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Rasputin hatte in der Tat allen Grund, wenn er sich während seines Aufenthalts in Tsaritsyn über die in gewissen Petersburger Kreisen gegen ihn geführte Agitation Sorgen machte. Zu Anfang des Jahres 1910 nahm diese Kampagne einen recht erheblichen Umfang an. In der Presse erschienen die ersten abfälligen Artikel über ihn, und die Gerüchte, die sich mit seiner merkwürdigen Pilgerfahrt nach Pokrowskoje befassten, gewannen immer mehr an Boden.
Im Januar erhob die theologische Akademie in Petersburg ausserordentlich schwerwiegende Anklagen gegen Rasputin. Man erfuhr in der Oeffentlichkeit die Geschichte vom Missbrauch der Elena und der Chionia B. Diese Chionia B. schrieb einen sehr eingehenden Brief an den Zaren, in dem sie die ganze moralische Verworfenheit des Staretz enthüllte. Der Bischof Theophan, der unwiderlegbare Beweise für das unmoralische, ja sogar strafbare Verhalten Rasputins in Händen hatte, versuchte auf ihn einzuwirken – aber ohne jeden Erfolg.
Nichtsdestoweniger kam im Zarenpalast eine Bewegung gegen Rasputin in Gang. Die Lehrerin der Zarenkinder, Sophia Iwanowna Tiutschewa, war empört darüber, dass Rasputin eines Tages in ihr Zimmer eingedrungen war, und protestierte dagegen bei der Zarin. Auch die Kinderfrau Maria Iwanowna Wischniakowa beklagte sich. Diese Frau, die noch vor kurzem eine ganz religiöse Ergebenheit gegenüber Rasputin gezeigt und auch an seiner ersten Pilgerfahrt nach Werchoturje teilgenommen hatte, war jetzt plötzlich seine erbittertste Gegnerin. Sie verabscheute ihn, hielt ihn für unwürdig die Schwelle des Zarenpalastes zu überschreiten. Da sie aus persönlicher Erfahrung wusste, dass die »Heiligkeit« des Staretz ein Mythus war, sträubte sie sich dagegen, dass dieser Wüstling den kleinen Zarewitsch noch zu sehen bekam.
Die Tiutschewa und die Wischniakowa wussten über das Abenteuer der Frau S. Bescheid. Eine der Ehrendamen suchte Frau S. auf und liess sich die Geschichte dieser berühmten Reise nochmals genau bestätigen.
All diese Gerüchte, die über Rasputin umliefen, schufen zusammen eine für ihn recht unglückliche Atmosphäre.
Der Pater Iliodor war der erste, der in aller Oeffentlichkeit die Verteidigung des Staretz übernahm; Rasputin hatte sich nicht vergebens an diesen Freund gewandt. An zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen hielt er vor einer Menge von fünftausend Personen flammende Ansprachen. Er erklärte, dass man nichts Unmoralisches sehen könne in den Küssen, die der Staretz den Frauen gäbe, und in den Bädern, die er mit ihnen zusammen nähme; denn er sei für fleischliches Begehren durchaus unzugänglich.
Diese beiden Reden machten in ganz Russland grosses Aufsehen. Der Text wurde auch dem Zaren und der Zarin vorgelegt. Der Premierminister Stolypin beklagte sich zweimal darüber bei der Heiligen Synode, die daraufhin an Iliodors Vorgesetzten, den Bischof Hermogen, schrieb. Der Mönch Weniamin schickte Brief auf Brief an Iliodor und bat ihn, doch auf keinen Fall sich für Rasputin einzusetzen. Er gab ihm Beweise für die Unmoral des Staretz und teilte ihm mit, dass der Bischof Theophan sich ebenfalls von ihm abgewandt habe. Iliodor bekam auch ebenso Kenntnis von einem Brief, in dem Theophan eine Dame über das schlechte Verhalten Rasputins aufgeklärt hatte. Schliesslich beichtete ihm um diese Zeit die Novizin Xenia, wie sie von Rasputin verführt worden war. Aus allen diesen Gründen zeigte er von nun an, wenn er auch nicht die freundschaftlichen Beziehungen zu Rasputin abbrach, doch mehr Vorsicht, wenn er sich über ihn äusserte.
In Petersburg hatte eine Gruppe von Anbeterinnen die Verteidigung des Staretz in die Hand genommen. Frau Wyrubowa war die Seele des Ganzen. In erster Linie versuchte sie, Frau S. zu besänftigen; denn sie erfasste, dass die ganze Gefahr vor allem von ihr ausging. Auch Rasputin war sich klar darüber, wie die Erzählungen der Frau S. ihm schadeten. Später pflegte er manchmal zu sagen:
»Heh! So eine Schweinerei! Ihretwegen wäre ich beinah aus dem Palais hinausgeflogen!«
Der Gegenstoss dieser Gruppe wurde durch die Reden von Iliodor gefördert, die, wie jedermann wusste, die Billigung des Bischofs Hermogen gefunden hatten. Die Kirche selbst nahm also durch diese beiden Pfeiler der Orthodoxie Rasputin in Schutz! Was für einen besseren Beweis für seine Unschuld konnte man dem Zarenpaar noch geben?
Zum Schluss trug das Lager der Rasputinanhänger den Sieg davon. Die Wischniakowa und die Tiutschewa wurden zwei Monate in Urlaub geschickt. Ein Bericht, den der Bischof Theophan der Zarin erstattete, blieb ohne Erfolg. War nicht gerade er selbst es gewesen, der Rasputin dem Zarenpaar empfohlen hatte? Hatte nicht gerade er ihn noch in den Himmel gehoben, nachdem er mit ihm in Pokrowskoje gewesen war? Hatte nicht er gesagt, dass Rasputin fast ein Heiliger sei? Die Zarin blieb allen Vorstellungen gegenüber unempfänglich.
Im November wurde Theophan in die Krim, nach Simferopol, berufen. Wieder lief daraufhin in Petersburg und besonders in den kirchlichen Kreisen das Gerücht um, dass Rasputins Einfluss am Hofe noch gewachsen sei.
Wenn nun auch die Angriffe im wesentlichen zurückgeschlagen worden waren, so störten sie aber dennoch die idyllische Atmosphäre, in der Frau Wyrubowa und die um sie gescharten anderen Anbeterinnen des Staretz lebten. Die Sache hatte in Petersburg immerhin zu viel Staub aufgewirbelt, als dass die Beziehungen dieses Kreises zu Rasputin weiterhin in derselben offenen und reibungslosen Weise gepflegt werden konnten.
In den vergangenen Jahren hatte Rasputin ausserdem noch Beziehungen zu Tanejew, zum Grafen Witte, zum Fürsten Meschtscherski, zum Senator Mamontow und zu dem Journalisten Sasonow unterhalten. Die Finanzleute hatten in dieser Zeit zum erstenmal versucht, aus Rasputins Einfluss und Beziehungen einen persönlichen Vorteil für ihre Geschäfte zu ziehen. Es handelte sich dabei um die Bewässerung der transkaukasischen Steppen und um die Schaffung einer gewissen Getreidebank. Aber das Projekt misslang.
Im Mai kam Iliodor nach Petersburg. Rasputin, der damals gerade in der Hauptstadt war, rieb sich geradezu auf, um seinem Freund eine Vorstellung von seinen Beziehungen und seinem Einfluss zu geben. Er führte ihn zum Sekretär Tanejew. Er wollte ihn auch zum Grafen Witte führen, aber Iliodor lehnte das ab. Wie er selbst später in seinen Erinnerungen erzählte, kniete in seiner Gegenwart die Frau Wyrubowa vor ihrem Staretz nieder und küsste ihm die Hände.
»Nun, hast du gesehen?« fragte Rasputin ihn voller Stolz, als sie das Haus der Wyrubowa verliessen. »Was sagst du dazu?«
Und ganz geschwätzig vor Freude, setzte er Iliodor auseinander, wie er auf die Frauen einwirkte. Er besass, so erzählte er, eine mysteriöse Kraft, die sich auf jeden übertrug, den er mit den Händen berührte.
Er gab dieser Kraft nicht etwa den Namen »Hypnotismus«, aber in Wirklichkeit handelte es sich darum. In Petersburg hatte er gelernt, was Hypnotisieren ist, und um sich dieser Kunst wirkungsvoll bedienen zu können, hatte er selbst eine Zeitlang bei einem berühmten Hypnotiseur Unterricht genommen. Diese Tatsache ist mit Sicherheit von der Ochrana festgestellt worden.
Ob nun seine Anbeterinnen ihm diesen Wink gegeben hatten oder ob das seinem eigenen Hirn entsprungen war, jedenfalls benutzte Rasputin die gleiche Methode, deren sich vor ihm schon der Heilkundige Philippe bedient hatte: er arbeitete vermittels hypnotischer Suggestion und gab dabei seinen Manipulationen den Anschein von Gebeten. Indem er seine Hände dem Kranken auf den Kopf legte und dabei so tat, als bete er, suggerierte er ihm seinen Willen. Die Wirkung war wunderbar. Der Kranke beruhigte sich, und man schrieb die Heilwirkung der Kraft seiner Gebete zu, die offensichtlich Gott angenehm waren. Auf diese Weise hatte er auch auf die Lochtina eingewirkt, die auf Grund ihres exaltierten Mystizismus durchaus disponiert war, seinem Einfluss zu erliegen, so dass er aus ihr sein willfähriges Werkzeug machen konnte.
Einige Zeit nach Iliodors Aufenthalt in Petersburg begab sich Rasputin nach Saratow. Das war sein letzter religiöser Stützpunkt, nachdem er den Schutz der Akademie in der Hauptstadt verloren hatte. Im Gehirn des gerissenen Bauern war ein neuer Plan aufgetaucht, dessen Ausführung er in Saratow vorbereiten wollte.
Auf das Zarenpaar Einfluss zu gewinnen, war nur möglich, wenn man die religiöse Karte ausspielte. Das war Rasputin im Laufe der letzten Jahre klar geworden. Und da er selbst von Religion stark durchtränkt war, entschloss er sich, trotz seiner Verderbtheit, Priester zu werden, um dann auf diese Weise als Beichtvater endgültig im Zarenpalast Fuss zu fassen. Der Plan war so hinterlistig, dass man sich die Frage vorlegen muss, ob nicht seine Anbeterinnen aus den Kreisen der Petersburger Gesellschaft dahintersteckten.
Der Bischof Hermogen billigte diesen Plan, und der Pater Iliodor wurde beauftragt, Rasputin vorzubereiten. Aber wegen der totalen Unwissenheit Grigoris musste man bald davon Abstand nehmen! Allerdings hatte der Staretz vorher schon eine Sutane probiert und sich in Priesteraufmachung photographieren lassen!
In der zweiten Hälfte des Jahres hörte man wenig von Rasputin sprechen. Die kaiserliche Familie hatte Zarskoje-Selo verlassen und war auf Reisen gegangen. Sie verbrachte drei Monate im Ausland, teils beim Grossherzog von Hessen-Darmstadt, dem Bruder der Zarin, teils in Nauheim, wo die Zarin ihr Herzleiden kurieren wollte und wohin sie auch die Wyrubowa nachkommen liess, teils in Homburg bei den Eltern der Zarin.
Nach ihrer Rückkehr herrschte eine bedrückende Atmosphäre im Schloss, denn die Zarin fühlte sich gesundheitlich sehr schlecht. Rasputin zeigte sich während dieser Zeit nicht, aber jedermann wusste, dass er sich der Wyrubowa als Vermittlerin bediente.
Im Dezember kam der Bischof Hermogen nach Petersburg. Er traf dort mit dem Bischof Theophan zusammen, der im Begriff stand, sich an seinen neuen Amtssitz in der Krim zu begeben. Theophan bemühte sich, dem Hermogen die Augen über Rasputin zu öffnen. Der gute Bischof konnte die Enthüllungen, die ihm von so autorisierter Quelle zuflossen, nicht ganz in Zweifel ziehen, aber trotzdem wandte er sich noch nicht von Rasputin ab.
Das Jahr 1911 begann. Rasputin war in Pokrowskoje. Nichts deutete auf einen neuen Skandal hin, aber plötzlich brach er aus. Und durch eine merkwürdige Verquickung von Umständen brach er gerade in Tsaritsyn los, dem Hauptstützpunkt Rasputins.
Die Predigten des Paters Iliodor gegen die Behörden in Tsaritsyn hatten einen so demagogischen, ja sogar revolutionären Charakter angenommen, dass es untragbar geworden war, sie noch länger zu dulden. Die Heilige Synode beschloss daher, Schluss damit zu machen, und befahl Iliodor, trotz der Intervention des Bischofs Hermogen, sich ins Kloster Nowossil zu begeben.
Iliodor erfuhr die Entscheidung der Synode, als er gerade in Petersburg war. Bischof Hermogen hatte ihn dorthin gesandt, damit er Nachrichten über den Verbleib des Ikons der Jungfrau von Kasan, das gestohlen worden war, überbrächte. Er war bei einem Freunde Rasputins abgestiegen, bei G. N. Sasonow, wo er fleissig die Lochtina besuchte. Er bat auch die Wyrubowa, die sich in Zarskoje-Selo aufhielt, ihn zu besuchen, übersandte ihr Geschenke des Bischofs Hermogen und ersuchte sie, ihm eine Audienz bei der Zarin zu vermitteln. Alexandra Feodorowna weigerte sich aber, ihn zu empfangen: sie sei krank, schützte sie vor. In Wirklichkeit war sie mit dem Bischof Hermogen unzufrieden, seitdem er den Staretz einmal einen »Dämon« genannt hatte. Ausserdem glaubte sie nicht an die Aufklärungen, die er ihr über den Verbleib des Ikons geben konnte; denn Rasputin hatte ihr ein Telegramm geschickt, in dem er sagte, dass das Ikon nicht mehr existiere. Und das traf in der Tat zu, denn die Räuber hatten es vernichtet.
Iliodor rebellierte gegen den Beschluss der Synode und beschloss, ihm einfach nicht nachzukommen. Er reiste zum Bischof Hermogen, der zur Erholung in der Eremitage Serdobsk war, und der Bischof billigte seinen Entschluss.
Das war ein aufsehenerregender Skandal!
Wieder bat Iliodor seinen Freund Rasputin um Hilfe. Mit seiner Bauernschlauheit erfasste der Staretz sofort, dass Iliodor dieses Mal zu weit gegangen war. Er telegraphierte ihm von Pokrowskoje aus, dass man ihm von Petersburg einen Bischof senden werde, der ihm den Standpunkt klarmachen solle; aber gleichzeitig werde man noch einen anderen senden, einen »eigenen« Mann. Die Heilige Synode sandte in der Tat den Bischof Parfeni zu Iliodor.
Diese ganze Geschichte nahm ein immer grösseres Ausmass an. Die Getreuen von Tsaritsyn hatten sich zur Verteidigung ihres vielgeliebten Priesters erhoben. Der Zar bekam Hunderte von Telegrammen, in denen man ihn bat, den Pater Iliodor in Tsaritsyn zu lassen. Das war die Stimme des Volkes! Aber die Regierung, Stolypin an der Spitze, stand auf Seiten der Synode und verlangte die Absetzung dieses demagogischen Mönches. Waren er und der Bischof Hermogen nicht schon daran schuld gewesen, dass der Gouverneur von Saratow, der Graf Tatischtschew, seinen Posten aufgegeben hatte?
Der Zar schwankte. Da er meinte, dass die Behörden in dieser verwickelten Angelegenheit, in der die Leidenschaften entfesselt waren, nicht die ausreichende Unparteilichkeit entwickeln könnten, und da er andererseits auch gern den Wünschen des Volkes entsprochen hätte, beschloss er, einen »eigenen« Mann zur Aufklärung an Ort und Stelle zu entsenden.
Seine Wahl fiel auf einen seiner Adjutanten, Mandryka, Hauptmann im 4. Jägerregiment des Gardekorps der kaiserlichen Familie. Dieser Offizier, ein Mann von hohen moralischen Qualitäten, war verwandt mit der Oberin des Klosters Balaschow im Gouvernement Saratow, die als eine Verehrerin Rasputins galt. Das wusste die Zarin, und es ist durchaus möglich, dass gerade dieser Umstand bei der Auswahl des Hauptmanns Mandryka mitgesprochen hat.
Der Zar liess also den Hauptmann zu sich kommen. Nachdem er ihm mitgeteilt hatte, dass bei ihm einige siebenhundert Telegramme für und gegen den Pater Iliodor eingegangen seien, weshalb er sich entschlossen habe, einen »eigenen« Beauftragten zur Untersuchung der Angelegenheit zu entsenden, fügte er hinzu:
»Meine Wahl ist auf Sie gefallen. Gehen Sie hin und berichten Sie mir mit einer photographischen Exaktheit alles, was Sie sehen, und alles, was Sie hören. Schelten Sie den Iliodor aus, nach allen Regeln der Kunst … Ich habe seine Partei genommen, ich habe ihn geschont. Jetzt aber ist er zu weit gegangen … Ich mische mich nicht in Ernennungen von Priestern. Aber dadurch, dass ich mich nicht einmische, gebe ich stillschweigend meine Zustimmung …
Raten Sie ihm, zu gehorchen …
Und sagen Sie dem Volke, dass es den Pater Iliodor nicht hindern möge, dem Beschluss seiner Synode nachzukommen.«
Bevor er sich auf den Weg machte, begab Mandryka sich zu Stolypin. Dieser sagte ihm, dass Hermogen ein Enthusiast sei, der in seiner Exaltiertheit auf Abwege gerate. Und Iliodor nutzte diesen geistigen Zustand des Bischofs aus; er sei an sich unbedeutend, aber er habe die Gabe der Rede und könne sich nach allen Seiten drehen und wenden.
Bei seiner Ankunft in Tsaritsyn wurde Mandryka wie ein Gesandter des Zaren empfangen. Man zelebrierte ein feierliches Te Deum. Man offerierte ihm das Brot und das Salz. Schliesslich baten ihn die Getreuen Iliodors, dem Zaren eine Bittschrift zu überbringen, in der sie darum nachsuchten, Iliodor in Tsaritsyn zu lassen. Als er wieder abreiste, begleitete die Menge ihn zum Bahnhof. Man sang die russische Nationalhymne und »Gott schütze den Zaren«. Man bejubelte ihn, warf die Mützen in die Luft und rief »Hurra!«
Mandryka hatte Iliodor in Tsaritsyn nicht angetroffen. Er erfuhr, dass er gerade beim Bischof Hermogen sei, und deshalb begab er sich nach Serdobsk, wo Hermogen zur Erholung weilte. Iliodor erwartete ihn dort auf dem Bahnsteig. Er kniete vor ihm nieder, um in ihm den Gesandten des Zaren zu ehren, und bat ihn, mit ihm zum Bischof Hermogen zu kommen. Dort setzte Mandryka den Zweck seiner Reise auseinander und übermittelte Iliodor den Befehl des Zaren. Iliodor weigerte sich, aber nach einiger Zeit zwang man ihn doch, nach Nowossil zu gehen.
Nun hatte Mandryka aber im Laufe seiner Reise rein zufällig Dinge erfahren, die das Zarenpaar sehr betrafen und die ihn in grösste Verwunderung versetzt hatten.
Während seines Aufenthaltes in Tsaritsyn hatte er nämlich seine Verwandte, die Oberin des Klosters Balaschow, besuchen wollen. Aber sie war gerade in Petersburg. Die Nonnen empfingen Mandryka als ihren Verwandten voller Begeisterung, zumal da sie hörten, dass er obendrein ein Abgesandter des Zaren war. Sie sagten ihm, dass sie sehr oft von dem Günstling des Zaren besucht würden, dem Vater Grigori, der ihnen erzählte, dass der Zar und die Zarin und deren Kinder ihn sehr liebten und dass er sehr häufig im Palast empfangen werde. Der Pater Grigori gefalle ihnen sehr, gestanden sie ihm. Gerade eben habe er ein Telegramm aus Pokrowskoje geschickt, und da die Mutter Oberin nicht da war, wollten sie es ihrem Verwandten zeigen. Sie holten es. Und Mandryka las Worte, die ihn sehr verblüfften:
»Einer deiner Verwandten gesandt in Mission nach Tsaritsyn in unserer Sache. Wirke auf ihn ein. Grigori.«
Obgleich er Offizier der Garde war, hatte Mandryka sich bislang immer von dem ganzen Petersburger Hof- und Gesellschaftsklatsch ferngehalten. Der Name Grigori war ihm vollkommen unbekannt. Und er war um so mehr erstaunt, als dieser Mann, der den Majestäten so teuer sein sollte, gleichzeitig ein Freund seiner Verwandten war.
Vollkommen verstört über den Text des Telegramms, ging er zu den Behörden, um Erkundigungen einzuziehen. Man sagte, ihm, dass Grigori Rasputin ein Chlyst und ein Wüstling sei, der mit Iliodor aus Freundschaft gemeinsame Sache mache. Er verführe und schände die jungen Mädchen und missbrauche die Frauen, die allzu vertrauensvoll seien, er »treibe Dämonen aus«. Er habe in Tsaritsyn einen Freund namens Andrei, der bis vor kurzem ebenfalls das gleiche Metier, die Heilung von Besessenen, betrieb, bis man ihn eines Tages verhaftet habe, weil er einen betrunkenen Bauern bei der Dämonenaustreibung beinahe erwürgt habe.
Vor Mandryka öffnete sich eine vollkommen neue Welt, in deren Mittelpunkt Rasputin stand. Und dieser abscheuliche Mensch wurde im Palast empfangen!
Wussten denn die Majestäten überhaupt, mit wem sie es da zu tun hatten? Offenbar doch nicht. Es war also seine Pflicht und Schuldigkeit, sie aufzuklären!
Mandryka notierte gewissenhaft alles, was er über den Staretz in Erfahrung bringen konnte. Auf seiner Rückreise ordnete er das gesammelte Material und setzte über das Treiben Rasputins in Saratow und Tsaritsyn einen langen Bericht auf, der sich wie ein Skandalroman las.
Am 10. Februar morgens traf Mandryka in Zarskoje-Selo ein und wurde sofort im Palast zum Essen eingeladen. Die ganze kaiserliche Familie war beim Mittag anwesend. Mandryka war so aufgeregt, dass er, zum grossen Gaudium des kleinen Zarewitsch, alle Augenblicke die Teller verwechselte. Nach dem Essen ging man in den Salon. Die Zarin setzte sich auf den Diwan. Der Zar ging mit dem Zarewitsch hinaus. Man servierte Kaffee. Und plötzlich fragte die Zarin mit einem Zittern in der Stimme:
»Nicht wahr, die Synode hatte doch unrecht?«
»Ist das nicht unmöglich, Majestät?«
»Man ist parteiisch eingestellt gegen Iliodor, nicht wahr?«
Mandryka wollte gerade antworten, da trat der Zar wieder ein und bat ihn, alles zu erzählen, was er gesehen und gehört habe.
Mandryka begann damit, dass er sich im voraus entschuldigen müsse wegen einiger schlüpferiger Sätze und mehr oder weniger glücklicher Ausdrücke, die in seinem Bericht vorkommen könnten. Nachdem er dann zunächst den Fall Iliodor und Hermogen behandelt hatte, sagte er, dass man in Tsaritsyn eine enge Verbindung zwischen Iliodor und dem Namen Rasputin festgestellt habe; dass bedauerliche Gerüchte im Umlauf seien über Rasputin und seine Verbindung mit den Majestäten und dass das geeignet sei, der kaiserlichen Familie zu schaden. Er verbarg nichts von all den Skandalgeschichten, deren trauriger Held besagter Rasputin in Tsaritsyn und im Kloster gewesen sei. Die Nonnen des Klosters Balaschow selbst hätten ihm von den Gelüsten erzählt, mit denen der Staretz sie verfolgt habe. Er zitierte auch den Text des Telegramms, das Rasputin an die Oberin des Klosters Balaschow gesandt hatte. Dieser Rasputin sei ein Wüstling, der mit den Frauen Bäder zusammen nähme. Seine Theorien hätten grosse Aehnlichkeit mit der Lehre der Chlysty. Uebrigens betrachte man ihn sogar als richtigen Chlyst. Es sei beschämend, dass ein so abstossendes Geschöpf von einem Manne wie Bischof Hermogen protegiert worden sei. Alle anständigen Leute wunderten sich darüber und könnten es nicht fassen, wie so etwas möglich sei.
»Man geht sogar soweit, zu erzählen«, schloss Mandryka seinen langen Bericht, »dass er die Gunst Ihrer Majestäten geniesst.«
Als er das gesagt hatte, bekam er eine Nervenkrise und fing an zu schluchzen.
Der Zar holte ihm rasch ein Glas Wasser. Die Zarin, die den Bericht mit gespannter Aufmerksamkeit angehört hatte und sichtlich bewegt war und wiederholt Seufzer ausgestossen hatte, bemühte sich, Mandryka zu beruhigen.
Mandryka war körperlich und seelisch gebrochen, als er wieder zu Hause ankam. Er erzählte alles seiner Frau, warf sich dann auf das Bett und verfiel in einen bleiernen Schlaf …
Am nächsten Tage bekam er von seiner Verwandten, der Oberin, die inzwischen von der Wyrubowa ins Bild gesetzt worden war, ein Telegramm folgenden Wortlauts:
»Hast schöne Geschichte angerichtet.«
Drei Tage später lud sie ihn ein, sie in Petersburg aufzusuchen.
»Weisst du«, sagte sie ihm mit ängstlicher Miene, »dass auf Grund deines Berichtes Grigori Jefimowitsch dort unten nicht mehr empfangen worden ist? Du hast deinen eigenen Untergang herbeigeführt, deine Karriere ruiniert. Rasputin ist ein guter Mensch. Man muss ihn retten.«
Die Oberin bat ihn, bei der Rettung des Staretz behilflich zu sein; aber Mandryka blieb unbeugsam. In seinen Augen stand die Verderbtheit des Staretz einwandfrei fest.
Zwei Tage später hatte der Hauptmann Dienst im Schloss. Der Zar empfing ihn liebenswürdig und streckte ihm die Hand hin. Beim Mittagessen unterhielt er sich mit ihm voller Wohlwollen. Als die beiden Männer nach dem Mittagessen allein waren, entschuldigte sich Mandryka nochmals, weil er in seinem Bericht vielleicht Ausdrücke habe gebrauchen müssen, die für die Ohren einer Dame schockierend gewesen seien. Aber der Zar war sichtlich befriedigt von seinem Bericht.
Einen Monat später kam der Bischof Parfeni aus Tsaritsyn zurück und bestätigte alles, was der Hauptmann berichtet hatte.
Nikolaus II. blieb dem Hauptmann gegenüber bis zum Schluss voller Wohlwollen, aber Alexandra Feodorowna zeigte sich ihm gegenüber kühl. Er wurde nicht mehr zum Essen eingeladen, ausser im Jahre 1914, bevor er nach Nischni-Nowgorod abreiste, wo er zum Gouverneur ernannt worden war.
Jedenfalls hatte sein Bericht beim Zaren einen starken Eindruck hervorgerufen, und er gab denn auch Befehl, Rasputin nicht mehr erscheinen zu lassen.
Daraufhin rieten die Anhänger ihrem Staretz, dass er sich auf eine Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten begeben sollte, um seine Sünden mit dem Gebet auszulöschen. Diesen Rat befolgte er.