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XX

Vom Rittmeister von Vogelschrey niedergeschrieben

Ich habe, nachdem ich mich um drei Uhr nachts vom Forstmeister Wappolt und meinen anderen Herren Herrschaftsbeamten verabschiedet hatte und zu meiner lieben Frau hinübergegangen war, in den wenigen Stunden bis Tagesanbruch keine Ruhe finden können. Der kommende Tag war ein Sonntag, und es gab also keine Jagd. Ich ging in die heilige Frühmesse, die der Pfarrer Thurmbichler vor dem versammelten Schloßpersonal in der Kapelle gelesen hat. Die Gäste besuchten erst die zweite Messe drüben in der Kirche. Ich sah jetzt keinen von allen den weidgerechten Herren, und das war mir lieb. Ich war jetzt nicht in der Stimmung. Weiß Gott nicht!

So sagte ich denn auch zu meinem Leibjäger, dem G'schwendtner, wie ich aus der Messe kam und sich der bei mir in meinen Gemächern meldete: »Anderl! Laß mich heut' bloß mit den Hirschen aus! Wegen mir mag der Filzenschuster einen Vierzehn-Ender schießen ...«

»Dasselbige hat er, fürcht' ich, auch schon besorgt, gnä' Herr!« spricht der Anderl mit grimmigen schwarzen Augen, und es zuckt ihm unter dem schwarzen, aufgedrehten Schnurrbärtchen. »Heute nacht! Ich mein' als, da hat's dem Platzhirsch an der Stachelwand gegolten! Dem Stolz vom ganzen Revier! Ich hab' den Knall gehört und bin ihm nachgestiegen! ... Der Lump, der sakrische, gottverfluchte, war aber schon fort. Es ist ihm zu hell geworden, wie der Mond vorgekommen ist. Aber heut' nacht kommt er wieder, und wär' es auch nur, um sich das Prachtgeweih zu holen. Ich sitz' ihm auf! Diesmal derwisch' ich ihn, gnä' Herr!«

Ich hatte kaum mit halbem Ohr hingehört.

»Tu, was d' magst!« sagte ich und entließ den G'schwendtner-Anderl und hab' dann zu meiner Frau gesprochen: »Katzel – was nun?«

»Wann sie den armen Pater wirklich umgebracht und verräumt haben,« versetzt die Centa mit bangen Augen, »dann darfst du's nicht lange hinziehn! Dann mußt du's dem Landgericht anzeigen!« »Ach du lieber Gott. Die Polizei in meinem guten, alten Schloß Vogelöd! Haussuchungen in den Zimmern! Verhör der Dienerschaft! Behelligung der Gäste! Die reisen ab! Die ganze Herbstjagd geht vor die Hund'! Es kommt in die Zeitungen! In den Wirtshäusern zerreißen sie sich's Mäu': ›Wißt's schon: Beim Rittmeister Vogelschrey – da schlachten's die Pfaffen ab! ... Der ist ein Freimaurer – derselbige!‹ Mit Dreschflegeln und Daxenhauern kommen mir ja die Bauern vors Schloß geruckt!«

»Was du dir gleich einbildest ...«, sprach die Centa. Aber ihre sanften braunen Rehaugen waren voll Wasser.

»Ich kann den Leut' ihre Dreckschleuder nicht zubinden!« schrei ich erbost. Ich bin sonst ein guter Kerl. Aber daß ich, als katholischer Christ, auf einmal dastehen soll wie der Hausvater von einer Mördergrube, das war mir zu viel! Ich habe ruhiger fortgefahren: »Und was hilft's denn, Katzel? Dem Landrichter sagen unsere Gäste und Domestiken auch nicht mehr als uns, eher weniger! Und der Teifi verrät ihm auch nicht mehr, als er durch sein Winseln verraten will! Und besser als meine Jägerei und Hund' Spuren im Gras und auf der Erden lesen kann das hochweise Gericht auch nicht! Also – was kommt denn vorderhand dabei anderes heraus als neue Aufregung und Wirrwarr? Wo man doch gar nix sicher weiß! Möglich ist doch immer, daß der Pater vor Schrecken über das, was er in der Beichte hat hören müssen und nicht hat absolvieren können, auf und davon ist!«

»Einen Beichtvater wundert nix!« spricht die Centa. »Und seinen Hut und Mantel hätte er bei der Sintflut, die gestern vom Himmel heruntergekommen ist, ganz gewiß nicht beim Weggehen im Zimmer hängen lassen! Und der alte Martin hätte ihn sehen müssen, wie er zum Tor hinaus ist! Aber wenn er auf und davon wär', dann wär' er doch sicher in das Kloster Maria Stern zurück, von wo er gekommen ist, und ist jetzt dort!«

»Ja«, sag' ich. Viel gelernt hat die Katzel in ihrem frommen Mädcheninstitut nicht. Aber eine gescheite Frau ist sie trotzdem. Oder vielleicht gerade deshalb ...

»Alsdann, Poldl, mußt du dich, wenn wir auch weiter nichts finden, eben hinsetzen und einen Brief schreiben und in das Kloster hinüber schicken und in Gottes Namen berichten, wir wüßten nicht, was aus dem Pater Faramund geworden wäre!«

»Da werden die Patres einen schönen Schrecken kriegen!«

»Die hochwürdigen Väter, Poldl, werden uns beraten, was zu tun ist! Verlaß dich auf die! Dann brauchst du die Verantwortung nicht zu tragen!«

Ich habe der Centa einen Kuß gegeben und habe geseufzt und gesagt: »Wirst schon recht haben! Hart geht's mir an, dem Abt in Maria Stern solch eine Hiobspost zu schicken! Aber einmal muß es geschehen! Jetzt haben wir frühen Morgen. Ich will dem Schicksal noch bis heute nachmittag Gelegenheit geben, daß es sich eines Besseren besinnt! Wissen wir bis dahin noch nichts Gewisses vom Pater Faramund, dann soll ein zuverlässiger Mann anspannen und mit einem Brief von mir hinüber zum hochwürdigen Abt von Maria Stern fahren!«

»Die Antwort kann dann aber nicht vor dem nächsten Morgen da sein!« wandte die Centa ein.

»Unterdessen müssen wir halt die Augen offen halten!«

»Gegen wen?«

»Schließlich kommt immer nur einer in Betracht!« Ich bin verstummt. Aber die Centa hat das Wort förmlich auf meinen Lippen gelesen. Da habe ich es ausgesprochen.

»Der Oetsch!«

Sie hat nichts erwidert. Sie hat nur blaß und entsetzt genickt. Ich habe hinzugesetzt:

»Die anderen waren ja auch alle auf der Jagd!«

Nach einer Weile habe ich gefragt:

»Warst du heut' früh schon bei der Mette?«

»Vorhin hab' ich auf einen Sprung nach ihr geschaut! ...«

»Was ist denn mit ihr?«

»Ganz auseinander ist sie! ... Sie läuft weiß wie eine Leiche in ihrem weißen Morgenrock und mit unordentlichem Haar im Zimmer herum und bleibt an der Türe stehen und faltet die Hände ineinander und horcht, ob der Pater Faramund noch nicht kommt! So dürfe er doch nicht wegbleiben! ... Mit der halben Beichte in der Brust und noch ohne Vergebung! Das sei doch unchristlich! Das sei noch nie dagewesen, seit die Menschen an Gott glauben!«

»Was hast du ihr denn geantwortet?«

»Ja – was soll man ihr denn antworten? Man tappt ja selbst im Dunkeln! Die Mette hätte auch gar nicht zugehört! Sie hat sich hingesetzt, die Hände krampfhaft zwischen den Knien, die Lippen zusammengebissen, und mit einem Satz wieder auf und ans Fenster und verzweifelt nach dem Pater ausgeschaut und dann die Hände vors Gesicht geschlagen und wild und leidenschaftlich vor Ungeduld geweint! Poldl: Gott verzeih mir die Sünd'! Aber ich hab' Angst vor ihr gekriegt und bin leise weggegangen, ohne daß sie darauf geachtet hat! Die Mette wird uns noch hier nicht mehr richtig im Kopf, wenn das so weiter geht!«

»Mußt dafür du den Kopf oben behalten, Katzel!« sag' ich, und die Centa lehnt sich an mich und schluchzt:

»Poldl, wodurch haben wir beide nur das verdient?«

»Vielleicht sind wir zu selbstgerecht gewesen, Centa, und haben uns zu vollkommen gedünkt, weil es uns Zweien zu gut geht in diesem irdischen Jammertal, und wir meinen, das sei die Belohnung für unsere Tugendhaftigkeit! Da hat uns der liebe Gott einen rechten Stupfer in die Seite gegeben, damit daß wir merken, daß wir nur unsere Pflicht tun und nichts mehr, wenn wir gut zu den Menschen sind! Sei dankbar, daß Er es gnädig macht und das Unwetter nur neben uns niedersausen läßt und nicht auf uns und unsere Kinder selber!«

Mit dem Trost habe ich meine liebe Frau verlassen und bin in den Park gegangen, um da unter freiem Himmel und in frischer Luft ein wenig klarer im Kopf zu werden. Aber in dem Kopf hat mir's alleweil gebrummt, und das Herz war mir schwer, wie ich allein auf den feuchten Waldwegen dahingegangen bin, auf die von den Bäumen fortwährend die letzten scheckigen Herbstblätter herunterraschelten und sich was vom Sterben des Sommers und dem Ende aller bunten Herrlichkeiten erzählten.

Dann hörte ich Stimmen. Hundegebell. Fußtritte auf krachendem dürren Geäst. Meine Leute haben noch einmal bei Tag den ganzen Park nach dem Pater Faramund durchsucht, hätten gerad' so gut nach dem Großmogul von Delhi suchen können oder nach dem Großtürken. Der wäre geradeso leicht hinter einer Eiche hervorgetreten wie der Pater.

Auf dem Weiher waren die Kähne losgemacht und fuhren herum. Die Schwäne sind weggerudert und die Enten unter zuwiderem Geschrei aufgeflogen und ins Schilf am Ufer geplatscht. Auch das Schilf hat sich bewegt von Männern, die da in Wasserstiefeln gewatet sind, und von schwimmenden Hühnerhunden. Auf der freien Wasserfläche hat der Fischmeister mit langen Stangen auf den Grund hinuntergestoßen und Netze ausgeworfen und hinter dem Nachen hergezogen. Baumwurzeln hat er genug gefangen und einen längst versunkenen Kahn und alte Stiefel und Schlamm. Aber vom Pater Faramund nichts. Er hat es mir berichtet, wie er ans Land gestiegen ist.

Am Ufer stand da ein einzelner von meinen Gästen, der Landrichter a.D. Ritter von Söller. Den hab' ich gern gehabt und jedes Jahr zur Jagd eingeladen. Der hat uns in dem Jahr 48 den Bezirk brav zusammengehalten gehabt und ist hinter allem selber hergewesen und ist den Bauern anders gekommen, wenn einer von den Rammeln gar zu hartgesotten und büffelig war oder sonst irgend ein Früchtel ausgeartet ist. Der hat Land und Volk gekannt wie keiner. War auch schon zehn Jahre da. Nicht mehr der jüngste. Ein Mann, der sakrisch Schneid gehabt hat. Ende der Fünfzig, mit grauem Vollbart. Breit und stark wie ein Bräuknecht.

Er war so in den Anblick der Suche nach dem Pater versunken, daß er mich erst bemerkt hat, wie meine Hand auf seiner Schulter lag. »Grüß Gott, Herr von Söller!« habe ich bekümmert gesagt. »Interessiert Sie die heillose Geschicht' so brennend?«

»Ja!« spricht er. »Alles, was dunkel ist und ein bissel nach einem Verbrechen schmeckt, das zieht mich unheimlich an.«

»Das haben's doch gar nicht mehr nötig!« »... weil ich im Ruhestand bin, meinen's – in der herrlichen Neuzeit? Gerad' deswegen! Ein alter Kater läßt das Mausen net! I bin für derlei auf der Welt! Als ob's jetzt besser geworden war' mit den neumodischen Schwurgerichten und all dem Kram!«

Ganz wehmütig hat er ausgeschaut in der Erinnerung an die gute, alte Zeit bis vor drei Jahren, wo der Herr Landrichter wie er ein kleiner Herrgott in Person war und allmächtig in seinem Bezirk und bald hat selber Todesurteile fällen dürfen, die Wage der Justiz in der einen Hand und in der anderen zugleich den Gänsekiel der Verwaltung, und hat die Leute einsperren können, wie er gemögt hat. Fuchtig ist er geworden, weil die goldenen Tage für die Herren königlichen Offiziale vorbei waren, seit 1847 die Lola Montez ins Land gekommen war, und hat gesprochen: »Wie's mir in dem narrischen März am Nachmittag frevelhaft zwei Fenster von meiner Amtsstuben eingeschmissen haben und eine hochverräterische schwarz-rot-goldene Fahne davor gehängt, da hab' ich gleich gewußt, daß meine alten Freunde, die Haberer, dahinter gesteckt sind!«

Hinter den Haberern war er Zeit seines Amtes höllisch fleißig her gewesen und hat dabei gerad' so viel erreicht wie die anderen amtlichen Organe, nämlich nichts. Der geheime, über das ganze Hochland hin verzweigte, nächtliche Bauernbund hat auch ihm nichts von seinen uralten Satzungen und seinen Mitgliederverzeichnissen verraten, in denen alle möglichen berühmten Leute, von Kaiser Karl dem Großen ab, vertreten waren, und die, ehe der Spektakel losging, nachts bei Fackelschein von dem vermummten Habererkönig mit schallender Stimme verlesen wurden.

»Bei Ihnen haben's doch auch einmal Haberfeld getrieben?« sag' ich. Er antwortet erbost:

»Freilich! Schon 1845! An die zweihundert Maskerer um Mitternacht! Und ein Schießen und Spektakel und Lärmen auf Blechkesseln und Herdpfannen vor meinem Haus, daß das Vieh in den Ställen wild geworden ist und man hat meinen können, es kommt das Jüngste Gericht und nicht bloß die Kerle mit ihren geschwärzten Gesichtern! Sprücheln haben's in den Pausen hergebetet – Sie – sauber waren die net! Eine höllische Nacht war's! Die Nacht hab' ich mir gemerkt! Ich wäre noch hinter das Haberer-Geheimnis gekommen! Da haben's mich, wie ich nahe daran war, 48 ausgeschmiert! Aber ich lass' nicht aus! Ich spür' noch als Pensionist nach!«

Fangst aber nix, denk' ich. Und der Söller, eifrig:

»Wissen's, Rittmeister: das ist dasselbe wie die Jagdpassion – daß man hinter einer heimlichen Spur herschleicht! Ich begreife den Grafen Oetsch und den Jager-Anderl wohl, daß die auf den Filzenschuster her sind wie der Teufel hinter der armen Seele!«

»Fangt's ihn nur!« sag' ich und seufze. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten mir den Pater beigebracht.

»Mit dem Filzenschuster, dem Wildererkönig, befasse ich mich seit ein paar Tagen auch schon auf meine Weise!« meint der Söller vertraulich. »Ich habe noch aus meiner Amtszeit her meine Verbindung mit den Münchener hohen Behörden. Dort laufen die Fäden der Untersuchungen zusammen. Von dort bekomme ich, wenn ich anfrage, Winke genug für meine private und geheime Inquisitionstätigkeit ...«

»Daß Ihnen das so viel Spaß macht ...« sag' ich.

»Es ist die Würze meines Lebens! Wär' ja sonst zu fad! Wo ich einen Zipfel lupfen und in unterirdische Zusammenhänge hineingucken kann, da tu' ich's!«

»Für die Haderer können's bei mir gerad' schon einen Zipfel zu fassen kriegen!« mein' ich halb zerstreut.

»Wo?« fragt er gleich begierig.

»Die Baronin Safferstätt hat vorgestern abend, gleich wie sie kam, beiläufig meiner Frau erzählt, daß ihre Jungfer es zu ihrem Kummer mit einem zünftigen Haberer hält! Losgelassen haben's denselbigen auch noch, wegen mangelnder Beweise, neulich in München, den Lackl – gerade den allein!«

»Dann ist's der Gaisbichler, der Fröschel von Hub!« ruft er.

»Woher wissen's denn das?«

»Ich kenn' all die Namen! Ich muß die Jungfer doch mal fragen! Wie heißt sie denn?«

»Auf den Namen Poletta geht das Madel! Ist aber freiweg aus Wasserburg! Wenn Sie so ein Kammermensch sehen mit ganz weißem Gefries und mit Haaren schwarz wie 'ne Pechpfanne – dieselbige ist's!«

»Dank schön!« sagt der Bezirksamtmann befriedigt und ist mit mir nach dem Schloß zurückgekehrt.

Auf der Terrasse davor haben jetzt, nach der Kirche, die meisten Jagdgäste beisammengestanden und sich aufgeregt über das Verschwinden des Paters Faramund unterhalten. Auch der Gaudenz Safferstätt war unter ihnen, stumpf, die Hände in den Taschen, eine Zigarre im Mund, so wie immer, nur daß er aber bei dieser ernsten Gelegenheit nicht gelacht hat und sorglos fidel war, was ihn sonst erst genießbar macht! Und dem Oetsch seine abenteuerliche Erscheinung hat über die Köpfe der meisten anderen hinweggeragt. Es war immer um ihn so ein gewisser leerer Kreis. Gar zu dicht neben ihn hat sich keiner gern gestellt. Aber das hat ihn blutwenig gekümmert. Er hat, nach seiner Art, das große Wort geführt und mit unverbrüchlichem Ernst seinen geheimnisvollen Unsinn geredet.

»Töten kann man einen Menschen überhaupt nicht,« sagte er laut, kaltblütig und bestimmt, »sondern nur seine Gestalt verwandeln, denn nichts Lebendes geht verloren. In der neuen Gestalt leben die Toten weiter, und wir erkennen sie nur nicht, bis sie einmal eines schönen Tages den Mantel auseinanderschlagen und uns fragen: Weißt du nicht, wer ich bin?«

»Und dann?« erkundigte sich der Prinz Tettikon, der von der ganzen Kabbala und Rosenkreuzerei keine Bohne begriff. Ich übrigens auch nicht.

»Dann«, meinte der Oetsch leichthin, »merken wir gewöhnlich, daß wir es selber sind oder waren, und erinnern uns an unser früheres Leben und unsere Schicksale damals und im Zusammenhang damit auch an die Schicksale anderer Leute. Ich erinnere mich ziemlich deutlich bis zu den Kreuzzügen zurück. Ich entsinne mich, wenn auch mein Gedächtnis im letzten Jahrhundert etwas nachgelassen hat, von den meisten von Ihnen hier genau, was Sie seit einem halben Jahrtausend waren!«

Die Herren haben gelacht und über den närrischen Patron die Köpfe geschüttelt. Der Salvermoser-Franzl, der als Kunstmaler immer am leichtgläubigsten und recht ein großes Kind ist, also mein Franzl hat trotz seiner Zerknirschung und Reue wegen des Paters Faramund doch gleich neugierig dahergefragt:

»Was war ich denn nachher?«

»Sie waren, wie ich Sie im fünfzehnten Jahrhundert getroffen hab', schon ein hübsch alter, beschaulicher Klosterbruder drüben in Maria Stern. Recht friedlich haben Sie am offenen Fenster gesessen und bildsaubere farbige Inkunabeln in die Psalter-Abschrift für die hochselige Frau Herzogin Adelheidis gemalt!«

Wenn man den guten Salvermoser so ansah, konnte es schon stimmen. Der Kämmerer von Höllring erkundigte sich, was denn mit ihm losgewesen sei.

»Sie waren damals, kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg, auch schon ein seiner, seidener, knebelbärtiger Herr im Heidelberger Schloß am Hof des armen Kerls, des Winterkönigs von Böhmen! Sie, Prinz – erinnern Sie sich, wie Sie auf den Süptitzer Höhen bei Torgau im Siebenjährigen Krieg fielen? Ich sah Sie noch liegen, blutjung, ein Kornett vom Korps Lascy.«

Nein. Seine Durchlaucht entsann sich nicht und verneinte verlegen. Der Oetsch versetzte gelassen, mit dem Blick auf meinen Forstmeister, der heute, am Sonntag, auch zu Tische geladen war: »Der treffliche Herr Wappolt hatte, wie ich ihn damals auf dem Schloß Mindelsheim bei meinem Freund, dem Jörg Frundsberg, als Landsknechtshauptmann traf, nur einen Fehler: Er fluchte ganz entsetzlich. Aber sonst stand er seinen Mann!«

Das tat er jetzt noch. Der Oetsch fuhr fort: »Sie, Herr von Söller, starben zur Zeit der Fuggerblüte gottselig als Ratsherr in Augsburg. Gedenkt es Ihnen noch, Herr Rentamtmann, daß Sie vor ein paar hundert Jahren auf der Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins gelobte Land in Taranto das Zeitliche segneten?«

Was hat er nur? denke ich unruhig. Denn der Oetsch war unberechenbar, und umsonst tat er nichts. Er zündete sich eine Zigarre an und sagte zwischen den ersten Zügen in gleichgültigem Ton und schaute dabei rauchend über die Herren hin:

»Es gibt ja auch tragischere Schicksalsverknüpfungen! Der Herr Baron von Safferstätt da zum Beispiel ...«

»Mich lassen's gefälligst aus – ja?« unterbricht der ihn gereizt.

Es war das erstemal, daß die beiden, seitdem sie zusammen unter meinem Dach waren, miteinander redeten und überhaupt voneinander Notiz nahmen. Durch die Herren ging eine unheimliche Bewegung. Auch ich fühlte nichts Gutes kommen.

Der Oetsch ließ sich nicht beirren. Er hub wieder an:

»Sie können ja jetzt nix dafür, Baron Safferstätt ... Aber damals, vor zweihundert Jahren ...«

»Ich hab' Ihnen schon gesagt, Graf Oetsch, daß ich nichts wissen will!« versetzt der Gaudenz laut und zornig. Der Oetsch ergänzt:

»... da wurden Sie öffentlich unter gewaltigem Zulauf einer schaulustigen Menge mit dem Schwert vom Leben zum Tod gerichtet!«

»Gleich bist still!« ruf ich dem Johann Preisgott zu. Der Salvermoser-Franzl fragt erschrocken in seiner Einfalt dazwischen:

»Jessas na! Ja warum denn?«

»Wegen Mords an einem Standesgenossen!« sagt der Oetsch langsam und gleichgültig und schaut dabei dem Gaudenz Safferstätt fest in dem seine nichtssagenden Augen.

Aber jetzt bekamen die einen wilden Ausdruck. Der Gaudenz trat mit drei großen Schritten auf den Oetsch zu.

»Was haben's da gesagt, Graf?« frug er grob und drohend. Der Johann Preisgott bestätigt kalt:

»Von einem Mord hab' ich gesprochen!«

»... den ich begangen haben soll!«

»Freilich!«

»Um Gottes willen! Hebt's den Herrn Baron!« schrie der Ökonomiedirektor Stadelhofer. Der königliche Kämmerer von Höllring sprang mit ausgebreiteten Armen dazwischen. Der Prinz Tettikon kriegte den Gaudenz von hinten mit beiden Händen zu fassen und hielt ihn fest. Der sträubte sich und rang nach rückwärts, um freizukommen, und schnaubte nach vorn dem Oetsch ins Gesicht: »Das wagen Sie, mir zu sagen! ... Justament Sie! ...«

Der Oetsch blieb ungerührt, zuckte die Achseln und meinte trocken zu den andern Herren: »'s ist halt so! Ich weiß nicht, warum sich der Baron so aufregt!«

»Dafür geben Sie mir Genugtuung!« schreit der atemlos, und ich falte in Gedanken die Hände und denke mir: Bravo! Das hat noch gefehlt! Jetzt schießen's noch aufeinander in meinem friedlichen Park, und ich darf dabeistehen und die Pistolen laden und zuschauen, daß die Leichen abgefahren werden! Der Oetsch läßt in so etwas nicht mit sich spaßen!

Richtig: er macht eine Verbeugung, leichthin, aber gravitätisch wie ein alter Spanier aus der Filibustierzeit. Aber dann sagt er mit einer kühlen Ironie: »Gern! Nur müssen Sie sich natürlich in Tracht und äußerem Menschen in die Zeit versetzen, in der der Mord geschah.«

»Was?«

»Ich sagte doch, daß es vor zweihundert Jahren etwa war! Sie müssen als der Mensch antreten, der Sie damals waren! Ich auch! Ich hatte im Dreißigjährigen Krieg seinerzeit nach der Vergiftung Bernhards des Großen von Sachsen-Weimar durch die Franzosen das Heerlager bei Neu-Breisach verlassen ...«

»Er spinnt!« rief der Salvermoser beschwörend. Der Oetsch scheuchte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Ruhe und fuhr fort: »Und Sie, Baron, waren, wie Sie doch noch wissen müssen, abgedankter Kapitän in Kaiserlich-Habsburgischen Diensten! Ich schlage Ihnen also vor, wir turnieren der edlen Sitte der Wallensteinzeit gemäß hoch zu Pferd mit langen Reiterpistolen. Der Poldl leiht uns schon dazu zwei von seinen Rössern, auf die Gefahr hin, daß eines von den Viechern auch eine Kugel in den Leib kriegt!«

Der Gaudenz strich sich über die Augen. Grimmig wie ein Bulle war er immer noch – ich hab' gar nicht gewußt, daß so viel Gift und Hitze in dem faden Kerl drin kochen kann – aber dabei unsicher, so wie ein Herdstier, der sich den vermeintlichen Angreifer hat aus den Augen entwischen lassen und jetzt das Weiße rollt und blöd herumglotzt ...

»Sie haben behauptet, ich hätte einen Mord begangen!« wiederholt er finster.

»Ja, neulich! Im Dreißigjährigen Krieg!« belehrt ihn der Oetsch hochmütig und wendet sich zu uns anderen. »Meine Herren! Ich ruf' euch zu Zeugen auf, ob ich mit einem Wort von der Gegenwart und einem Mord in der Gegenwart gesprochen habe!«

»Das gewiß net!« bekräftigt der Forstmeister, und ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit und lege mich ins Mittel und besänftige den Safferstätt, der sich erbost die Stirne mit seinem Sacktuch wischt.

»Gaudenz! Du kennst den Grafen nicht so wie wir! Dem seine Sprüch' darfst nicht auf die Goldwage legen! Das will er auch gar nicht. Er red't halt so daher!«

»Ausgezeichnet!« sagt der Gaudenz Safferstätt und reckt sich und kriegt Mut. »So hab' ich's gern! Der Herr Graf Oetsch, der vom Mord redet! Daß ich nicht lach'!«

Das war ein neuer Tusch! Diesmal gegen den Johann Preisgott! Das zielte jetzt wieder auf das Verschwinden von dem seinem Stubennachbarn, dem Pater Faramund! Die beiden Kerle warfen sich die Leichen gegenseitig durch die Luft zu wie meine Kinder ihren Fangball. Grausen konnte es einen. Sonderbarerweise und zu meiner Erleichterung blieb der Oetsch ironisch ruhig und versetzte wie ein Gedankenleser:

»Der Pater Faramund wird schon wieder zum Vorschein kommen! Und wenn nicht: Ich bin nicht fürs Abkrageln von Menschen, bloß weil sie einem zuwider sind! Ich hab' die Ehre!«

Das »Ich« hat er nachdrücklich betont und dabei den Gaudenz Safferstätt aus seinen geheimnisvollen, graublauen Augen durchdringend angeschaut, so als wollte er seinen toten Bruder, den Peter-Paul, dem andern so recht im hellen Tageslicht vor allen Leuten gerade vors Gesicht stellen. Dann hat er sich umgedreht und ist langsam und aufrecht davongegangen, und die Herren sind in düsterem Schweigen zurückgeblieben.

Mir war's genug! Ich bin hinauf zu meiner Frau, hab' mich in den Fauteuil fallen lassen und gesprochen:

»Katzel! Jetzt geht der Tanz in Vogelöd erst los! Der Oetsch sucht Händel mit dem Safferstätt, und dem Safferstätt ist's gerade recht! Wie die Kampfgockel hacken sie aufeinander!«

»Ja – was haben's denn?« erkundigte sich die Centa bang.

»Der Oetsch hat angefangen und den Gaudenz eines Mords beschuldigt. Der hat ihm den Mord mit der Retourkutsche wieder zugeschickt! Und das unter christlichen Edelleuten und vor meinen pflichttreuen, ehrenfesten Herren Beamten! Was sollen die sich denn denken, wen ich mir da aufles' und ins Schloß einlad'? Ein Gottesglück, daß kein Domestik in der Nähe war!«

»Ich weiß immer noch nicht recht, was passiert ist!«

»Da fragst mich auch zu viel! Mir dreht sich der Kopf! Soll, wie die beiden sich gegenseitig drohend zu verstehen geben, der Gaudenz den Peter-Paul umgebracht haben und der Oetsch den Pater Faramund oder der Oetsch alle zwei oder der Oetsch nur seinen Bruder, und der Pater Faramund lebt noch, wie er behauptet ...«

»Ja – sind die denn von Gott verlassen?« stöhnt die Centa.

»Freilich sind sie's!« schrei' ich. »Der Oetsch schon längst. Wie's mit dem Gaudenz steht, da muß ein Gescheiterer her als ich, um das zu ergründen. Vorderhand hab' ich sie auseinander gebracht. Aber bei der nächsten Gelegenheit fangen sie womöglich das Geraufe um die Toten wieder an!«

»Das mußt du verhindern!« hat die Katzel strenger gesagt, als sonst ihre weiche Art ist. »Wozu bist du denn Herr im Haus?«

Recht hat sie gehabt. Ich bin gegangen und habe mir zwei vernünftige Männer ausgesucht: den Landrichter a.D. von Söller und den Kämmerer von Höllring, und habe sie zu den beiden Kampfhähnen hingeschickt, – den Söller, der sich gerade von der Kammerjungfer Poletta alles Nähere über ihren Habererliebsten hat erzählen lassen, zum Gaudenz, und den andern zum Oetsch, und habe die dringende Erwartung aussprechen lassen, daß die obgemeldeten Herren sich hinfort mäßigen, von Feurio, Illuminaten-Weissagungen, Tusch und der Hand am Hahn unweigerlich Abstand nehmen und sich als zu Gast befindliche Kavaliere geziemend aufführen möchten, andernfalls ich es dann freilich lieber sehen würde, wenn sie recht impressiert sich von hier beurlauben und ihre Diskrepanzen lieber bei des Teufels Großmutter austragen wollten, statt mir und den Meinen und allen unter meinem Dach dies widrige Spektakel zu gewähren.

Der Herr von Söller kam bald wieder. Meldete: der Safferstätt wollte bloß seine Ruhe haben! Der Oetsch möge sich für seine Geisterbeschwörungen und Narrenkram einen anderen aussuchen als ihn! Hernach sei er, der Gaudenz, schon stad! Gut!

Anders natürlich wieder der Oetsch. Der hat dem Kämmerer gegenüber erstaunt getan und gesagt:

»Kann ich dafür, daß der Baron so damisch ist und alles aus sich bezieht, was ich red', auch wenn es vor zweihundert Jahren geschehen ist? Belehrt's ihn halt! Ich lass' mir von ihm das Maul nicht verbieten!«

Dann hat er hinzugefügt: »Der arme Rittmeister soll nur noch ein bissel Geduld haben! Morgen früh ist er mich los. Da reis' ich ab. Ich hab' ein paar Geschäfte in Abessinien zu erledigen!«

Das war mir lieb, und lieber noch wäre es mir gewesen, ich hätte den Oetsch jetzt schon im Pfefferland gewußt. Denn die Luft war mit Elektrizität geladen, als wir uns zur Mittagtafel setzten – meine Frau als einzige Dame. Die Mette kam nicht zum Vorschein. Die wartete oben immer noch verzweifelt auf ihren Pater.

Der Oetsch kam absichtlich erst hinterher, nachdem der Pfarrer Thurmbichler das Tischgebet gesprochen hatte. Das Vaterunser wirkt auf den wie auf uns das Hexen-Einmaleins. Ich hatte dem Haushofmeister befohlen, ihn und den Safferstätt unauffällig so weit entfernt voneinander wie möglich zu placieren. Aber unglücklicherweise war der Stuhl von der Mette frei und auf den setzt sich ohne weiteres der Oetsch hin, ihrem Mann just schräg gegenüber, so daß sie leicht miteinander über den Tisch weg sprechen konnten. Zu hindern vermochte ich es nicht mehr. Eingreifen konnte ich auch nicht. Denn ich saß an einem Schmalende der langen Tafel, die Centa auf dem anderen. Wir tauschten besorgte Blicke. Eine Weile ging alles gut. Es lag eine gedrückte Stimmung über dem Tisch, und keinem war zum Reden zumut. Aber schließlich haben sie als Leute von Welt doch angefangen, und das Gespräch ist, man mochte tun, was man wollte, so wie die Bleikugel auf den tiefsten Punkt der Schüssel, auf die dunkle Frage des Tages immer wieder zurückgerollt: Was ist mit dem Pater Faramund geschehen?

Und wie ich gefürchtet habe, höre ich nach kurzem die laute, befehlerische, nachlässige Stimme des Oetsch, und, wie die anderen schon gewohnt sind und es kaum mehr anders wissen, verstummen sie nach kurzer Zeit und hören ihm alle zu, und er spricht allein:

»Es ist durchaus nicht so leicht, einen Menschen umzubringen, wie man gewöhnlich glaubt!« verkündete er. »Auch schwächliche und alte Leute sind zäh! Daß es nur des geeigneten Werkzeugs und frischen Willens zum Mord bedarf – glauben's einem Mann wie mir, meine Herren! – das ist ein Ammenmärchen!«

»Es gehört wohl vor allem Übung dazu?« erkundigte sich der Landrichter von Söller, der seine angeborene Neigung zur Verbrecherjagd heute, am Sonntag, so wenig zügeln konnte wie unter der Woche seine Jagdpassion für die Hirsche.

»Im Gegenteil!« sagt der Oetsch kaltblütig. »Übung ist schädlich! Wiederholung mißlingt! Man muß ein blutiger Neuling sein, um mit dem Blut Glück zu haben!«

»Ja – was wär' denn das?«

»Ist es Ihnen noch nie eingefallen, daß bei einem Zweikampf der ganz unerfahrene Fechter einen merkwürdigen und erfolgreichen Vorteil hat, weil er mit seinen unberechenbaren Hieben den zünftigen Gegner aus dem Konzept bringt? Die Gunst des Glücks haftet rätselhaft an allem Ersten! Wer sich zum erstenmal an den Spieltisch setzt, gewinnt immer! Wie oft hast du's erlebt, Poldl, daß ein Jagdgast, dem man noch hat die Büchse laden und in die Hand geben müssen, so unerfahren war er – mit dem ersten Schuß sein Stück aufs Blatt getroffen hat und hinterher nie wieder?«

»Etwas ist schon wahr daran!« sagte ich nachdenklich. Der Forstmeister frug:

»Woran hängt denn das, Herr Graf?«

»An der Blindheit!« sprach der Oetsch. »An der gesegneten Blindheit! Der Anfänger sieht noch gar nicht alle die Möglichkeiten und Gefahren, die dem Gewitzigten den Blick verwirren! Der Erfahrene möchte überall Löcher zustopfen, Funken austreten, Spuren abwaschen, und schließlich bleibt doch ein Hosenknopf übrig und wird zum Generalprokureur gegen ihn, oder sein alter baumwollener Regenschirm führt ihn aufs Schafott, den er in der Eile hat stehen lassen, oder ein Tintenklecks, den er nicht sauber genug abgeleckt hat, wird sein Todesurteil!«

»Und der Anfänger ...?«

»Der geht gerad' aus und kümmert sich um nichts und zwingt damit die Dinge, daß sie ihm dienen! Alle großen und rätselhaften Verbrechen werden nur ein einziges Mal von einem Menschen begangen!«

Die Augen des Johann Preisgott Oetsch wurden geisterhaft groß und weit. Sie ruhten lähmend auf der Tafelrunde. Durch die rieselte ein Schauer. Jetzt kam wirklich, was ich, noch ungläubig, doch heimlich befürchtet hatte: Der Oetsch sprach offen und laut von dem Tod seines Bruders, des Grafen Peter-Paul auf Pfaffenrod ..

»Nehmen wir zum Beispiel die bis heute unaufgeklärte Ermordung des Peter-Paul vor drei Jahren!« sagte er. »Er wurde, schon am hellen Morgen, in seinem eigenen Park, mitten auf dem Weg, ganz nahe von seinem Haus, nicht fern von Landleuten, die schon zur Arbeit gingen, von einem unbekannten erschossen. Niemand hat den Schuß gehört. Niemand kam zufällig dazu. Keine Fußspur wurde gefunden. Kein fremder Gegenstand blieb am Tatort zurück. Keine verdächtige Gestalt wurde in dessen Umkreis gesehen. Selbst bei der Pistole, die abgefeuert neben der Leiche lag, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob sie nicht aus der reichhaltigen Waffensammlung des Schlosses stammte, so daß, wenigstens in der Theorie, die Möglichkeit eines Selbstmordes offen blieb ...«

Der Johann Preisgott Oetsch unterbrach sich, leerte sein Weinglas auf einen Zug, wischte sich den langen Schnurrbart und schloß:

»So viel Glück kann nur der ganz Ahnungslose haben! Ich glaube nicht, daß der, der den Peter-Paul ermordet hat, besonders gescheit war. Ich glaube eher, er war dumm. Er hat sich gar keine möglichen Folgen klar gemacht. Sonst hätte er vor ihnen erschrecken müssen, und eben darum sind sie nicht eingetreten, und er geht frei und unentdeckt umher. Das weiß ich ganz gewiß: Der Mörder des Peter-Paul hat zum erstenmal in seinem Leben gemordet und früher niemals an so etwas gedacht und tut's auch in seinem Leben nicht wieder. Denn er hat's nicht mehr nötig! Er hat erreicht, was er wollte!«

Der Oetsch hatte, während er sprach, mit keinem Auge den Gaudenz Safferstätt drüben angeblickt. Aber jeder an der lautlosen Tafel fühlte, daß er den und keinen anderen meinte. Nun setzte er noch in einem sonderbaren, leisen, wie warnenden Ton hinzu:

»Das Schlimme für solch einen Glückspilz ist nur, daß die Toten leben, gerade wenn man sie umgebracht hat! Dann sind sie lebendiger als vorher. Es liegt eine tiefe Weisheit im Volksglauben an die Wiedergänger. Die Toten kommen wieder und suchen sich ihren Mann und wissen ihn schließlich schon zu finden! Die haben einen Spürsinn, Poldl! – da ist dein Hund, der Teifi, ein Waisenbub dagegen!«

Jetzt raffte sich der Gaudenz Safferstätt auf. Er hatte wohl das Gefühl, daß einer, der nur stumm dasitzt und von drüben über den Tisch her die vergifteten Pfeile wehrlos auf sich schnellen läßt, schließlich seinem scheinbar absichtslosen Ankläger recht gibt. Er sagte laut und mit einer höhnischen und herausfordernden Geringschätzung:

»Da müßt' man doch irgendwo merken, wo die armen Seelen um uns herumfliegen täten oder von uns ihre Ruh' begehren! Aber ich gespür' nix von ihnen, zeitlebens net, und die anderen Herren ebensowenig! Sie sind der einzige hier im Saal, der sich vor den Toten fürchtet, Graf! Sonst gibt's hier keinen Geisterseher!«

Der Oetsch starrte jetzt den anderen an. Den Blick von ihm vertrugen die wenigsten. Auch der Gaudenz Safferstatt wurde unruhig. Funkelnd boshaft. Streitsüchtig, als hätte er zu viel getrunken. Ich glaube, es ging nicht nur mir, sondern auch anderen so, daß wir auf seinen Zügen, die sonst Unbildung, aber Gutmütigkeit verrieten, eine heimliche, schlafende Roheit deutlich durchschimmern sahen.

»Geisterseher?« sprach der Johann Preisgott Oetsch leise in der beklommenen Stille. »Muß man Geister denn sehen? Oder hören? Oder als einen kalten Hauch fühlen? Warum denn? Die Geister sind trotzdem da, auch wenn unsere paar armseligen Sinne versagen! Die Geister haben ihre eigenen Reiche. Diese Reiche sind vom Raum, in dem wir leben, mit umschlossen. Nur vermögen wir diese zweite Welt inmitten unserer eigenen nicht zu erkennen. Die Geister sehen uns, aber wir nicht sie. Wir sind nicht Geisterseher, wie Sie behaupten, Baron, sondern die Geister sind Menschenseher und mitten unter uns!«

Er brach ab und setzte nach einer Weile kaltblütig hinzu: »Mein toter Bruder Peter-Paul zum Beispiel ist in diesem Augenblick hier im Saal!«

Der Safferstätt bekam einen roten Kopf.

»Wo?« frug er rauh.

Alle Blicke folgten den durchdringenden graublauen Augen des Oetsch, die den einzigen leeren Stuhl in der Tafelrunde suchten. er sagte ganz leise, zwischen den Zähnen, bestimmt, ruhig: »Dort! Zufällig gerade auf dem Platz Ihrer Frau Gemahlin!«

Mir lief ein Rieseln über den Rücken. Alles schwieg. Die Laquaien standen mit offenem Munde und wagten nicht, weiter zu servieren. Der Gaudenz Safferstätt frug heiser: »Warum gerade dort?«

»Weil es der einzige freie Sessel ist!« antwortete der Oetsch leichthin, in seiner spöttischen Art. »Der Peter-Paul kann sich doch nicht einem von uns auf den Schoß setzen! Das wäre Ihnen wahrscheinlich doch auch gar nicht sehr angenehm, Baron Safferstätt!«

Die beiden maßen sich über die Tafel hin mit den Blicken wie zwei Florettkämpfer, die einander, wenn sie recht geübt sind, auch nicht auf die Spitze des Degens, sondern auf das Auge des Gegners schauen. Der Gaudenz verzog seine bleichen, nichtssagenden Züge zu einem spöttischen Lachen. In dem war nicht die frühere harmlose Heiterkeit. Es lag etwas Gequältes um das Jucken der Mundwinkel.

»Sie sind mir schon der rechte, Graf!« sagte er. »Sie widersprechen sich selber in einem Atem und denken, wir sind so dumm und merken's nicht! Wie kann mich denn ein Gespenst molestieren, wenn ich's, nach Ihren eigenen Worten, nicht hör' und nicht seh'?«

»Nein. Das Reich der Toten ist nicht von unserer Welt«, sagte der Oetsch langsam und feierlich.

»Alsdann ... daß ich net lach' ... Da lassen's mich gefälligst damit aus!«

»Es ist nicht von unserer Welt, weil es in uns ist!« fuhr der Oetsch fort. Seine Stimme schwoll an. Uns wurde unheimlich zumut. »Unsere Toten sind unsere Taten!«

»Das sind Sprüch'!«

»... und ihr Reich in uns hat einen wohlbekannten Namen!«

»Ich kenn' ihn net!« sagte der Gaudenz und lachte, einfältig und treuherzig, wie er früher war. Der Oetsch beugte seinen hageren Abenteurerkopf vor und sagte halblaut, beinahe vertraulich:

»Das Reich heißt das böse Gewissen, Baron!«

Still war's. Die beiden suchten sich wieder mit den Augen. Wir alle hatten längst zu essen aufgehört. Die Domestiken standen regungslos, die Schüsseln in den Händen, als wären sie ausgestopft, an der Wand. Meine liebe Frau, die Centa, warf mir vom anderen Ende der Tafel einen verzweifelten Blick zu. Ich verstand. Jede Sekunde konnte jetzt der Oetsch etwas sagen oder der Safferstätt etwas tun, was nicht wieder gutzumachen war. Es mußte ein Ende gemacht werden. Dabei waren wir noch nicht am Schluß der Mahlzeit. Aber ich faßte einen kurzen Entschluß. Ich stand auf, und zugleich mit mir, mich begreifend, meine Ehelichste, und sprach: »Ich glaub', meine Herren: viel Hunger haben wir alle beisammen nicht mehr! Gehen wir lieber ein bissel ins Freie und kühlen uns draußen unsere Köpfe ab!«

Fast zugleich war ich schon an der Seite des Gaudenz Safferstätt, der sich zögernd, mit bleiernen Knien, als sei er von seinem Feind drüben gebannt und gelähmt, vom Stuhl erhob, nahm ihn unter den Arm und führte ihn hinaus. Wohl war mir aber nicht zumut. Ich hatte einen unwillkürlichen Schauder, den Mann zu berühren, obwohl ich doch nichts von der Schuld wußte, die ihm der Oetsch vor Augen rückte, und sie mir in der Hast und Aufregung auch gar nicht auszumalen oder zu Ende zu denken imstande war.

Aber ich bezwang mich und promenierte im Freien, in bloßem Kopf wie er, allein mit ihm freundschaftlich um den großen Teich und gab dem Schwan, der sich uns zischend und kampfwütig wie ein Mensch in den Weg stellte, einen gehörigen Fußtritt und sagte dann: »Gaudenz: der Oetsch reist morgen früh ab! Er hat's mir feierlich versprochen! Bis dahin bitt' ich mir jetzt ganz energisch Ruh' in meinem Haus aus! Verstehst?«

»Kann denn ich dafür, wenn er als wieder anfängt?« begehrt er auf und wird wieder fremdartig brutal im Gesicht, mit unruhig irrenden Augen, und in mir steigt wieder ein furchtbares Grausen auf, das ich überwinden muß, und ich geb' ihm recht:

»Nein! Der Oetsch fängt freilich immer wieder an! Drum sei du der G'scheitere! Wenn ihr nicht mehr meine Gäste seid, dann kampelt euch draußen, wo und wie ihr mögt! Aber bis dahin duld' ich diese Szenen vor den Gästen und der Dienerschaft nicht weiter!«

»Was soll ich denn dagegen machen?«

»Geh ihm halt aus dem Weg!« spreche ich ärgerlich. »Geh hinauf und pfleg' deine Frau, die den ganzen Tag weint und betet und sich nach dem Pater Faramund barmt! Riegel' deine Gemächer zu! Da kann der Oetsch nicht hinein und wieder mit dir's Raufen anfangen ...«

»Und die anderen werden glauben, ich lief' vor dem Oetsch davon! Das fehlte mir gerade!«

»Nix werden sie davon glauben! Denn ich werde ihnen sagen, daß die Mette krank ist und dich braucht! Is ja wahr! Also: willst mir das versprechen und bleibst oben einheimisch, wenigstens die paar Stunden heut' bis zum Abend, bis der Oetsch zum letzten Mal vor seiner Abreise in die Berge gestiegen ist, um den Filzenschuster zu derwischen?«

Zu meiner Beruhigung stimmte der Gaudenz Safferstatt bei. Es schien ihm jetzt selber eine Erleichterung. Er gab mir die Hand darauf und ging nach dem Schloß zurück. Ich blieb stehen. Nein. Ich bückte mich geistesabwesend und steckte meine Hand in den Teich, weil der Safferstätt sie berührt hatte, und zog sie naß wieder heraus und trocknete sie am Sacktuch ab und schämte mich und machte mir selber Vorwürfe: Was ist denn das? Was denkst du denn von deinen Nebenmenschen? Von dem harmlosen Depp, dem Gaudenz? Fad ist er – das ist gewiß – aber doch beileib kein ... Ich mag das Wort gar nicht aussprechen! Dem Oetsch kommt so was leicht über die Zunge! Das fehlte noch, daß man alles glaubt, was der daher redet, der gewiß schon zehnmal in seinem Leben mit dem bösen Feind Smollis getrunken hat! Trauen darf man selbem Alchimisten und Abenteurer und ägyptischen Gaukler nicht über den Weg. Aber trotzdem: etwas bleibt immer hängen! Ich hätte mich über nichts mehr gewundert! Ich hatte nur noch den Wunsch, den ganzen Hexenspuk los zu sein! Aber da war keine Hoffnung! Die Geheimnisse hingen so dicht und schwer über meinem Haus wie die Wolken auf den Bergen umher.

Ich betrat mein liebes, altes, trauliches Vogelöd mit bangem Herzen. Der Haushofmeister, der Rubesoier, kam mir entgegen. Er hatte, während wir beim Frühstück saßen, noch einmal persönlich, ganz allein, den Schlüsselbund zu sämtlichen Zimmern in der Hand, das ganze Schloß vom Boden ab nach dem Pater Faramund durchsucht. Kein Lebenszeichen! Keine Spur!

Aber hinter ihm erschien mein Forstmeister, der Herr Wappolt, der sich hinterher, gleich nach Tisch, zum nämlichen Zweck aufgemacht hatte, den wirr umherblickenden, wild winselnden Teifi, den schottischen Schäferhund, an der Leine neben sich, und meldete mit fester Stimme: »Herr Rittmeister: entweder der Spürhund da, der beste, den ich je in meinem Leben gesehen hab', hält es wirklich mit seinem Namenspatron und hält uns alle zum Narren, oder der Pater Faramund lebt und ist hier im Schloß!«

»Verraten's mir nur, wo!«

»Das ist das Unbegreifliche und Absonderliche! Der Teifi läuft durch alle Gänge, recht freudig, und hat alle Augenblicke die Spur vom Pater und wird dann wieder unsicher, verliert sie, findet sie unversehens irgendwo von neuem im Hause, überall, auf der Treppe, in der Halle, bis zum Rittersaal ... schaut einem wieder ratlos an ... setzt sich hin ... steckt die Nase in die Luft und heult...«

Ja – was half mir das? Ich faßte den Entschluß und befahl dem Rubesoier und mußte laut reden, um das fortwährende Winseln des Teifi zu übertönen.

»Es soll sofort angespannt werden! unterdessen schreibe ich einen Brief an den hochwürdigen Herrn Abt von Maria Stern und melde ihm, daß der Pater Faramund zu unserer Besorgnis hier seit jetzt gerade vierundzwanzig Stunden abgängig ist. Schicken Sie einen zuverlässigen Mann mit dem Brief, Rubesoier. Er soll in Maria Stern auf Antwort warten und mit der sobald wie möglich zurückkommen und nicht unterwegs hinterm Maßkrug hängen bleiben! Morgen früh kann er wieder hier sein!«

Zusammen mit meiner lieben Centa entwarf ich die Hiobspost an den Abt. Gut! Petschaft aufs Wachssiegel! Fertig! Ein Knecht kutschierte damit zum Tor hinaus, und ich hatte nun wenigstens die Tröstung, daß wir, wenn die Sonne wieder aufging, mehr als jetzt, sei es Gutes oder Böses, wissen würden. Den Oetsch hatte ich in dieser Zeit aus den Augen verloren. Die Unruhe trieb mich, zu sehen, was er wohl vorhabe. Es war gegen halb fünf Uhr nachmittags und dämmerte schon merklich. Er saß unten in der Halle zwischen den anderen Herren und führte das große Wort. Ich blickte angstvoll über die anderen hin. Gott sei Dank: der Gaudenz Safferstätt befand sich nicht unter ihnen und war auch, wie mir der Franzl Salvermoser auf meine Frage mitteilte, seit dem Mittag nicht mehr zum Vorschein gekommen, sondern bei seiner Frau oben im Zimmer geblieben. Er hielt also sein Versprechen, das er mir gegeben hatte.

Das erste was ich hörte, wie ich hereinkam, war das Wort: »Mord«. Natürlich aus dem schnurrbärtigen Mund des Johann Preisgott Oetsch. Der saß lässig da, die langen Beine übereinander geschlagen, und bewegte beim Sprechen die rechte Hand in der Luft und dozierte vor seinem andächtigen Publikum, wie ein Münchener Universitäts-Professor auf dem Katheder.

»Es ist eine altbekannte Tatsache,« sagte er, »daß es den Mörder immer wieder an den Ort seiner Tat hinzieht, und diese Tatsache stützt meine Theorie, daß man überhaupt nicht töten kann! Der Mörder weiß, daß sein Opfer lebt, auch wenn er es zehnmal erschlug, – daß es weiterlebt, wenn auch in veränderter, anscheinend unkenntlicher Gestalt, und eine unheimliche Neugier treibt ihn an die Mordstelle zurück, um dort zu ahnen, in welcher Gestalt sein Opfer von da weiter in das Leben hinausgegangen ist und ihm einmal draußen unversehens wieder begegnen wird. Diese sträfliche Neugier nennt man das böse Gewissen.«

»Aber oft hindern doch äußere Umstände den Mörder, den Schauplatz des Verbrechens je wieder aufzusuchen!« bemerkte der Landrichter von Söller, der, nach seiner angeborenen kriminalistischen Neigung, bei den Auseinandersetzungen des Oetsch ganz Auge und Ohr war. Der Oetsch bejahte.

»Dann sucht der Mörder anderweitig mit seiner Tat in Verbindung zu treten. Irgendwie zieht sie ihn immer an. Er begibt sich an Orte, wo über den Mord gesprochen wird. Er liest die Zeitungen, die Nachrichten über den Mord bringen. Er sucht den Verkehr mit Leuten, die den Ermordeten kannten, um ihm wider Willen, mit gesträubten Haaren, nahe zu sein ...«

Ich saß in der Halle, mit dem Rücken gegen die große Freitreppe, zwischen den anderen Herren. Ich bemerkte unter ihnen wohl eine plötzliche, lautlose Bewegung, die wie eine Luftwelle gleichmäßig über sie hinwehte, aber ich begriff die Ursache noch nicht. Der Oetsch, der von seinem Schaukelstuhl aus den Treppenaufgang gerade im Auge hatte, fuhr, ohne eine Miene zu verziehen, fort: »Dieser innerste Instinkt, nachträglich mit seinem blutigen Geheimnis Rücksprache zu Pflegen, ist stärker als der bewußte Widerstand der Vernunft. Der Mörder hat durch seine Tat seinen Willen in sein Opfer gelegt. Von dort wirkt dessen Wille auf ihn ein und zieht ihn unwidestehlich an.«

Die Bewegung unter den Herren wurde stärker. Veränderte sich. War ein Grauen. Einige blickten ungläubig auf die Treppe. Andere wandten die Köpfe dorthin. Vor mir war an dem Pfeiler ein Wandspiegel. Er warf das Bild der untersten zehn Stufen zurück. Was sah ich da?

Über den roten Läufer, der die Treppe deckte, stieg langsam, von oben kommend, der Gaudenz Safferstätt herunter. Er stolperte nicht, er ging ganz wie sonst. ... Und doch war etwas Willenloses in seinen Bewegungen. Der Oetsch rauchte seine Zigarre und sagte:

»Es braucht nicht der Schauplatz der Tat zu sein. Die Tat ist überall. In irgendeiner Ecke steht sie immer und winkt, hat es oft nicht einmal nötig. Der Täter drängt sich ihr oft von selber auf!«

Der Gaudenz Safferstätt hatte den Boden der Halle betreten. Sein Gesicht war schlaff. Dabei, trotz der Willenlosigkeit, merkwürdig zielbewußt. Es erinnerte mich plötzlich an einen Nachtwandler, der auch stracks über die Dächer marschiert, ohne zu wissen warum. Der Oetsch qualmte und sah ihn kaltblütig an. Der Safferstatt beachtete ihn nicht. Er war bleich. Er hatte ein fades, verlegenes Lächeln an sich. Er blieb vor mir stehen und sprach unsicher: »Verzeih, lieber Rittmeister! Ich geh' gleich wieder hinauf! Ich hab' nur plötzlich solch einen Kaffeedurst gekriegt ...«

Er setzte sich, nahm dem Diener die Tasse ab, hielt sie mitten in der Luft, starrte geistesabwesend vor sich hin und murmelte: »Deswegen bin ich heruntergekommen!«

»Spät sind Sie gekommen!« sagte der Oetsch gleichgültig, und uns alle schauderte. »Ich warte schon die ganze Zeit auf Sie, Baron!«

Der Gesichtsausdruck des Safferstätt blieb matt und farblos. Er sagte langsam, schläfrig, wie im Traum:

»Wieso haben's denn auf mich gewartet, Graf?«

»Weil ich gewußt habe, daß Sie kommen würden!« versetzte der Oetsch. Er hypnotisierte, in dem tiefen Schweigen umher, den anderen mit seinem eisig funkelnden Blick. Drüben der wieder mit schwerer Zunge:

»... da haben's mehr gewußt als ich selber!«

»Ich weiß genau so viel wie Sie!« sagte der Oetsch schnell.

Dann, nach einer kurzen Weile, seine Zigarrenasche abstreifend, halblaut, ohne den Safferstätt anzuschauen:

»... und das genügt vollauf!«

Der Safferstätt antwortete nichts. Er trank, mit verglasten Augen über den Rand der Tasse ins Leere schauend, in dumpfem Stumpfsinn seinen Kaffee. Ich saß neben ihm und sprach leise und zornig:

»Hast mir nicht dein Wort gegeben, oben zu bleiben?«

»Ja ... ich weiß auch nicht ...,« sagte der Safferstätt ratlos.

»Warum hast's dann nicht gehalten?«

»Ich sag' dir doch: ich weiß nicht! Ich bin auf einmal aufgestanden und hab' mir gedacht: Gehst halt mal runter!«

»Und jetzt geht hier der Tanz wieder los! In allem Ernst, Gaudenz: trink deine Tasse aus und schau, daß du weiterkommst!«

»Ja!« versetzte der Safferstätt mechanisch. Er war längst mit seinem Kaffee fertig. Er hätte aufstehen und weggehen können. Aber er blieb sitzen wie ein Stück Holz. »Gaudenz ... ich hab' dein Wort!« raune ich.

»Gleich!« sagte der Safferstätt und rührte sich nicht. »Gleich!«

»Vorwärts!«

»I bin ja schon unterwegs, Poldl!«

Dabei klebte er an seinem Ledersessel fest und schaute unverwandt, träge und schlafmützig, nach dem Oetsch hinüber, als müsse er von dem die Erlaubnis, sich zu erheben, bekommen. Der Oetsch hatte seinen hageren Kopf von ihm weggewendet und nahm von ihm keine Notiz. Er beendete stark und laut, ganz Leben und Wille, vor der Korona um ihn sein Privatissimum über das schlechte Gewissen. »Die Probe auf das, was ich gesagt hab', kann jeder bei sich selbst anstellen!« erklärte er.

»Na ... hören's mal!«

»... Denn ein reines Gewissen hat keiner!« versetzte der Oetsch.

»Lieber Graf! Sie sind doch hier nicht unter Räubern und Verbrechern!«

»Jeder Mensch hat seine heimliche Schuld!« sprach der Oetsch mit einer dumpf kündenden Stimme.

»... Ohne Sünde ist freilich nur unser Herrgott! Aber ...«

»Jeder Mensch hat sein Geheimnis, das er niemandem verrät ...«

»Aber eine Todsünde braucht es nicht zu sein!«

»Es kann eine läßliche Sünde sein!« sagte der Oetsch. »Es kann auch eine Todsünde sein, der er selber nicht ins Auge zu blicken wagt, so wenig wie im Mittelalter die Leute dem Basilisken unten im Brunnen, weil sie wußten, daß sie dann versteinerten ...«

»Ach, gehen's!« meinte der Gaudenz Safferstätt plötzlich mitleidig. Es waren die ersten Worte, die er wieder sprach. Sie hallten durch die Stille. Der Oetsch schien es zu überhören. Er drehte seinen langen Oberkörper im Schaukelstuhl von rechts nach links, so daß sein Blick jeden der Anwesenden der Reihe nach traf, und dämpfte dabei geheimnisvoll seine Stimme. Wir alle zuckten zusammen. Wir alle fühlten: jetzt kam etwas ...

»Ich habe gute Gründe, anzunehmen, daß ich einmal der Isispriester Pa-Du-Amên war, der um das Jahr zweitausend vor Christus der dritte und letzte Mitwisser der Mysterien des Tempels der Throne der Welt in Oberägypten war!« sprach er beiläufig, und mir fiel ein Stein vom Herzen, daß der Oetsch auf seine alten Narrheiten verfiel und von der Mordgeschichte abschweifte. »In jenen aufgeklärten Zeiten, da die Menschen Tierhäupter und die Vögel Menschenköpfe trugen und Mistkäfer und Sonnenscheibe sich in der Hieroglyphe ›Ra‹ zum Weltall fanden, war man in der Erkenntnis des Zusammenhangs aller Dinge weiter als jetzt. Man war hellsehend. Ein bißchen davon ist mir jetzt noch geblieben!«

Mir wurde wieder bange, wo er hinauswollte. Ich versuchte, ihn zu beschwichtigen.

»Laß gut sein, Johann Preisgott! Wir wissen, daß du mehr kannst, als Brot essen! Wir haben heut' kein Verlangen nach deinen Zauberkunststücken!«

Aber zugleich versetzt der unglückselige Gaudenz Safferstatt höhnisch:

»Wenn Sie's zweite Gesicht an sich haben, Graf Oetsch, warum verraten Sie uns dann nicht, wo Ihr Zimmernachbar, der Pater Faramund, hingeraten ist?«

Eine lautlose Stille. Dann der Oetsch, obenhin, die Achseln zuckend, sehr ruhig:

»Weil die Isispriester nicht das Opfer zu verhören hatten – das war die Sache des schakalköpfigen Gottes Anubis in der Unterwelt – sondern auf Erden den Mörder zu suchen und den Mord zu sühnen ...«

»So ... so ...«, sagte der Safferstätt und lachte. Es klang recht dumm.

»... Darum bezieht sich das bißchen Hellsehen, das mir noch von damals geblieben ist, nur auf die Schuld. Auf das böse Gewissen, von dem wir ja heute den ganzen Tag sprechen! Ich weiß eigentlich auch nicht, warum.«

»Ich auch nicht!« rief der Safferstätt.

»Diese Schuld, meine Herren,« sprach der Oetsch gleichgültig, »kann ich bei jedem von Ihnen, wie Sie hier sitzen, sofort in der Seele lesen ...«

»Ich hab' nichts dagegen!« meinte der Prinz Tettikon, der k.k. Husar, und lachte. Mehr wie seine paar Wiener Amouren hatte der Jüngling sicherlich nicht beim St. Petrus auf dem Kerbholz. Der Ritter von Söller sprach feierlich: »Ich gesteh', ich hab', seit ich pensioniert bin, die kaiserliche Maut bei Salzburg schon ein paarmal um ein Kistel Zigarren bemogelt!«

Aber der Oetsch lieh sich nicht beirren. Er suchte sich mit seinem stählernen Blick ein Opfer im Kreise.

»Wir können ja gleich eine Probe machen!« sagte er.

»Is ja ganz unnötig!« wehrte ich angstvoll ab. Der Kämmerer von Höllring half mir:

»Es glaubt's dir ja jeder, Oetsch!«

»Nein!« versetzte der Oetsch kaltblütig. »Der Baron von Safferstätt glaubt es zum Beispiel nicht! Man sieht es an seinem Gesicht!«

»... Is auch so!« rief der Gaudenz herausfordernd.

Der Oetsch trat auf ihn zu, ich ihm in den Weg.

»Johann Preisgott ...«, sag' ich atemlos. »Ob du nun Geheimnisse lesen kannst oder nicht – jedenfalls darfst du sie nicht unbefugt aussprechen und Dritten offenbaren!«

»Will ich auch gar nicht!« erwidert der Oetsch. »Ich sag' dem Baron bloß etwas ins Ohr! Das bleibt ganz unter uns!«

Er geht zu dem Safferstätt hin, der in sich zusammengesunken, wie gelähmt, in seinem Lehnsessel sitzt, neigt sich über dessen Rand und flüstert dem Gaudenz, der sich nicht rührt, ganz leise etwas zu. Es hat ziemlich lange gedauert. Es waren sechs, acht Sätze. Verstanden hat keiner von uns eine Silbe. Nur die Wirkung haben wir gesehen. Der Gaudenz wurde langsam leichenfahl. Sein Mund stand ungläubig offen. Die Augen quollen ihm in Todesangst, wie bei einem gestochenen Kalb. Ganz starr hat er dagesessen. Der Oetsch hat von ihm abgelassen und ist langsam aus dem Saal hinausgegangen. Ein Schweigen hat er hinter sich gelassen. Ein recht langes, schweres Schweigen.

Die andern haben sich auch alle allmählich in der Dämmerung durch die Gänge rechts und links und die Treppe hinauf verzogen. Einer hinter dem andern. Keiner hat mehr mit dem Gaudenz Safferstätt zusammen sein wollen. Um den herum war eine unheimliche Leere. Ob er das bemerkt hat, weiß ich nicht. Er ist an eines der Fenster getreten, hat sich da schwer hingesetzt und stumpf und dumpf in das Abendgrauen in dem herbstlichen Park hinabgeschaut. Über dem kahlen Geäst zogen dunkle Wolken dahin. Es regnete nicht, aber die Nacht versprach pechfinster zu werden, und wie einem gerade mitten in der größten Erregung manchmal etwas ganz Nebensächliches in den Sinn kommt, so dachte ich mir auch: Die Dunkelheit kommt dem Oetsch gerade zupaß, wenn er heute draußen hinter den Wilderern her sein will!

Ich drehte mich um. Ich war jetzt allein mit dem Gaudenz im Saal. Ich konnte mich nicht überwinden, an den Safferstätt heranzutreten und mit ihm zu sprechen. Worüber auch? Das, was ich wissen wollte, konnte ich ihn doch nicht fragen, und er hätte es mir ja auch wahrscheinlich ums Totschlagen nicht gesagt. Mir graute vor ihm. Ich sagte mir innerlich: Gott verzeih' mir's, wenn ich ihm unrecht tu!

Der Gaudenz Safferstätt hat sich die ganze Zeit am Fenster nicht gerührt. Man sah im Dämmern nur noch undeutlich seine Umrisse. Er war wie ein stiller, schwarzer, in sich zusammengefallener Lappen. Unsere Vorfahren zogen vielfach vor, im Lehnstuhl zu sterben statt im Bett. Da mögen sie dann in ihrem letzten Stündlein so ausgesehen haben.

Jetzt kamen die Domestiken und zündeten die Wandkerzen in der Halle an. Das weckte meinen Safferstätt. Es störte ihn. Er stand schwerfällig auf und schritt wie schlaftrunken durch den großen Raum und stieg stolpernd die Stufen zu den oberen Stockwerken empor. Ich hörte seine schlürfenden, unsicheren Schritte oben auf dem Flur verhallen, wo er und die Mette wohnten. Mir oder den anderen in der Halle Befindlichen hatte er keine Beachtung geschenkt.

Im Park draußen ging rauschend der Bergwind. Es wehte durch das Dunkel von den Höhen. So finster war es noch nicht, daß ich nicht, auch schon im Begriff, mich zu entfernen, draußen eine lange, hagere Jägergestalt hätte am Schloß vorbei zum Parktor schreiten sehen. Sie zeichnete sich, mit der Spielhahnfeder auf dem Hut, dem Gewehrlauf über dem Rücken, dem Bergstock in der Hand, wie ein scharfer, schwarzer Schattenriß von dem fahlen, lichtlosen Nebel der einfallenden Nacht ab. In die stiefelte der Oetsch, seine langen Beine katzengleich und geschmeidig wie ein großes Raubtier voreinander setzend, hinaus und suchte sich oben in der Felseneinsamkeit seine lebendige, menschliche Beute.

Und ich? Ich seufzte, wie ich der nächtigen Silhouette des wilden Jägers nachsah. Seufzte schuldbewußt aus tiefster Brust. Dachte mir, während ich zu meiner lieben Frau hinaufstieg: Wir sind allzumal Sünder! Aber der Sünder, für den wir ihn hielten, solch ein Todsünder ist der Oetsch nicht, soweit jetzt das Ahnen unserer armen, menschlichen Weisheit reicht! Da gibt es eher vielleicht andere unter diesem Dach, die niederknien müßten und mit der Stirn den Boden schlagen und beten: »Herr, vergib uns unsere Schuld!«


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