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Welcherart der Baron Safferstätt Hand an sich gelegt hat, das hat mir der Prinz Tettikon noch im Lauf dieser Nacht erzählt. Der Baron hat in dem Spielzimmer gesessen und hat erschöpft geschwiegen, während Hausherr und Hausfrau und die anderen Gäste nach dem Zimmer des Paters Faramund gegangen sind. Der Prinz ist seitwärts gesessen und hat ihn nicht aus dem Auge gelassen. Der Baron ist aufgestanden und hat gesagt, er muß sein Sacktuch holen, das er nebenan, in dem Platz vor dem Keller, hat liegen lassen. Der Prinz hat sich erinnert, daß da freilich etwas Weißes auf dem Boden gelegen hat. Aber daß er, der Prinz, die Pistole, die er dem Baron abgenommen hat, dort achtlos hinter sich auf eine Kiste gelegt und in dem allgemeinen Wirrwarr vergessen hat, daran hat die Durchlaucht nicht mehr gedacht. Der Baron ist mit seinem weißen Fazettel in der Hand zurückgekommen. Aber die Pistole hat er heimlich auch im Sack gehabt. Wie der Prinz nicht hingeschaut hat, hat er sie hervorgeholt und Dampf gemacht. And dann war es schon mit ihm gar.
Das war eine böse Nacht. Im Schloß die Zimmer hell. Alles voll Aufregung. Schlafen hat keiner recht können. Ich hab' mich gar nicht erst hingelegt, sondern bin in den Kleidern geblieben und habe unten in der Halle ein Fenster aufgemacht und habe hinausgeschaut, um frische Luft zu schöpfen. Die Luft war kalt und feucht wie in einem Keller. Die Nacht stand rabenschwarz vor einem wie eine Wand. Ganz hoch oben, in den Bergen, ist, während ich am Fenster stand, einmal ein einzelner Schuß gefallen. Man hat es in der Stille deutlich gehört, und ich entsinne mich, daß ich mir gedacht hab': Da sind's wieder hinter dem verflixten Filzenschuster her!
Dann habe ich das Fenster wieder zugemacht und mich hingesetzt. Ich muß ein paar Stunden im Sitzen geschlafen haben. Denn es war schon gut zwei Uhr nachts, wie der Herr von Söller, der Landrichter a. D., dem es auch keine Ruhe gelassen hat, die Treppe heruntergekommen ist und mich dadurch geweckt hat.
Er hat neben mir auf einem Sessel Platz genommen und nach einer Weile gefragt: »Sie sind doch ein Freund des Hauses, Herr Salvermoser?«
»Freilich!« sag' ich. »Soweit man in einem so hocharistokratischen Haus von Freundschaft reden darf, bin ich's schon!«
»Also hören's, Herr Kunstmaler. Ich will vorausschicken: Ich beschäftige mich, so still für mich, außer Amt, gar zu gern mit verzwickten Zusammenhängen. Wissen's, so ein alter Spürhund wie ich – dem laßt's, wenn ein Verbrechen geschehen ist, keine Ruh', bis er hinter das Geheimnis kommt!«
»Ich tät' davon so viel verstehen wie die Sau vom Haarkräuseln!« sag' ich treuherzig, und der Landrichter von vor Anno achtundvierzig redet weiter:
»Es ist Ihnen doch auch gewärtig, daß sich das Ehepaar Safferstätt erst kurz vor seiner Ankunft zu Besuch hier angemeldet hat?«
»Ja.«
»... und daß die Baronin Safferstätt erst nach ihrer Ankunft hier ihrer Kusine, der Hausfrau, den Zweck ihres Besuches, die Zusammenkunft mit dem Pater Faramund, mitgeteilt hat?«
»Ja.«
»Nun frag' ich Sie, Herr Salvermoser: Wer in aller Welt hatte ein Interesse daran, schon beinahe drei Wochen vorher in München diese geplante Reise und die geplante Beichte der Baronin auszuspionieren?«
»Das ist mir zu hoch!« sage ich, und so war es auch. Der Herr von Söller fuhr fort:
»Sie kennen doch die Poletta, die Kammerjungfer?« »Den schwarzen Racker ... freilich ... bildsauber is sie schon, das Madel ...«
»Und da ist es kein Wunder,« sagt der Landrichter langsam, »daß sich irgendein Mannsbild in München an sie heranmacht und ihr den Kopf verdreht?«
»Freilich nicht!« bestätige ich. »Das hat mir unsere gnädige Hausfrau gestern bei Gelegenheit selber erzählt. Die Baronin haben ihr geklagt, daß die Poletta ganz narrisch in ein übelberufenes Subjekt verschossen sei, dem wo die Polizei nix Rechtes auf den Kopf zusagen kann ... so einen von den zwölf Haberfeldmeistern, einen verdächtigen ... hier aus dem Oberland ...« »Der Fröschel von Hub! Is freilich ein Haberfeldmeister!« sagte der Herr von Söller ruhig. »Ich hab' die Poletta inquiriert. Sie hat mir zugegeben: Ja! Selbiger Fröschel oder ihr Xaver, wie ihn das verliebte dumme Madel nennt, hat fleißig wissen wollen und, wie sie sich das letztemal vor drei Wochen in München trafen, von ihr im voraus sich sagen lassen, wann ihre Herrschaft hierher, nach Vogelöd, käme und hier den Pater Faramund treffen würde!«
»Das geht den Spitzbub freilich nix an!« mein' ich. »Aber so Liebesleut' reden halt viel daher, wenn ihnen just nix G'scheiteres einfallt!«
»Schön!« sagt der Landrichter sehr bestimmt. »Ich bin, wie Sie wissen, ein hoher Beamter, Herr Salvermoser, wenn auch seit dem sakrischen Jahr achtundvierzig im Ruhestand. Ich habe die Kommunikation mit München und den dasigen Justizkollegiis noch nicht verloren. Ich kann mich, wenn mir ein Vorfall als für das Staatswohl suspekt erscheint, allezeit an eine hohe Königliche Regierung wenden. Das hab' ich getan und gestern mittag mit dem Telegraphen in der Residenz angefragt, mich zu bescheiden, was dortseitig von dem Fröschel von Hub neuerdings verlautbart sei? Vorhin hab' ich die Antwort bekommen.«
Er gab mir eine Depesche. Ich las:
»Xaver Gaisbichler, Fröschelhuber von Hub, wegen erneuter dringender Verdachtgründe des Haberfeldtreibens schon vor sechs Wochen in Rott am Inn polizeilich festgenommen und zur Untersuchungshaft nach München abgestellt. Rubrikat befindet sich seitdem hier in amtlichem Verwahrsam.«
Das ging über meinen Verstand. Ich war starr. Der Herr von Söller hat das Papier wieder zusammengefaltet und gesagt: »Mit anderen Worten: Das Mannsbild, das mit Poletta vor drei Wochen in München so schön getan hat, war gar nicht der Fröschel von Hub, für den er sich ausgab ...«
»Sondern wer denn?«
»Einer, der die Einfalt von dem verliebten Madel benutzt hat, um von ihr über die Absichten ihrer Herrschaft alles das zu hören, was er wollte ...«
»Teifi auch!«
»Es hat sich also ein Unbekannter heimlich zu einem mir noch unklaren Zweck schon seit Wochen an die Person des Ehepaares Safferstätt geheftet und hat den Baron und die Baronin wahrscheinlich seitdem nicht mehr aus den Augen verloren und ist ihnen vielleicht sogar heimlich bis hierher gefolgt ...«
»Ja – aber wer denn?« ruf' ich bang. Der Landrichter zuckt die Achseln und steht auf.
»Da fragen Sie mich, wie ich ja eben gesagt hab', mehr, als ich Ihnen antworten kann, Herr Kunstmaler! Aber mir ahnt so was: Irgendein dunkler Weg führt von da bis zu dem Baron, der jetzt mit seinem Loch im Kopf im Vorraum vor dem Eingang zur Kapelle aufgebahrt liegt!«
»Den Weg müssen's finden ...«, sprach ich. »Bitt' schön, Herr Landrichter! ... Sie waren immer ein Scharfer! Ihnen bleibt nix verborgen.«
»Vorläufig seh' ich von der Sach' so viel wie von der Nacht draußen!« sagt der Herr von Söller. »Nicht die Hand vor den Augen! Aber ich hab' noch an andere Leut' telegraphiert. Mir läßt die Geschichte keine Ruh'!«
Der Ritter von Söller ist grüblerisch weggegangen. Ich hab' mir überlegt, ob ich nicht auch in mein Zimmer gehen und da warten soll, bis es endlich wieder einmal Tag wird. Aber ich hätte doch nicht schlafen können. Es war zu viel heimliche Unruhe im Haus und ging einem selber ins Blut. Tritte sind auf den Gängen hin und her geschlichen, man hat Stimmen raunen hören, Türen sind leise auf- und zugegangen. Dann ist die Poletta vorbeigehuscht, bleich und pechschwarz. Sie hat Essig aus der Küche geholt, zu Umschlägen, und hinaufgetragen. Ihre Gnädige fällt von einer Ohnmacht in die andere, spricht sie zu mir. Gott weiß, wie sie die Nacht noch übersteht! Schaut die Frau von Vogelschrey nach ihr? Ja! Das tut sie schon! Sie pflegt sie. Aber ganz fremd ist sie dabei. Wie eine Schwester von einem Krankenorden. Ohne ein überflüssiges Wort mit der Baronin Safferstätt zu sprechen ...
Ich muß wieder eine Weile geschlummert haben. Ein Winseln hat gemacht, daß ich die Augen aufmach' und emporfahr'. Da steigt der Herr Wappolt in seinem grünen Rock, mit seinem Hund, dem Teifi, an der Leine, behutsam auf den Fußspitzen durch die undeutlich von den flackernden, fast herabgebrannten Kerzen erhellte Halle. In deren unruhigem Schein haben alle Gegenstände fratzenhafte Schatten geworfen. Licht und Dunkel haben fortwährend gehuscht und gewechselt.
»Grüß' Gott, Herr Forstmeister! Wohin?«
Er bleibt stehen. »Nach dem Pater Faramund suchen!« sagt er hartnäckig. »Ich bitt' Ihnen – was is denn das mit dem hochwürdigen Herrn?! Is das schon bei Lebzeiten ein Heiliger, daß er bald im Himmel ist und bald auf Erden?«
»Ja – wenn ich das wüßt'!«
»Vorgestern, bei Nebel und Nacht, steht er im Mondschein vor dem Haus. Gestern am hellen Tag ist er verschwunden. Heute, in der Dunkelheit auf der Treppe, kommt er wieder zum Vorschein. Jetzt ist er schon wieder weg! Sie, Herr Maler – das macht mir Kopfzerbrechen!«
»Mir auch!«
»Er muß im Schloß sein. Er muß. Der Teifi weiß es auch! Schauen's nur, wie das unvernünftige Viechel an der Schnur zerrt! ... Kumm, Teifi, kumm! Hilf deinem Herrle suchen!«
Und der Teifi mit seiner Spürnase am Boden ungeduldig und aufgeregt voraus, und ich hab' noch gesagt: »Herr Forstmeister! Der Halbhund führt Sie als nur im Kreis umeinander! Dasselbige hab' ich schon lang gespannt!«
Aber der Herr Wappolt hat nichts davon hören wollen und ist mit seinem schottischen Hundevieh weitergezogen, und mir war's auch recht. Ich hab' doch angefangen, müde zu werden. Die Nacht ging zu Ende. Man konnte sich einbilden, daß sich die Finsternis vor den Fenstern schon langsam verfärbte. Ich hab' gegähnt. Ein Bett war auch was Gutes. Morgen war auch noch ein Tag, oder vielmehr heute, und der Tag war keiner, wie er sonst im Kalender steht. Der versprach streng und abenteuerlich zu werden. Da brauchte man seine Kräfte.
Gerade wollte ich in mein Zimmer hinüber. Da erscheint von dort her, ganz fahl und verfallen und ängstlich im Gesicht, der Rubesoier, der Haushofmeister. Wie ein erschrockenes altes Weib hat er ausgeschaut, das samtene Kniehosen angezogen hat und sich eine Amtskette vor den Wampen gehängt. Ich hab' gemerkt, daß er mich suchte. »Servus, Herr Rubesoier, was wollen's denn von mir?«
»Ich nichts!« flüsterte er mit verstörten Glotzaugen. »Aber der Anderl wär' draußen, der Büchsenspanner! Der tät' den Herrn Maler gern sprechen!«
»Ja, da schauen's, daß er herkommt!« sag' ich. Ich und der Anderl G'schwendtner, der Leibjäger des Herrn Rittmeisters, waren immer gute Freunde. Wir sind schon oft zusammen auf der Jagd gewesen und haben uns wie Kameraden verhalten. Denn ich bin keiner von den blaublütigen Kavalieren und Jagdherren und hab' keinen Hochmut in mir, sondern bin selber ein Sohn aus dem Volk.
»Ja, Anderl – wie schaust denn du aus?« frag' ich ganz entsetzt, wie er vor mir steht. Er war ein hübscher Bursch mit seinem schwarzen Schnurrbart und seinen schwarzen Augen. Recht eine Schneid hat er gehabt, und gefürchtet hat er sich nicht vor dem Teufel. Aber jetzt schien er zehn Jahre älter. Trotzige Linien in dem braungebrannten Gesicht. Das Haar verstrubelt. Die Jagdjoppe, die kurzen Lederbuxen, die Nagelschuhe, die nackten Knie, alles voll Erde und Nässe, gerade wie man eben nachts aus dem Gebirg herunterkommt. Ich hab' ihm die Hand geben wollen. Er hat seine braune Hand schnell in die Tasche gesteckt.
»Fassen's beileib' meine Hand net an, Herr Maler!« warnt er heiser. »Da klebt Menschenblut daran!«
»Anderl! Was hast denn angerichtet?«
»Meine Pflicht hab' ich getan!« stößt er wild hervor. »Haben's 'leicht heut' nacht einen Schuß da heroben in den Bergen gehört?«
»Vor zwei, drei Stunden schon!«
»Dös war i! I hab' den Filzenschuster derschossen! Maustot is er!«
»Ja – was war' denn dös?« ruf' ich, und der Anderl erzählt. Er hat heimlich beobachtet, wo der Filzenschuster in der vorigen Nacht seinen letzten gewilderten Geweihten unter abgehauene Latschenzweige versteckt hat, weil er beim hellen Mondschein seinem verbotenen Handwerk nicht getraut hat, und hat gewußt: So wie die nächste Nacht dunkel einfällt, kommt der Filzenschuster wieder und holt sich den Vierzehnender und hat auf der Lauer hinter einem Steinblock gelegen ...
Was dann geschehen ist, das wird niemals ein Mensch sicher erfahren! So viel weiß schon jeder, der die Berge kennt. Der Filzenschuster kann nicht mehr reden, und der Anderl stellt die Sache natürlich so hin, daß es für ihn gut auskommt! Ob er den Filzenschuster wirklich erst angerufen und der daraufhin angelegt und der Anderl flinker als er gefeuert hat – oder ob er dem Filzenschuster, dem Schwerverbrecher, dem gefährlichen, nicht erst viel Zeit gelassen, sondern gleich selber hinter seinem Steinblock her den Finger krumm gemacht hat – wer mag das entscheiden?
»Anderl – wo sitzt denn nachher der Schuß?«
»Hinten net!« sagt der G'schwendtner rauh und rasch.
»Also vorn?«
»Wie's nehmen magst! Sixt: Pfei'gerad' da in die linke Schläfen hinein!«
Also von der Seite! Das mocht' man deuten, wie man wollte! Der Anderl schwieg. Jedenfalls: den Filzenschuster waren wir los, und das Revier hatte endlich Ruh'! »Wo is denn die Leiche, Anderl!«
»Ich hab' die Sennen auf der Höchstalm geweckt. Die tragen sie runter, sobald sie ihre Schuh' vor sich sehen können. In einer Stund' sind's 'leicht da!«
Wirklich: jetzt wurde es draußen hell. Ein düsterer, grauer Tag. Kaum noch das erste unbestimmte Licht. Aber weiter oben war die Luft jetzt schon klarer. Da waren die beiden Sennen mit dem stillen Mann jedenfalls jetzt schon eine gute Weile unterwegs.
»Und was tu' ich jetzt dabei, Anderl?«
»Ich tät' Sie schön bitten, es zuerst dem gnä' Herrn zu sagen!« spricht der G'fchwendtner. »Ich trau' mich net recht vor den Herrn Rittmeister ...«
»... wenn du doch deine Pflicht getan hast, wie du sagst!«
»Dasselbe wohl! Aber unterdem hat sich hier ein Herr Baron umgebracht, und ein hochwürdiger Herr is abgängig, und jetzt komm' ich auch noch mit einer Leichen daher ... Am End' wird's da dem Herrn Rittmeister zu viel, und er läßt mich grob an ...«
»So ist der Herr Rittmeister nicht! Das weißt ...« »Wohl. Wohl. Trotzdem ... Wenn der Herr Maler halt so gut wär'... Wo die Geschicht' doch kriminalisch wird und der Herr Rittmeister mich schützen muß ...«
»Das wird er auch!« erwidere ich. »Also – ich werd' mit ihm reden! Geh du unterdes fei' 'nüber in die Frühmesse, Anderl, und bet' für deine arme Seele und mehr noch für die vom Filzenschuster!«
Ich habe mit dem Rittmeister von Vogelschrey vor dem Schloßeingang gestanden. Es war nun ganz heller Tag, soweit man an einem solchen in grauschwarzen Tinten gefärbten licht- und schattenlosen, grämlichen Herbstmorgen im Gebirge von Helle reden kann. Zum Malen wäre mir die schwere, feuchte Luft mit ihren Strahlenbrechungen von oben und ihren verschwimmenden und zerfließenden, nebligen Umrissen der Berge schon recht gewesen. Aber ich war jetzt nicht als Kunstmaler da, sondern als Jäger. Als solcher habe ich dem guten Freund Vogelschrey getreulich rapportiert, was sich oben in den Bergen zwischen seinem Büchsenspanner Anderl und dem Wilddieb zugetragen hat.
Auf den Rittmeister hat die Erzählung keinen so tiefen Eindruck gemacht, wie es sonst bei seinem weichen Gemüt und seiner humanen, echt adeligen Seele geschehen wäre. Das Leben eines Menschen – und wenn es auch ein Freidieb im Revier war – hätte diesen aufgeklärten Aristokraten ein kostbares Gut gedünkt. Aber jetzt lag schon dort oben im Schloß ein anderer Aristokrat, der Baron Safferstätt, tot. Und ein hochwürdiger Seelsorger, der Pater Faramund, blieb wiederum verschwunden.
Darüber kam der Herr von Vogelschrey nicht hinweg. Das beschäftigte ihn in seinen Sorgen und Gedanken mehr als das Ende des Filzenschusters. »Daß sich Jäger und Wilderer gegenseitig die Zeche mit Pulver und Blei heimzahlen, das ist beileib' nichts Neues!« sagte er zu mir. »Das kommt bei uns im bayrischen Hochland alle Finger lang vor, und niemand denkt daran, dem Jagdherrn einen Vorwurf daraus zu machen, daß er Gottes vierbeinige Kreatur, die ihm anvertraut ist, durch seine pflichttreuen Organe gegen die geschwärzten mitternächtigen Gesichter und Mondscheinlarven der Herren Freibeuter schützen läßt ...«
»Behüt' Gott!«
»... und ebensowenig vermag ein billig Denkender einem in meinem Dienst so bewährten Subjekt wie meinem redlichen Anderl einen Strick daraus zu drehen, daß er in seinem löblichen Eifer, das Revier reinzuhalten, in seiner Notwehr vielleicht zu weit ging ...«
»Beweisen kann's ihm keiner. Müssen auf dem Gericht schon glauben, was ihnen der Bursch' sagt ...«
»... und ich trete mit vorgehaltenen Armen unweigerlich schützend vor ihn hin, wie vor jeden meiner Untergebenen, gemäß meiner Menschenpflicht, kraft deren mir von Gott durch meine Geburt und Herkunft Gewalt über andere Menschen verliehen und auferlegt ist. Gottlob: meine Stimme gilt etwas im Land!«
»Das glaubst!«
»So können der Anderl und ich diesem inquisitorischen Verfahren ruhig entgegensehen. Am Filzenschuster geht der lebendigen Schöpfung, die Gottes Loblied singt, nichts als ein böser Feind verloren. Nach dem läuft dem bösen Feind selber unten in der Höll'n jetzt schon 's Wasser im Maul zusammen. Nein, Franzl! Da wiegen jetzt andere Dinge schwerer. Das Rätsel des Todes des Peter-Paul Oetsch vor drei Jahren hat sich gelüftet, daß einem die Haare zu Berg stehen. Drei wissen darum. Der eine von ihnen ist tot. Die andere hat es gebeichtet. Der Dritte, der Pater Faramund, ist mit dem Beichtgeheimnis Gott weiß wohin verschwunden ...«
»... wenn der Pater Faramund jemals dagewesen ist ...« sagte neben uns eine Stimme.
Wir fuhren herum. Da stand der große, graubärtige Landrichter Herr von Söller. Er wiederholte:
»... wenn er jemals dagewesen ist, mein liebwertester Herr Rittmeister!«
Der Herr von Vogelschrey wußte gar nicht, was er antworten sollte, geradeso, wie ich mir auch dachte: Jesses ... jetzt kommt einem schon auch die hohe Obrigkeit ganz narrisch daher! Endlich meinte er:
»Wie soll ich das verstehen? Wir alle haben doch den Pater Faramund mit unseren eigenen Augen gesehen! Wir haben ihn sprechen hören ...«
»Der Herr Landrichter war ja selbst dabei!« schaltete ich ein.
Aber der Ritter von Söller beharrte und sagte mit gefurchter Stirne, so daß man an seinem Verstand hätte zweifeln mögen: »Wenn der Pater Faramund nur jemals existiert hat!«
Im selben Augenblick kam der Forstmeister, der Herr Wappolt, eilig über den Platz vor dem Schloß und lüftete sein grünes Hütel schon von weitem und rief laut, noch aus der Ferne:
»Möchte dem Herrn Rittmeister melden: Alleweil haben die Sennen die Leiche des Filzenschusters ins Tal gebracht!«
Der Forstmeister, näher kommend und die unverhohlene Freude in den Augen, daß der Anderl den Malefizkerl endlich weggeputzt hat:
»Wir haben ihn im Wirtshaus auf den Tisch gelegt. Es stimmt schon: die Kugel ist von der Seite gekommen Es war ein ganz ehrliches Malheur. Dem G'schwendtner. Anderl passiert nix!«
Wir sind alle vier eilends die paar hundert Schritte hin. Trotzdem es so früh am Morgen war, haben vor dem ›Alten Wirten‹ schon ein Haufen Leute gestanden. Der Herr Mitterhuber, der Rentmeister, hat zwei starke Burschen an die Türe gestellt. Die haben niemanden hineingelassen. Er selbst war innen im Wirtsraum. Ferner der Gutsverwalter, der Herr Stadelhofer, und der hochwürdige Herr Dorfpfarrer Thurmbichler. Auch die beiden Sennen von der Höchstalm haben in der Ecke gestanden. Der Wirt und seine Söhne. Das ganze Zimmer war voller Leute, und mitten darin hat der tote Wilderer auf dem Tisch gelegen, lang und starr, ein großer, hagerer, sehniger Mensch, in der Älpler-Tracht, wie sie in den Bergen unterschiedslos ein jeder trägt, von dem Fürsten bis zum Treiber, und keiner sich vom anderen unterscheidet.
Das Gesicht des Toten war von einem starken, dunklen Vollbart überwachsen. Die ganze linke Kopfhälfte fast unkenntlich von dem schwarzen, eingetrockneten Blut, das von dem Schläfenhaar abwärts wie eine Filzkruste über dem Gewirr des Schnurrbarts und Backenbarts klebte. Das Kugelloch konnte man nicht sehen. Der Forstmeister Wappolt brannte darauf, dessen Lage genau festzustellen, um volle Gewißheit zu haben, daß unser wackerer Anderl wirklich nicht von hinten geschossen hatte. Er hatte sich von dem jüngsten, fünfzehnjährigen Sohn des Wirts einen Eimer Wasser und einen Pferdeschwamm holen lassen. Er und der Lalli gingen daran, die linke Kopfhälfte des Filzenschusters abzuwaschen. Das ging langsam. Das Blut haftete fest in dem verwilderten, langen Haar und Bart, und der Bub mußte immer wieder mit dem Zuber laufen und das dunkelrot gefärbte Wasser ausgießen und am Brunnen durch neues ersetzen.
Wir haben daneben gestanden und die längste Zeit schweigend zugeschaut. Endlich hat der Rittmeister nicht mehr an sich halten können und halblaut gefragt:
»Sie ... Söller ...«
»Ja!«
»Sie haben vorhin gemeint. Sie glaubten nicht an den Pater Faramund?«
»Nein.«
»Ja ... aber um Gottes willen ... Wie kommen Sie denn darauf, wo der Pater Faramund doch als Mensch von Fleisch und Blut unter uns erschienen ist?«
»Trotzdem ...«
»... und warum erscheint Ihnen das nicht als ein offensichtlicher Widerspruch?«
»... weil da gar nix offensichtlich ist, mein Lieber!« sagte der Landrichter von Söller barsch. »Sondern Ihr Schloß Vogelöd, bester Vogelschrey, ist ringsum von Geheimnissen umsponnen, die sich nur langsam und, wie Sie sehen, immer wieder auf blutige Weise lösen ...«
»... und das Geheimnis des Paters Faramund?«
»... ist auch schon unterwegs!«
»Dann erklären Sie es uns doch! Ich beschwöre Sie!«
Wir drängten uns um den Herrn von Söller. Der dämpfte seine Stimme noch mehr. »Also hören's, meine Herren, und passen's gut auf ...«
»Ja! Ja!«
Eben wollte der Landrichter anfangen.
»Um es kurz zu sagen: Der Pater Faramund ...«
Da kommt der dicke alte Wirt heran. Wir winken ihm ab.
»Seppl – laß uns jetzt in Ruh'!«
Aber der Wirt hat auch die Post im Dorf unter sich gehabt. Eine Depesche hat er in seinen roten Pratzen gehalten. Die hat eben ein Botenbub aus Höhenleiten heraufgetragen. Sie war für den Herrn von Söller bestimmt. Der hat gesagt: »Entschuldigen's schon, die Herren!«, ist beiseite ans Fenster getreten, hat die Depesche aufgerissen und gespannt gelesen. Und kopfschüttelnd noch einmal gelesen. Und noch einmal.
Sehr ernst ist er gewesen und hat dem Herrn von Vogelschrey die Hand auf die Schulter gelegt.
»Eben hab' ich noch gesagt, daß Geheimnisse rings um Vogelöd sind. Da haben wir wieder eines!«
»Wo?« fragt der Rittmeister. Der Landrichter deutet auf den stillen Mann auf dem Tisch.
»Da!«
Der Herr von Vogelschrey zuckt die Achseln.
»Ein erschossener Wilderer! Da ist doch bei uns zu Land weiß Gott nichts Rätselhaftes daran, lieber Freund!«
»Ja. Wenn das wirklich ein erschossener Wilderer ist!«
»Sapperment!... Es ist doch der Filzenschuster! Das wissen wir doch!«
»Es ist der Filzenschuster nicht!« Der Herr von Söller sagt das mit starker Stimme. Wir starren ihn wortlos an. Endlich unser armer Schloßherr: »Warum glauben Sie das?«
»... weil der Filzenschuster lebt!«
»Woher wissen Sie das?«
»Durch eine hohe Königliche Regierung selber!« sagt der Herr von Söller. »Nach unserem gestrigen Gespräch am Teich, Vogelschrey, habe ich, in meiner ehemaligen Beamteneigenschaft, über verschiedenes, was mir hier dunkel war, drahtliche Anfragen nach München gerichtet. So habe ich erfahren, daß der Mann, der sich dort vor drei Wochen an die Jungfer Poletta herandrängte und sie über die Reise ihrer Herrschaft hierher ausfrug, nicht der Haberermeister, der Fröschel von Hub, sondern ein Unbekannter war ...«
»Das hat mir der Herr von Söller schon diese Nacht erzählt!« bekräftigte ich.
»Weiter! Weiter!« drängte der Rittmeister. »Wie ist das mit dem Filzenschuster da?«
Der Landrichter gab ihm die Antwortdepesche aus München zu lesen. Sie war von der Polizei dort. Wir steckten die Köpfe über ihr zusammen. Mir tanzte das Blaustiftgekritzel des Posthalters von Höhenleiten vor den Augen. Seine Buchstaben waren groß und ungefüg. Auf ein paar orthographische Fehler kam es ihm nicht an.
»Der voriges Jahr aus der Strafanstalt in Neuburg an der Donau entwichene Büßer Kaspar Neumayr, vulko Filzenschuster geheißen, ist am 11. September a. c. in königlichen Forsten ob St. Bartholomä bei Berchtesgaden in flagranti bei Wildfrevel überrascht, bei diesem Zusammenstoß mit Jagdgehilfen am Bein verwundet, vorgestern auf Almhütte, wo er sich im Heu verborgen hatte, aufgefunden und ämtlich sistiert. Identitet des Incullpaten unzweifelhaft festgestellt, da dessen volles Gestandniß bei polizeilicher Abhörung dortseitig bereits vorliegt. Gezeuchnet: Meindel.«
Wir warteten alle, was der Herr von Vogelschrey dazu sagen würde. Es dauerte eine gute Zeit, bis er sich so weit gesammelt hatte. Dann forschte er flüsternd:
»Aber wer ist denn dann der Tote da vor uns auf dem Tisch?«
Wir hingen an den Lippen des Herrn von Söller. Er steckte seine Depesche ein und sagte: »Das weiß ich so wenig wie Sie, Herr Rittmeister ...«
Dann setzte er hinzu: »Der Filzenschuster ist es nicht, sondern wiederum ein Unbekannter! Das steht ebenso fest wie daß der Pater Faramund, obwohl wir ihn alle gesehen haben, nie existiert hat!«
Der Herr von Vogelschrey wurde in seiner begreiflichen Erregung ungeduldig. Er faßte den Landrichter zornig vorn am Rockknopf. »Was bedeutet das? Man sieht einen Menschen, und er existiert nicht? Treiben Sie nicht Ihr Spiel mit uns ...«
»Da sei Gott vor!«
»Erklären Sie uns ... Die Zeit ist zu ernst ... Was war das für eine Erscheinung, die wir, nach Ihrer Meinung, für den Pater Faramund halten?«
»Eben eine Erscheinung ... Mehr kann ich noch nicht sagen ... Ich bin noch nicht so weit ...«
»Also kein wirklicher Mensch?«
»Jedenfalls und unter allen Umständen nicht der Pater Faramund!« sprach der Herr von Söller ruhig und mit vollster Überzeugung. »Da können's die Hand darauf auf das Sakrament legen, Rittmeister: Einen Pater Faramund hat's bei Ihnen niemals gegeben!«
»Jesses, Maria und Josef!« schrie, in seine Worte hinein, nebenan plötzlich der Lalli und ließ seinen nassen Schwamm fallen, kindische Angst in der Stimme. Fast zugleich der erschrockene Baß des Forstmeisters:
»Ah – da schaust her!«
»Was gibt's, Herr Wappolt?«
Der Grünrock hob ein dunkles, verfilztes, triefendes Etwas in der Hand hoch. Der Bub in seiner zitternden Pfote ein ebensolches kleines Stück. Bückte sich. Holte wieder so ein haariges Ding von der Kopfseite des Toten. »Was haben's denn da für ein G'lump, Herr Wappolt?«
»Der Bart geht dem Toten ab, Herr Rittmeister! ... Der Bart löst sich einem beim Abwaschen unter den Händen!«
»Der Bart war von sellerem Maschkerer nur vorgeklebt!« rief der Lalli mit seiner hellen Knabenstimme.
»Alles schwemmt sich mit dem Wasser weg! Der Tote hat überhaupt keinen Bart net g'habt!«
Wir traten hastig heran. Jetzt war es ein leichtes, mit dem Schwamm das bartlose Antlitz des Toten völlig von Blut reinzuwaschen und abzutrocknen.
Und dann ein Schweigen.
Und dann die Frage des Rittmeisters an den Herrn von Söller:
»Was sagen Sie alsdann jetzt?«
Und hinterher, nach einer Pause, die zweite Frage:
»Glauben Sie immer noch, daß es keinen Pater Faramund gegeben hat, Herr Landrichter?«
»Ich muß ja jetzt wohl glauben, daß es einen gegeben hat!« sprach der Landrichter langsam. »Denn ich seh' ihn ja da leibhaftig tot vor mir!«
Da war kein Zweifel. Was der Ritter von Söller sah, das sahen wir anderen alle ebensogut:
Der Pater Faramund lag da lang ausgestreckt, so wie wir seinen strengen, bartlosen Kopf mit den dünnen, grausamen Lippen vom Abend vorher, von der Begegnung in dem Raum vor dem Keller, in der Erinnerung hatten, wenn da auch nur ein Kerzengeflacker und Zwielicht seine Züge beleuchtet und beschattet hatte. Der Kopf ließ sich nicht verkennen, selbst nicht in der fremdartigen Vermummung eines Wilderers, die den Körper umhüllte, und trotz der Todesstarre, die tiefe Linien in das fahle Antlitz grub.
»Der Pater Faramund ...«, murmelte der Rittmeister ratlos.
»... oder der Unbekannte, der sich so nannte ...«, sprach der Herr von Söller.
»Der Unbekannte ...«
Mein teurer Freund Vogelschrey, der schon die Hände gefaltet hatte, löste sie wieder auf. Dann krampfte er sie von neuem ineinander.
»Es muß der Pater Faramund sein!« sagte er. »Die Mette hat ihn doch als Pater Faramund empfangen. Sie besitzt doch seine Briefe. Sie hat ihm gebeichtet. Sie mußte doch wissen, wer er war ...«
»Vielleicht weiß sie es! Und sonst niemand ...«
»... außer Gott ...«
»... ich glaub', eher außer dem Teufel!« brummte der Forstmeister.
»Dann treibt sie ihr Spiel mit uns!« rief der Herr von Vogelschrey in hellem Zorn und aller Bestürzung. »Sie lockt sich von irgendwoher irgendeinen dunklen Ehrenmann in mein Schloß ...«
»Einen Verbrecher ...«
»Jedenfalls habe ich recht,« sagte der Herr von Söller, »ein frommer Mönch ist das auf keinen Fall, der sich von der schönen Frau Baronin nach Vogelöd zum Stelldichein laden läßt!«
»Nein!«
»Eher schon ihr Geliebter ...«, sagte der Rentmeister Mitterhuber, aber halblaut, immerhin noch, aus Respekt vor so hohen Herrschaften.
»Und einen Pater Faramund«, fuhr der Landrichter fort, »gibt es also in Vogelöd nicht!«
»Nein! Den gibt's nicht!« sprach der Rittmeister von Vogelschrey erschüttert. Vom Schloß her kam der Haushofmeister über den Platz vor der Kirche auf das Wirtshaus zu. Der alte, grauhaarige Mann ging nicht würdevoll wie sonst, sondern lief. Er trabte, so rasch ihn seine gichtischen Knie trugen. Das bedeutete etwas Besonderes. Wir eilten ihm alle ins Freie entgegen. Der Rittmeister rief: »Was bringen's, Rubesoier?«
Und der Haushofmeister, stolpernd, atemlos:
»Der hochwürdige Pater Faramund möchte den gnädigen Herrn sprechen!«