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Vater Lorent war ein anderer geworden. Bei der Übersiedlung bewies er, wie innig er Agi liebte. Die Mutter mußte das kranke Kind in eine Federtuchent wickeln und mit Bändern verschnüren wie einen Säugling, und so trug es der Vater auf den Armen zur Bahn. Ännchen ging nebenher. Und als der Zug sich in Bewegung setzte, reichte sie dem Koja durchs Fenster ein Büchlein hinauf. »Das gib der Agi.« – Es war »Erbens Sagenstrauß«.
Aus Rücksicht auf die Kranke war Lorent die Regiefahrt Um sehr ermäßigten Fahrpreis. in der 3. Wagenklasse des Schnellzuges bewilligt worden. Der fuhr um 10 Uhr vormittags von Pardubitz ab und brauchte bis Wien nur sechs Stunden. Und während der Zug dahinraste aus der fruchtbaren Elbe-Ebene mit ihren Rübenfeldern, ihrem von Bächen durchäderten Wiesenland und den weitgedehnten Ackerböden, und allmählich anstieg zu den bewaldeten Höhen des böhmisch-mährischen Berglandes, litt es Koja nicht im engen Wagenabteil, wo Mutter und Vater ängstlich die fiebernde Agi beobachteten, er schaute ins Gefild. Er wollte den roten Grenzstrich sehen, der auf der Landkarte ein Land von dem andern trennte. Er schlich auf den langen Gang hinaus. Aber so scharf er auch spähte, einen Grenzstrich sah er nicht. Alles war ein Land. Er gesellte sich zwei Reisenden zu, die beim offenen Fenster standen und ab und zu in tschechischer Sprache einige Worte über die Gegend wechselten. Als sie an Brandeis vorüberfuhren, das im Schutz einer alten Burg so friedlich an der stillen Adler liegt, erlauschte er, daß dort Comenius als Bischof der böhmischen Brüder gelebt hatte, jener Friedensapostel Comenius, der um seines Glaubens willen aus der Heimat vertrieben worden war, dann aber in Deutschland und Polen, in Holland, Schweden und England von hochgesinnten Menschen liebreich aufgenommen worden war; daß er dort das Schulwesen verbessert hatte, daß er geehrt worden war als klarer Denker, als großer Gelehrter, als segenstiftender Lehrer, geliebt als ein guter Mensch von Tausenden anderen guten Menschen. Alles, was sie von Comenius sprachen, rief in dem Knaben das Wort eines anderen Lehrers wach: »Andern zur Freud!« – Den beiden Reisenden war es aufgefallen, daß Koja mit offenem Munde ihrem Gespräch gefolgt war. Da zog der ältere von beiden seine Brieftasche aus dem Rock und suchte darin herum, bis er eine abgegriffene Postkarte fand, die das Bild des großen pädagogischen Reformators trug. »Da, Kleiner, hast du das Bild des Comenius. Gib's hinter Glas und Rahmen und häng es über dein Bett.« Koja dankte lebhaft. Und er ahnte nicht, daß dies Bild mitbestimmend werden sollte für seinen Lebensgang.
Als der Zug von Raitz aus durch das malerische Bergland der mährischen Schweiz die Steigung hinanpustete, sprachen die Herren von den Slouper-Höhlen. Dort hingen von den Decken Tropfsteinsäulen nieder, die mit den vom Boden aufstrebenden oft zusammenstanden. Und in diesen Höhlen gab es Knochen von riesenhaften Bären, die in vorsintflutlicher Zeit dort gelebt hatten, als die Menschen ringsherum noch Wilde gewesen waren, die sich aus Steinsplittern und Knochen Werkzeuge machten, weil sie noch nicht gelernt hatten, die Metalle aus den Erzen zu schmelzen. Und beide Herren sprachen das alles weniger für sich als für den Jungen, an dem sie einen gierigen Lauscher wußten.
Das Häusermeer von Brünn mit seinen vielen Fabrikschloten und Kirchtürmen ließ Kojas Augen weit werden vor Staunen. Er sah den Spielberg mit seinem burgähnlichen Bau die Kirchtürme der Stadt überragen. Und er hörte, daß da jahrhundertelang ein Staatsgefängnis gewesen war mit Folterkammern und Marterwerkzeugen. Erst Kaiser Josef hatte der Menschenquälerei ein Ende gemacht.
Der Hunger trieb Koja in den Wagenabteil zurück. An den Buchteln, welche die Großmutter als Wegzehrung mitgegeben hatte, und an kaltem Kaffee sättigte er sich, saß eine weile zu Häupten Agis, die jetzt ruhig schlief, dann aber stellte er sich wieder auf den Gang. – In steter Senkung ratterte der Schnellzug dahin. Die Berge flohen zurück, Flüsse schlängelten sich in tiefen Tälern zwischen bewaldeten Höhen und saftiggrünen Wiesen, und dann kam etwas, was Koja nie gesehen hatte: Weingärten auf den Hängen der Hügel, Weingärten bis zum Bahngeleise heran, daß er die blauen und gelbgrünen Trauben erkennen konnte, die er bisher nur im Bilderbuch gesehen hatte. Und dann fuhr der Zug durch eine weite Ebene, die in der Ferne von zartblauen Bergrücken gesäumt war. Stoppelfelder und Ackerland, da und dort ein pflügender Bauer, Weiber in grellfarbigen Kopftüchern beim Kartoffelgraben. »Die Marchebene,« sagte einer der Mitreisenden. An kleinen Ortschaften mit großen Fabriken vorbei hastete der Zug weiter und ratterte über die lange Eisenbahnbrücke, unter der breit und schwer die Donau dahinfloß, auf die Koja gewartet hatte. Ein blendend weiß gestrichener Personendampfer schwamm den Strom abwärts, ein schwarzer Frachtdampfer mit fünf angehängten schmalen Schleppschiffen arbeitete keuchend gegen das schwere Wasser. – »Die Donau!« – Durch drei Länder war Koja gefahren, zweimal über die Grenze; er hatte scharf geschaut und die Grenzstriche nirgends gesehen, nicht auf der Erde, nicht über der Erde. Und der Himmel war immer derselbe gewesen.
Um vier Uhr nachmittags hielt der Schnellzug im Wiener Ostbahnhof; dann trug der Vater die schlafende Agi in seinen Armen hinüber auf den nahen Südbahnhof, durch die Halle und die Stiege hinauf. Als sie ihre Plätze im Südbahnzuge eingenommen hatten, war Koja noch immer nicht schaumüde. Er sah die bewaldeten Hügel des Wiener Waldes, er sah Weingärten, Ortschaften und Burgruinen, aber da war niemand, von dem er eine Auskunft erlauscht hätte, was die Menschen um ihn her sprachen, davon verstand er kein Wort. Es war Deutsch. – Der sinkende Abend hüllte die Gegend in seine Dämmerungsschleier; da und dort flammte ein Licht auf. Als die Lorentischen in Leobersdorf ausstiegen, stand die rotgelbe Mondscheibe tief über dem flachen Lande. In einem leeren Eisenbahnwaggon auf einem Seitengeleise durfte die Familie die Nacht verbringen, wie einst in Alt-Paka. Vater und Koja schliefen ausgestreckt auf den Bänken. Mutter Maria saß aber Agi gegenüber und sprach lispelnd ihr inbrünstiges Gebet. Da sah sie die Kranke lächeln im Traume. Nicht frei von Aberglauben, klammerte sich die bekümmerte Mutter an die Prophezeiung der alten Waldläuferin. – Verdruß und Tränen und Keifen waren eingetroffen. Und sie hoffte nun auf die Freuden, die nachkommen sollten. Und als Vorahnung der ersten großen Freude stieg die Zuversicht in ihr auf, daß Agi genesen werde.