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Im August 1915 stand die russische Armee am Vorabend eines Zusammenbruchs und Russland am Vorabend einer Revolution. Das war eine furchtbare Gefahr für die gemeinsame Sache der Alliierten. Die russischen Truppen wichen unaufhörlich zurück.
Am 16. Juli hatte sich der General Poliwanow, der Kriegsminister, das Idol der Liberalen, im Ministerrat mit Heftigkeit gegen die Atmosphäre im Hauptquartier erhoben:
»Im Hauptquartier herrscht Kopflosigkeit. Auch das Oberkommando ist von der niederdrückenden Psychose des Rückzuges erfasst und bereitet sich darauf vor, neue Positionen im Innern des Landes zu erreichen. Man hört dort nur noch die eine Parole: Zurück – zurück – zurück! In den Operationen und in den Direktiven vermisst man jegliches System, jeglichen Plan.
Was aber noch viel schlimmer ist: dass die Wahrheit Seiner Majestät nicht zu Ohren kommt. Der Zar bildet sich seine Meinung nur nach den Auskünften und Rückschlüssen, die die Generäle Danilow und Januschkewitsch für gut halten, ihm zu übermitteln …«
Am 24. Juli gab der Aussenminister S. D. Sasonow im Ministerrat die nachstehende Erklärung über Nikolai Nikolajewitsch ab:
»Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass er vollkommen von den Generälen Danilow und Januschkewitsch hypnotisiert wird, die mit ihm machen, was sie wollen. Alle beide wachen eifersüchtig darüber, dass der Generalissimus keinerlei Verbindung mit der Aussenwelt hat. Im Hauptquartier gibt es eine schalldichte Scheidewand, die bewirkt, dass nichts bis zum Grossfürsten vordringt. Man missbraucht sein Vertrauen für streberhafte Berechnungen.«
Am 4. August gab der General Poliwanow noch folgende Erklärung ab:
»Jetzt kann man nicht mehr sagen, dass die Armee zurückweicht: sie ist in voller Flucht. Ihr Vertrauen zu ihren Kräften ist endgültig untergraben. Das Hauptquartier hat vollkommen den Kopf verloren. Die Verwirrung, die in dieser höchsten Kommandostelle herrscht, ist den Truppen nicht verborgen geblieben und hat viel zur Demoralisierung beigetragen.«
In diesem traurigen Augenblick übernahm Nikolaus II. selbst das Oberkommando über die russischen Truppen. »Ich weiss«, sagte er zu seinen Intimen, »dass ein Opfer nötig ist, damit Russland gerettet wird, und dieses Opfer werde ich sein.«
Soldaten und Offiziere begriffen sofort die grosse symbolische Bedeutung, die in dieser Uebernahme des Kommandos lag, und sofort änderte sich die Situation. Die Armee bot die Stirn und warf den Feind zurück, der sie verfolgte. Russland und die Sache der Alliierten waren gerettet. Dieses Verdienst ist Nikolaus II. zuzuschreiben.
Der Grossfürst Andrei Wladimirowitsch schrieb damals in sein Tagebuch:
»Es gibt nur eine kleine Gruppe, die nicht zufrieden ist; es scheinen mir diejenigen zu sein, die jede Stärkung der Autorität mit scheelem Blick ansehen. Aber die meisten haben den Wechsel mit Freude aufgenommen. Die ganze Atmosphäre ist günstiger geworden. Die militärischen Operationen scheinen wieder mehr Anstrich zu bekommen. Man versucht, zur Offensive überzugehen: an manchen Punkten haben wir den Feind in die Flucht geschlagen, und wir haben schon vierzigtausend Gefangene gemacht.«
Wenige Leute kannten damals die Rolle, die Nikolaus II. in dieser historischen Stunde gespielt hat, aber die Zarin war sich darüber ganz klar. Sie gehörte zu der kleinen Zahl derjenigen, die mit aller Kraft den Zaren in seinem Plan, das Oberkommando selbst zu übernehmen, bestärkt hatten. Neben ihr hatte sich auch Rasputin dafür eingesetzt. Und daher erschienen ihr die fast an Wunder grenzenden Resultate, die schon nach einem Monat nach Uebernahme des Oberkommandos erreicht wurden, wiederum als ein Beweis für die Richtigkeit der Ansichten des Staretz, als ein Beweis für seine Weisheit und seinen von Gott gesegneten Klarblick. Sie übertrieb dabei sogar noch die Rolle des Staretz, indem sie glaubte, dass er es gewesen sei, der Russland »rettete«. Am 10. September schreibt sie an den Zaren in einem Brief, in dem sie ihn von den Intrigen der Grossfürstinnen Anastasia und Militsa in Kenntnis setzt:
»Unser Freund hat ihr Spiel zu rechter Zeit entdeckt und hat dich gerettet, indem er dich überredete, selbst das Kommando zu übernehmen.«
Dieser neue Glaube an die grossen Fähigkeiten Rasputins auf politischem Gebiet liess seine Autorität in den Augen der Zarin noch weiter anwachsen. Was die Opposition und im allgemeinen die sogenannte Gesellschaft anbetrifft, die ebenfalls zu Unrecht dem Staretz die Hauptrolle beim Kommandowechsel zuschrieb, so betrachtete sie natürlich von nun an Rasputin als ein fast allmächtiges Geschöpf. Er hatte sogar den Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch selbst »verjagt«! Verblendet durch die politischen Intrigen und durch den Kampf, den sie selbst mit der Macht führte, sprach die russische Gesellschaft dem Staretz eine Bedeutung zu, die er in Wirklichkeit gar nicht hatte, und die ihrer Funktionen enthobenen Minister, vor allem auch Samarin und Djunkowski, bauschten durch ihre Erzählungen sein fantastisches Renommee noch auf.
Alles wirkte zusammen, um Rasputin aus Pokrowskoje noch mächtiger zurückkehren zu lassen, als er hingefahren war. Die Zarin sah seitdem in ihm einen richtigen Staatsmann. Das erzählten ihm seine Freunde, und es machte ihn noch selbstsicherer und kühner, wenn er nüchtern, und noch unverschämter, wenn er betrunken war. Und die Leute, die ihn zu politischen Machinationen auszunutzen hofften, kamen bald dahinter: dieser neue psychologische Zustand schuf ihm alsbald neue politische Freunde und eine neuartige Aktivität. Er war eine offizielle politische Persönlichkeit geworden.
In dem Augenblick, als der Staretz Petersburg verlassen hatte, um sich nach Pokrowskoje zu begeben, hatten Veränderungen im Ministerium Platz gegriffen, die für ihn von grösster Bedeutung waren. Der Hohe Prokurator der Heiligen Synode, Samarin, und der Innenminister, Fürst Schtscherbatow, waren vom Zaren entlassen worden. Der Posten des Prokurators war unbesetzt geblieben, und das Innenministerium war Alexei Chwostow, dem Duma-Abgeordneten, anvertraut.
Alexei Chwostow – nicht zu verwechseln mit dem Justizminister Alexander Chwostow – war ein junger, intelligenter und energischer Mensch, der, wie er sich selbst ausdrückte, »keinerlei Hemmungszentren« hatte. Zerfressen von Ehrgeiz, vergiftet vom Parteigeist und von der niedrigen parlamentarischen Politik, führte er zum ersten Male in den Rat der Minister abenteuerliche Methoden ein, einen vollkommenen Mangel an Prinzipien und an Ernst bei der Leitung der Staatsgeschäfte, wie sie bislang in diesem Kreise noch nicht bekannt gewesen waren. In dem prachtvollen Kabinett in der Fontanka, in dem er der Nachfolger prominenter Staatsmänner wurde, deren Porträts an den Wänden hingen, verbreitete Chwostow ein Atmosphäre von jovialem politischem Banditismus. Er verdankte seine Ernennung einem gewissen Fürsten M. M. Andronikow, der Wyrubowa und der Zarin. Rasputin hatte keinerlei Anteil daran, aber um die Ernennung durchzusetzen, hatte man seinen Namen geschickt ausgenutzt.
Der Fürst Michail Michailowitsch Andronikow war in allen Geschäftskreisen der Hauptstadt eine sehr bekannte Persönlichkeit. Er war klein, beleibt, hatte, weil er gut lebte, eine blühende Gesichtsfarbe, lebhafte, lachende Augen, einen kleinen Schnurrbart und einen winzigen Kinnbart. Er war ein Weltmann, der immer geschniegelt und gestriegelt auftrat. Sein Fürstentitel, sein fehlerfreies Französisch, seine beissende Beredsamkeit und sein ungewöhnlicher Aplomb öffneten ihm die Salons der hohen Gesellschaft und die Kabinette der Minister. Er verachtete die Frauen und hatte auf diesem Gebiete seinen besonderen Geschmack. Indem er seine weitverzweigten Beziehungen und Freundschaften in der Gesellschaft, bei den Verwaltungsstellen und in den Ministerien ausnützte, brachte er alle möglichen Arten von Geschäften zum Gelingen. Fünfzehn Jahre lang gehörte er offiziell zum Personal des Innenministeriums; aber als Maklakow ihn aus den Reihen gestrichen hatte, gelang es ihm, sich dank seiner Beziehungen zu Sablère an die Heilige Synode zu heften. Er gab sich selbst im Scherz den Titel »Adjutant bei Gottvater«. Eine dicke Aktenmappe unter dem Arm, mit geschäftiger Miene, so lief er den ganzen Tag herum, unterhielt sich mit den Ministern, schenkte ihren Frauen Konfekt und Buketts, brachte bestimmten Personen bissige Randbemerkungen über gewisse politische Fragen bei und sandte bei besonders feierlichen Gelegenheiten denjenigen, deren hohe Gunst er sich sichern wollte, Heiligenbilder.
Dieser Mann hatte im Jahre 1914 die Bekanntschaft Rasputins gemacht und ihn auch mehrere Male bei sich im Hause mit Fischsuppe bewirtet. Die Wohnung Andronikows entsprach Rasputins Geschmack. Besonders sein Betzimmer mit all seinen Heiligenbildern, kleinen Lampen und verschiedenen Kultgegenständen gefiel ihm sehr. In diesem Raum, in dem auch ein riesiges Bett stand, verbrachte der Fürst heitere Stunden mit seinen kleinen Freunden.
Nach dem Attentat der Gussewa sandte Andronikow verschiedene Telegramme an Rasputin ins Hospital. Nach Rasputins Rückkehr nach Petersburg besuchte er ihn, um Neuigkeiten von ihm zu hören. Bei einem dieser Besuche traf er die Wyrubowa, die sofort von ihm entzückt war, weil er in ununterbrochener Ekstase Rasputins Güte und Intelligenz in den Himmel hob.
Als Rasputin fort war, nutzte Andronikow, der ausschliesslich von seinen persönlichen Interessen und von seinem Hass gegen Schtscherbatow geleitet wurde, seine neuen Verbindungen aus, um daran zu arbeiten, dass Alexei Chwostow an Schtscherbatows Stelle Innenminister wurde. Es gelang ihm, den Premierminister Goremykin davon zu überzeugen, dass Chwostow der Mann sei, den er brauchte. Der Wyrubowa klar zu machen, dass es unmöglich sei, einen geeigneteren Mann zu finden, war nicht schwer: Chwostow werde Rasputin besser in Schutz nehmen als irgend jemand, sowohl in der Duma als auch in den Kreisen der Gesellschaft, und er habe eine grenzenlose Verehrung für den Zaren und die Zarin … all das vermischt mit Komplimenten über die Zarin und über die Wyrubowa, deren grosse politische Fähigkeiten und Intelligenz er rühmte. Nachdem er so das Terrain günstig vorbereitet hatte, führte er Chwostow bei der Wyrubowa ein. Der Abgeordnete erzählte mit grosser Beredsamkeit, wie es ihm gelungen sei, die Pläne jener Leute zu vereiteln, die die Absicht gehabt hatten, in der Duma eine Interpellation wegen Rasputin vorzubringen; er lobte den Zaren in hohen Tönen, weil er das Oberkommando übernommen habe, rühmte die Verdienste der Zarin, des Rasputin und der Wyrubowa. Die Wyrubowa war erobert und berichtete noch am selben Abend der Zarin.
Von diesem Tage an sprach die Zarin ihrem Gatten gegenüber von Chwostow als von einem Manne, der für das Innenministerium in Frage kommen könne; darauf riet sie ihm, mit ihm zu sprechen, und schliesslich bat sie ihn inständig, ihn zum Minister zu ernennen.
Am 11. September schrieb sie an den Zaren:
»Ich bitte dich, Chwostow zu ernennen. Er ist der Meinung, dass ich allein in deiner Abwesenheit die Situation retten kann.«
Drei Tage vor der Rückkehr des Zaren führte Chwostow den Senator Beletski zur Wyrubowa. Der Senator stellte seine polizeilichen Kenntnisse zur Schau, und da er den wunden Punkt kannte, verbreitete er sich sodann in Lobsprüchen über den Staretz und kritisierte heftig das Verhalten Schtscherbatows, Djunkowskis und sogar des Fürsten Orlow. Kurz, auch er fing die Wyrubowa ein. Annuschka sprach mit der Zarin, die ihn sodann ihrem Gatten empfahl. Als der Zar wieder in Zarskoje-Selo war, hatte Andronikows Plan glatten Erfolg: die so lange erwarteten Ernennungen wurden vorgenommen. Jetzt brauchte das Trio nur noch den Staretz zu umgarnen und sich seiner richtig zu bedienen.
Die Verabschiedung Samarins und des Fürsten Schtscherbatow rief einen Entrüstungssturm in allen Gesellschaftskreisen der Hauptstadt und sogar in der Provinz hervor. Besonders gross war die Erregung in Moskau, wo Samarin allgemein sehr verehrt wurde. Die Entlassung dieser beiden Minister schob man Rasputin in die Schuhe, während er in Wirklichkeit nichts dazu beigetragen hatte.
Die Entrüstung machte aber auch vor der Zarin nicht halt und richtete sich damit gleichzeitig gegen den Zaren selbst. Während die Vertreter der grossen Gesellschaft grossmütig wegen ihrer eigenen Fehler und sogar wegen ihrer eigenen Verbrechen am Vaterlande ein Auge zudrückten, machten sie das Zarenpaar für alles verantwortlich, was passierte – und was zu passieren drohte.