlich dasselbe. Statt dem Himmel hat mich die Hölle in Empfang genommen. Der Gaudenz war ebenso tief im Innersten schlecht wie der Peter-Paul übermenschlich gut!«

Das stürmte überraschend auf mich ein, obwohl ja nun schon seine furchtbare Tat wider den Gaudenz zeugte. Die Mette fuhr fort:

»Ihr habt den Gaudenz für einen gutmütigen, harmlosen Durchschnittsmenschen gehalten. Ich auch. Das Leben selber, wie ich es ersehnte, um endlich ich selbst zu sein, und von dem ich gar nicht mehr verlangte, ist mir in ihm entgegengekommen. Er hat sich gleich bei der ersten Begegnung heiß in mich verliebt. Ich habe es erwidert. Wer der Gaudenz eigentlich war, das habe ich erst später als seine Frau begriffen.«

»Was war er ...?«

Die Mette sah mich aus ihren großen, toten, blauen Augen an. »Schlecht war er«, sagte sie. »So schlecht, daß ihm nichts unmöglich war. Aber er hat es selbst nicht gewußt, und darum hat es auch sonst niemand gewußt. Denn er war nicht mit Willen und Bewußtsein schlecht. Es war ihm angeboren. Oder es fehlte ihm etwas, was die anderen haben, und was sie von bösen Taten zurückhält. Er war zurückgeblieben. So wie er sind vielleicht die Menschen vor Jahrtausenden hier im Tal gewesen, als sie sich in ihren Höhlen totschlugen und das ganz natürlich fanden. Der Gaudenz hatte nur niemals Gelegenheit gehabt, das zu zeigen. Denn er hatte ja alles, was er brauchte. Er wollte nichts von anderen Menschen. Darum war er mit ihnen vergnügt und umgänglich, und ihr hattet ihn alle gern. Erst als er etwas wollte – als er mich wollte, ist seine angeborene Natur erwacht!«

»Und du?«

Die Mette hob langsam ihre magere, weiße, blaugeäderte Hand. »Sieh – nun endet schon meine Sünde und seine beginnt! Meine Sünde war nur in Gedanken. Ich hatte ihn angesehen, wie ich einen anderen Mann nicht ansehen durfte, und mich in ihn verliebt ...«

»Das ist schon Sünde genug ...«

»Wer kann dagegen? Aber ich habe ihm – nicht einmal, sondern hundertmal – gesagt: Wäre ich frei, so wäre ich dein! Aber ich bin nicht frei und kann es nicht werden, und so muß alles bleiben, wie es ist!«

»Und da ...?«

»Da hat er schließlich überhaupt nichts mehr erwidert! Und dann ... bei Gott und allen Heiligen ... Centa, ich schwöre dir einen leiblichen Eid ... ich hab' an jenem Morgen vor drei Jahren gar nicht geahnt, daß der Gaudenz überhaupt heimlich in der Nähe unseres Schlosses war – da kamen die Leute gelaufen und brachten mir die Nachricht von der Ermordung meines Mannes!«

»Dir aber hat der Gaudenz hinterher gestanden, daß er der Täter war?«

»Ja. Noch am selben Tag.«

»Warum hast du ihn nicht angezeigt?«

»... weil ich nun erst erkannt hab', wer er war,« sagte die Mette in einer starren Ergebung, »... weil ich jetzt gefühlt hab', daß er viel stärker war als ich, weil er viel schlechter war! Weil ich in seiner Macht war. Diese Macht ist geblieben. Ich hab' tun müssen, was er wollte. Ich hab' ihn geheiratet ...«

Sie schwieg eine Sekunde. Dann stieß sie hervor:

»... und nun kommt das Furchtbarste: Ich habe mich so vor ihm entsetzt und mit ihm schuldig gefühlt, daß ich mich an ihn geklammert hab'! Ich habe mich so vor ihm gefürchtet, daß ich ihn erst recht geliebt hab' ...! Das sind die Abgründe, die eine reine Seele wie du nicht begreifst!«

Und doch wäre ich keine Frau gewesen, wenn mir nicht ein Schauern und eine Ahnung durch die Seele gegangen wäre ... Die Mette schloß:

»... und der Gaudenz und ich haben uns geliebt bis heute ... bis zur letzten Stunde ... ich konnte nicht anders ... Gott sei mir gnädig!«

»Und du hast gar keine Reue empfunden?«

Das schmale Antlitz der Mette war seltsam vergeistigt. Darauf stand das Schicksal geschrieben. Die Notwendigkeit über den Menschen, der keiner und keine entrinnt.

»Hätte ich keine Reue empfunden,« sagte sie nach langem Schweigen, »dann wäre heute dein friedliches Haus nicht voll Blut und Mord und Selbstmord und Verzweiflung, du armes Katzel! Vom ersten Tag ab hat die Reue mir keine Ruhe gelassen. Vom ersten Tag ab habe ich mich als seine Mitschuldige gefühlt, wenn ich es auch eigentlich nur dadurch war, daß ich schwieg und einen andern, den Johann Preisgott, meinen Schwager, im falschen Verdacht ließ.«

Nach einer Weile fuhr sie fort:

»Die Reue ist immer stärker geworden. Ich habe dagegen angekämpft. Da kam Gottes Finger von oben ...«

»Was war das für ein Zeichen?«

»Zwei Jahre fast haben wir, der Vorsicht halber, verstreichen lassen, bis wir uns heirateten, der Gaudenz und ich. Da, vier Wochen nach unserer Hochzeit, hat sich mein Töchterchen aus erster Ehe hingelegt und war nach vierundzwanzig Stunden tot. Ich wußte wohl, warum. Das war die erste Strafe vom Himmel ...«

Die Mette atmete wild und bang.

»Seitdem hab' ich keine ruhige Stunde mehr gehabt. Wo ich ging und stand, auf Schritt und Tritt, ist das tote Kind vor mir gestanden und hat mich gefragt: Wann befreist du dich von deiner Schuld an meinem Vater? Wann denkst du an deine ewige Seligkeit? Wann fängst du an, dich vor der Strafe zu fürchten, die dich im Jenseits erwartet? Es hat mir das Herz abgedrückt. Ich war wie ein gehetztes Tier. Ich habe nicht mehr schlafen können. Ich habe die Nächte hindurch gebetet, während der Gaudenz seelenruhig neben mir schlief, und mich elend und verstoßen gefühlt. Ich habe mich einem Menschen offenbaren müssen, um Trost und Hoffnung zu erlangen, wenigstens einem Priester – wenigstens im ewigen Schweigen der Beichte – einem Priester, den ich niemals im Leben wieder sehe – der das Geheimnis mit sich in die Weite nimmt – der in einem fernen Land wohnt ...«

Sie brach ab und setzte ruhiger hinzu:

»So bin ich auf den Pater Faramund, den Vetter meines Mannes in Rom, gekommen. So bin ich zu dir, um ihm zu beichten, nach Vogelöd gekommen. So ist mir der Johann Preisgott, auf dem schuldlos der Verdacht des Mordes lag, in der Gestalt des Paters Faramund zuvorgekommen und hat mir mein Geheimnis entrissen und meinen Mann in den Tod getrieben und ist jetzt wohl schon unterwegs nach München, um auch mich zu verderben! Er hat ganz recht! Gott will, daß sich seine Gerechtigkeit durch ihn erfüllt!«

Ich sah: die Mette wußte noch gar nicht, daß auch der Johann Preisgott Oetsch tot war. Während ich noch schwankte, auf welche Weise ich es ihr berichten sollte, gab sie mir müde die Hand, die ich kalt wie die einer Toten und mit Abwehr und doch mit Mitleid in meiner fühlte, und drängte mich fast zum Zimmer hinaus.

»Meine Nähe tut nicht gut! Geh, Katzel ... geh!«

Unten in der Halle traf ich meinen guten Mann. Er hörte mich an und sprach dann:

»Einmal muß die Mette erfahren, daß ihr Todfeind, der Oetsch, sie nicht mehr bei den irdischen Gerichten anzeigen kann, sondern daß sie selber das tun muß, um ihr Gewissen zu entlasten, wie ihr das auch gewiß der Golgathianer-Pater, der eben wieder weggefahren ist, in der Beichte auferlegt hat. Am besten ist's, du gehst noch einmal zu ihr und sagst ihr das!«

Ich stieg hinauf. Das Zimmer oben war leer. Wir suchten im ganzen Schloß nach der Mette. Wir konnten sie nicht finden. Der Haushofmeister Rubesoier sagte, er habe die Frau Baronin rasch in Hut und Mantel durch den Park gehen sehen. Wir eilten ihr nach, aber sie mußte einen Umweg eingeschlagen haben und in die weiten, sich an den Park anschließenden Wälder hinausgeirrt sein. Ihre Spur blieb verloren.


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