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siehe Bildunterschrift

Grigori Rasputin.

Eine mysteriöse Vision

Verfolgt man die Geschichte der letzten zehn Regierungsjahre des Zaren Nikolaus II., so stösst man auf Schritt und Tritt auf die seltsame Figur des »Staretz« Rasputin, der mit den Geschehnissen dieser Epoche eng verknüpft ist.

Der Bauer Grigori Jefimowitsch Rasputin wurde im Jahre 1863 im Dorfe Pokrowskoje im Distrikt Tiumen des sibirischen Gouvernements Tobolsk geboren.

Das Dorf Pokrowskoje liegt an den klaren, durchsichtigen Wassern der Tura, auf ihrem hohen linken Ufer, dort wo die Tura mit der Tobol zusammenfliesst. Die Tura beschreibt gerade hier einen grossen Bogen, so dass der Reisende vom Dampfer aus lange noch die Häuser des Dorfes und vor allem die weisse Kirche mit ihrer vergoldeten Kuppel sieht. Lange Zeit heften sich seine Blicke noch auf das Kreuz, das in der untergehenden Sonne funkelt, lange noch begleiten ihn die Türme von Pokrowskoje mit ihrem wiegenden Glockenspiel, das sich allmählich in den unermesslichen Ebenen und Wäldern Sibiriens verliert.

In diesem Dorf lebten die Eltern des Grigori: sein Vater, der Bauer Jefim Andrejewitsch Rasputin, und seine Mutter Anna Jegorowna. Sein Vater bebaute das Land und betrieb daneben das Gewerbe eines Fuhrmanns; seine Mutter besorgte den Haushalt. Für sibirische Verhältnisse waren es gutsituierte Bauersleute, aber sie waren nicht reich.

Ihr Haus aus dicken Baumstämmen war geräumig, aber ohne Etagen. Es enthielt eine Diele mit zwei Zimmern, von denen jedes mehrere Fenster hatte. Das eine nannte man »Isba«, das andere »Gornitsa«. In der Isba, die zur rechten Hand von der Haustür lag, war ein grosser russischer Ofen aus Ziegelsteinen, breit und stabil, in dem man kochte und das Brot backte. Er reichte bis zur Decke hinauf, abgesehen von einer Stelle, wo man sich ausstrecken und schlafen konnte.

Ueber der Tür, in der Nähe des Ofens, bildete eine Balkenlage dreiviertel Meter unter der Decke einen geräumigen Hängeboden, auf dem die Familie schlief. In einer Ecke, der »schönen Ecke«, stand ein grosser viereckiger Tisch, über dem an der Wand ein Heiligenbild, ein Ikon, aufgehängt war.

Diese Isba war der eigentliche Mittelpunkt des Familienlebens, hier hielten sie sich gewöhnlich auf, hier assen sie, ruhten sie sich aus und schliefen sie.

Das andere Zimmer, die »Gornitsa«, war für die Gäste bestimmt. Auch dort waren, wie in der Isba, Tisch und Bänke, aber der Hängeboden fehlte; statt dessen stand dort eine Holzbettstelle.

An das Haus stiess ein grosser umzäunter Hofraum. Ein Stall gewährte den Pferden Unterkunft. In diesem Stall war ein mannshoher, aber nicht sehr geräumiger Keller ausgehoben, von dem späterhin noch ausführlich die Rede sein wird. Im Hintergrund des Hofraums stand – ein für jede bäuerliche Häuslichkeit unentbehrliches Nebengebäude – ein kleines Bauwerk für die russischen Bäder.

Die Pferde sowie Wagen und Schlitten, die in einem Schuppen untergebracht waren, bildeten den Hauptreichtum des Vaters, der Reisende und Waren in die Dörfer und Städte der Nachbarschaft beförderte.

Zweihundertfünfzig Werst nördlich von Pokrowskoje, am Zusammenfluss des Tobolflusses mit dem Irtysch, lag die Hauptstadt des Gouvernements, Tobolsk, mit ihrem Kloster Abalak. Achtzig Werst südlich, an der Tura, lag Tiumen, die Kreishauptstadt, durch die in späteren Jahren die West-Ost-Eisenbahn führte. Petersburg lag zweitausend und zweihundertsechsundzwanzig Werst von Tiumen entfernt. Die grosse Poststrasse, der »Trakt«, die Tiumen und Tobolsk verband, führte durch Pokrowskoje. Und auf dieser Strasse spielte sich in der Hauptsache die Fuhrmannstätigkeit des Vaters Rasputins ab. Dank dem »Trakt« war Pokrowskoje selbst im Winter ein lebhafter Ort, in dem immer Betrieb war; es gab da eine Posthalterei, einen Kaufladen und eine Gastwirtschaft.

Bevor Nikolaus II. das Alkoholmonopol einführte, verkaufte man in der Gastwirtschaft Wodka. Man verabreichte ihn bald gegen Barzahlung, bald auf Pump, aber auch gegen Austausch mit allerlei Dingen. Der Inhaber war für die Bauern nicht nur Kaufmann, sondern auch Gläubiger und Wucherer. In dieser weit zurückliegenden Zeit war die Gastwirtschaft das grosse Zentrum des bäuerlichen Lebens, aber auch gleichzeitig seine Landplage. Dort ertränkte man seinen Kummer, dort begoss man die frohen Ereignisse. Aber man vertrank dort nicht nur sein Geld, sondern auch seine Kühe, seine Pferde und sogar seine Kleider. Alles hing von der Geschicklichkeit des Gastwirts ab.

Vierhundert Werst westlich von Pokrowskoje lag Irbit, die Distriktshauptstadt des Gouvernements Perm, die durch ihren Markt berühmt war und wohin den Vater des Rasputin oft sein Beruf führte. Noch weiter, am Turafluss aufwärts, lag die Stadt Werchoturje mit ihrem nicht weniger berühmten Kloster, das in ganz Sibirien bekannt war und wo die Gebeine des Heiligen Simeon des Gerechten ruhten. Im Sommer konnte man von Werchoturje aus die Tura mit dem Dampfer bis Pokrowskoje und weiter bis Tobolsk hinunterfahren.

Alle Jahre kam eine Menge von Wallfahrern durch Pokrowskoje, die auf dem Wege nach dem Kloster Abalak oder nach dem Kloster Werchoturje waren. Manchmal liessen sich einige dorthin weiterfahren, und Rasputin blieb dann lange Zeit von Hause fort. Häufig kam es vor, dass die Familie in ihrem Hause solche durchziehende Pilger aufnahm, die dann von ihren Reisen nach den heiligen Stätten erzählten. Oft auch beherbergte sie »Stranniki«, umherziehende Wanderer, die das Land von einem Ende bis zum anderen durchstreiften.

Diese Gewohnheit, auf Wanderschaft zu gehen, ist eine besondere Eigenart im Leben Russlands, die eben nur in einem so ergiebigen Lande und bei einem Volke von so freigebiger Natur entstehen konnte. Im allgemeinen wie Mönche gekleidet, den Bettelsack auf dem Rücken und den Pilgerstab in der Hand, so wanderten Tausende und Abertausende von Menschen durch die Unermesslichkeit des heiligen Russland. Im Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, ohne Sorge um den nächsten Tag, gingen sie von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, besuchten Klöster und heilige Stätten. Gutherzige Seelen spendeten ihnen Almosen, nahmen sie bei sich auf, liessen sie ausruhen und beherbergten sie für die Nacht. In den Klöstern und in den »Podworija«, den Häusern, die die Klöster in den grossen Städten unterhielten, hatten sie ihren besonderen, sozusagen reservierten Platz.

Nahm man diese Wanderer bei sich auf, so erzählten sie, was sie auf ihren Wanderungen und bei ihren Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten gesehen und gehört hatten. Sie schilderten die fernen Länder, die Menschen und ihre Bräuche. Die Bauern horchten auf diese Geschichten und glaubten sie. Man speiste die Wanderer und gab ihnen, was man konnte. Und zogen sie weiter, so gaben die Bauern ihnen oft sogar noch etwas von dem schwerverdienten Gelde mit auf den Weg, damit sie an dieser oder jener heiligen Stätte für sie beteten oder vor diesem oder jenem Heiligenbild eine Kerze aufstellten oder ein geweihtes Brot in Auftrag gaben.

Es gab unter diesen Wanderern auf russischer Erde viele brave Leute, die von aufrichtigem Glauben beseelt waren, aber es gab auch eine Menge Scharlatane: unter dem Kleid des Mönchs oder des Pilgers verbargen sich richtige Vagabunden, Faulpelze und Parasiten, die die religiösen Empfindungen der Bevölkerung ausnutzten.

Wenn »Wanderer« zu den Rasputins kamen, bereitete man ihnen einen freundlichen Empfang, man lud sie ein, sich zu stärken, und sass man unter dem Heiligenbild um den grossen Tisch herum, stellte man ihnen Fragen und lauschte auf ihre Erzählungen.

Auf dem Hängeboden, neben seinem Bruder platt auf dem Bauch liegend, die Ellbogen auf dem Boden, den zerzausten Kopf auf die Hände gestützt, trank der kleine »Grischa« die Worte der Wanderer in sich hinein. Ihre wunderbaren Erzählungen erfüllten ihn mit Staunen. Er riss die Augen weit auf, und keines ihrer Worte entging ihm, wenn sie die Lawra in Kiew, die Grotten der Heiligen und vor allem den Berg Athos schilderten, wo ewiger Sommer herrscht, die Orangen wachsen und der Winter unbekannt ist, wo das Wasser nicht friert und niemals Schnee fällt … Ohne zu wollen, glitten seine Blicke dann hinüber zum Fenster der Isba: bis zur halben Höhe hinauf war es vom Schnee zugemauert, Windstösse rüttelten daran, und draussen knirschten die Fensterläden, während der Wintersturm im Kamin heulte …

Zeitweise machte Grischa einen etwas sonderbaren Eindruck, besonders seit jener Zeit, da er beinahe ertrunken wäre, als er in die Tura sprang, um seinem Bruder zu Hilfe zu kommen. Die beiden Kinder wurden von einem Bauern aus dem Wasser gezogen, hatten sich aber eine Erkältung geholt. Michael war gestorben; Grigori hatte sich erholt. Von diesem Augenblick an behandelten seine Eltern ihn mit grösserer Nachsicht. Wenn man dem glaubt, was seine Tochter später über ihn in ihrem Buch geschrieben hat, soll Grigori von dieser Krankheit an mit dem zweiten Gesicht ausgestattet gewesen sein. Als er zwölf Jahre alt war, wurden eines Tages im Dorf Pferde gestohlen: Grigori konnte den Dieb beschreiben und auch den Ort angeben, wohin man die Pferde gebracht hatte. Man stellte Nachforschungen im Sinne seiner Angaben an – und tatsächlich: man fand die gestohlenen Pferde wieder.

Der Junge lernte weder lesen noch schreiben. Mit fünfzehn Jahren rückte er heimlich von Hause aus und machte sich auf den Weg nach dem Kloster Werchoturje. Man griff ihn unterwegs wieder auf. Ungefähr zwei Jahre später war er ein richtiger Faulpelz geworden, der seine Zeit damit zubrachte, hinter den Mädchen herzulaufen, zu trinken oder in der Gastwirtschaft zu den Klängen eines Akkordeons mit anderen Bauernjungen seines Alters zu tanzen. Besonders die »Komarinskaja«, einen russischen Bauerntanz, tanzte er brillant, wie ein richtiger Künstler und mit solchem Temperament, dass man beim Zusehen Lust bekam, mitzumachen.

Er war besonders befreundet mit Dimitri Petscherkin, einem klugen, heiteren Bauernjungen, der aber ebenfalls etwas bizarr war und auch von religiösen Problemen gefesselt wurde. Die beiden Freunde sassen oft zusammen und führten lange Gespräche. Die Erzählungen der Pilger und der Wanderer riefen in ihnen den Wunsch wach, auf und davon zu gehen und durch die Welt zu wandern, die geheiligten Stätten zu besuchen.

Mit neunzehn Jahren traf Grigori bei einem Fest des Klosters Abalak ein junges Mädchen aus dem Nachbardorf: Praskowia Dubrowina. Sie war hochaufgeschossen, schlank, schön, hatte dunkelblaue Augen und blonde Haare. Sie gefiel Grigori, und auch er liess sie nicht kalt. Ein Jahr lang trafen sie sich häufig bei Festlichkeiten und bei gemeinschaftlichen Abendunterhaltungen im Dorf. Sie verliebten sich leidenschaftlich. Sie sagten es ihren Eltern, und bald darauf verheiratete man sie. Das junge Paar zog in das Haus der Eltern des Rasputin.

»Wer sich verheiratet, ändert sich«, sagt ein russisches Sprichwort. Und tatsächlich schien Grigori ernster zu werden. Er half jetzt gern seinem Vater, zeigte sich frommer und sorgte sich um das Heil seiner Seele.

Zu jener Zeit musste er einen Mönch nach dem Kloster Abalak fahren. Unterwegs sprachen sie sich in aller Ausführlichkeit über Religion aus, und diese Unterhaltung machte auf Grigori einen solchen Eindruck, dass er sich jetzt noch mehr als vorher für die Glaubensprobleme interessierte. Viel später einmal hat der Pater Iliodor die Behauptung aufgestellt, dass das zufällige Zusammentreffen Rasputins mit Meleti, dem Bischof von Barnaul, das auch um diese Zeit stattfand, einen sehr günstigen Einfluss auf Grigori ausübte: der Bischof lenkte ihn hiernach auf den Weg der Busse und befahl ihm, auf Wanderschaft zu gehen und ein »Staretz« zu werden.

Neun Monate nach der Hochzeit schenkte Praskowia einem Sohn das Leben, aber das Kind starb schon nach sechs Monaten. Die Eltern waren vom Kummer wie niedergeschmettert, besonders Grigori. Er fing an zu beten und entschloss sich, zum Kloster Werchoturje zu pilgern, um sich dort vor den Gebeinen des Heiligen Simeon des Gerechten zu Boden zu werfen und sich gleichzeitig Rat beim Staretz Makari zu holen, der nicht weit vom Kloster als Eremit lebte.

Praskowia packte sein Reisebündel und legte das Evangelium, Wäsche, trockene Biskuits und etwas Tee und Zucker hinein. Als alles fertig war, betete Grigori vor dem Heiligenbild, verabschiedete sich von Frau und Eltern und machte sich auf den Weg, den Bettelsack auf dem Rücken und den Pilgerstab in der Hand.

Unterwegs traf er andere Pilger, die dasselbe Ziel hatten. Auf dem Marsch und beim Ausruhen sprachen sie nur vom Heil der Seele, von den heiligen Stätten und vom Staretz Makari. Nach zwei langen Wochen waren sie in Werchoturje.

Das Kloster erhob sich, mit einer steinernen Mauer mit Türmen umgeben, ganz weiss auf dem hohen, steilen Ufer der Tura. Daneben lag der grosse Marktplatz von Werchoturje. In der Kathedrale ruhten die Ueberreste des Heiligen Simeon des Gerechten, des »Bojarensohnes«, der der Welt Lebewohl sagte und alles im Stich liess, um die ewige Seligkeit zu erlangen. Nach der im Volke verbreiteten Legende sollen diese Reliquien von Goldsuchern entdeckt worden sein, die im Ural ihr Glück zu machen versuchten. Als Grigori seine Pilgerfahrt machte, lagen sie noch in einem ganz armselig aussehenden Reliquienkasten; erst sehr viel später stiftete Nikolaus II. dafür einen silbernen, reichverzierten Sargschrein.

Nachdem Grigori und die anderen Pilger sich vor den Gebeinen des Heiligen auf die Erde geworfen hatten, begaben sie sich zum Staretz Makari.

Und was ist nun eigentlich ein »Staretz«? Die griechisch-katholische Kirche kennt diese Startsy seit sehr langer Zeit, länger als tausend Jahre. Es sind Führer, Ratgeber, Lehrer, die auf Grund ihrer Lebensweisheiten, ihres Alters und ihrer Glaubenserleuchtungen lehren, wie man zu leben hat. Der Staretz lehrt die »göttliche Wahrheit«. Oft liest er in den Seelen und blickt in die Zukunft.

Dostojewski, der mit Geist und Herz das wahre Wesen dieser Startsy erfasste, hat in seinem Roman »Die Brüder Karamasow« ausführlich darüber gesprochen. »Ein Staretz«, sagt er, »ist ein Mensch, der mit seiner Seele und mit seinem Willen von eurer Seele und von eurem Willen Besitz ergreift. Wenn ihr euch einen Staretz erwählt, so verzichtet ihr auf einen eigenen Willen und legt ihn in seine Hände, um blindlings und voller Selbstverleugnung nur noch seinen Befehlen zu folgen …«

Für das Volk ist ein Staretz ein Mann Gottes: alles, was er sagt, ist der Ausdruck der göttlichen Wahrheit; alles, was er befiehlt, muss ausgeführt werden. Und in Massen kamen die Pilger, um die Startsy in den Klöstern um Rat zu fragen, sie offenbarten ihnen ihre Mühsal, ihre Fehler und ihre Krankheiten und flehten sie an, ihnen zu helfen.

Von diesem Glauben und Vertrauen waren auch Grigori und seine Weggenossen durchdrungen, als sie sich zum Staretz Makari begaben. Der Gottbegnadete lebte in einer kleinen Hütte mitten in einem dichten Walde, ungefähr zehn Werst von Werchoturje, und trug Ketten, um sein Fleisch abzutöten. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt. Seine Ausdrucksweise war wenig klar, seine Worte aber von auffallender Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit. Seine Herzensreinheit schien seine Hörer mit seinen Worten zu durchdringen, und was ihre Ohren nicht verstanden, begriffen sie mit dem Herzen.

Eine Menge Hühner und Kücken tummelte sich rings um die Hütte des Staretz. Er sprach mit ihnen, und es war merkwürdig anzusehen, wie jedes einzelne Federvieh ihn verstand, ihm folgte und gehorchte.

Grigori Rasputin vertraute dem Staretz seinen grossen Kummer an. Wir wissen nicht, was der Staretz antwortete. Aber Rasputins Tochter Matrona sagt aus, dass ihr Vater, wie er ihr erzählt habe, den Segen des Staretz erhielt und mit Frieden im Herzen zu seiner Frau zurückkehrte.

Das Leben nahm wieder seinen üblichen Verlauf. Eines Tages im Sommer kam Grigori in grosser Erregung vom Felde nach Haus. Er erzählte seiner Familie, dass er eine Vision gehabt habe. Die heilige Jungfrau sei ihm, über dem Boden schwebend, in ihrer ganzen Glorie erschienen, habe ihn gesegnet und sei dann wieder verschwunden. Das Ganze habe nicht länger als eine Minute gedauert. Die Familie war von dieser Erzählung erschüttert. Man suchte Dimitri Petscherkin auf und berichtete ihm, was Grigori geschehen war. Die beiden Freunde kamen überein, dass man nach Werchoturje gehen und mit dem Staretz Makari über die Erscheinung sprechen müsse. Sie machten sich zusammen auf den Weg. Grigori erzählte dem Staretz seine Vision. Nach Matronas Behauptung soll dieser zu Grigori gesagt haben: »Der Herr hat dich auserwählt für eine grosse Aufgabe. Um deine Seele zu stärken, geh zum Berge Athos und bete zur Mutter Gottes!«

Nach seiner Rückkehr aus »Werchoturje teilte Grigori seiner Familie mit, dass er sich entschlossen habe, die Pilgerschaft zum Berge Athos anzutreten. Seine Frau und seine Mutter brachen in Tränen aus, aber niemand versuchte, ihn von seinem Entschluss abzubringen.

Grigori und Dimitri bereiteten sich auf ihre Abreise vor. Im Dorf machte die Sache grosses Aufsehen. Bald machten sich die beiden Freunde auf den Weg zu ihrer grossen Pilgerfahrt. Die Familie Grigoris begleitete sie, in Tränen aufgelöst, bis zum Ausgang des Dorfes, die Bauern und Bäuerinnen kamen aus ihren Isbas heraus und wünschten ihnen eine glückliche Wanderschaft. Allerdings bemerkte man auf einigen Gesichtern ein ungläubiges Lächeln, denn es fiel manchem schwer, an die Aufrichtigkeit der religiösen Gefühle Grigoris zu glauben.

 

Hat Rasputin wirklich diese Erscheinung der heiligen Jungfrau gehabt? Die Geschichte ist uns mit lebendigen Worten von seiner Tochter Matrona erzählt worden, und auch Rasputin selbst hat darüber zu vielen seiner weiblichen Bewunderer gesprochen. Er hat die Vision sogar dem Zaren beschrieben. Man hat seinen Worten Glauben geschenkt. Der Zar hat sich darüber mit anderen unterhalten.

Wir dagegen bezweifeln, dass die Geschichte wahr ist. Und wenn die Erscheinung wirklich stattgefunden hätte, so hätten fromme Leute oder Rasputin selbst an dem betreffenden Ort sicher bald ein Kreuz aufgestellt. Und ferner: wenn ein solcher Ort existierte, weshalb sollte dann Rasputin später ihn nicht voller Stolz seinen Freunden und Anhängerinnen, die von St. Petersburg herüberkamen, gezeigt haben? Und das hat er niemals getan. Rasputin hat sich immer darauf beschränkt, von der Vision als solcher zu erzählen, und obendrein hat er immer nur dann davon gesprochen, wenn er Tausende von Werst von Pokrowskoje entfernt war.

Aus all diesen Gründen glauben wir nicht, dass Rasputin wirklich eine »Vision« gehabt hat, selbst wenn wir seine schwachen Nerven mit in Betracht ziehen, und wenn wir auch unterstellen wollen, dass er sich damals in einem Zustand äusserster religiöser Exaltiertheit befunden haben mag. Und wenn wir sie erwähnt haben, so geschah es nur deshalb, weil manche Autoren sie als feststehende Tatsache hinstellen und weil Rasputin selbst oft davon gesprochen hat.


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