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In Frost und Glut.

Am Dienstag der zweiten Schulwoche bekam Agi in der ersten Schulstunde plötzlich so argen Schüttelfrost, daß Annerl vom Lehrer beauftragt wurde, sie nach Hause zu bringen. Als aber Agi ihr auf der Stiege zusammenbrach, bat Annerl den Koja von seinem Lehrer frei. Dann führten die beiden oder, besser gesagt, sie trugen streckenweise die Erkrankte heim, wo sie auch im Bette sich nicht erwärmen konnte. Als nach zwei Stunden der von der Mutter herbeigeholte Bahnarzt kam, war der Frost einer trockenen Hitze gewichen und die arme Agi schien den Verstand verloren zu haben; oder waren ihre Augen getrübt? Koja, den sie für den Hacina hielt, und Annerl, das sie als Hacinas Mutter ansprach, mußten von ihrem Bette weg. Der Arzt, dem es unwahrscheinlich war, daß er es zu so später Jahreszeit hier mit einem Anfall von Sumpffieber zu tun hätte, deutete die Krankheit als Ausbruch der Tuberkulose und sprach zu der ohnehin trostlosen Mutter das harte Wort: »Wie können Sie ein Mädchen in den Entwicklungsjahren so unterernährt aufwachsen lassen?« Das Medikament, das er verschrieb und das von Annerl mit ihrem Taschengeld gekauft wurde (Kreosot-Pastillen gegen Tuberkulose), schlug Agi der Mutter aus der Hand und schloß den Mund, daß die Zähne knirschten. – Nach sieben Stunden der Fieberqualen hörte die Kranke auf, irre zu reden und schlief unter starkem Schweißausbruch vor Mattigkeit ein. Dabei bedeckten sich ihre blutleeren Lippen und die eingefallenen Wangen mit gelblichen Bläschen, der Atem ging seicht. Sie bot den Anblick einer Sterbenden. Als Vater Lorent abends aus dem Dienste kam, verkündete er überlaut schon von der Schwelle aus, daß er die Einberufung hatte nach Leobersdorf bei Wien als Bremser zu den Schotterzügen. In einer Woche sollte er antreten. Kein Lächeln trat auf Marias Züge. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen: »Pst, sei still, die Agi ist schwer krank.« Nach einem Blick in Agis verändertes Gesicht brach der der Mann vor dem Bette in die Knie, umklammerte die kühle Hand der Kranken und lispelte stoßweise vor sich hin: »Nicht sterben, mein Kind, nicht sterben!« Darauf lief er ohne Kopfbedeckung aus dem Haus, rannte durch die lichtarmen Gassen fort auf den Ringplatz, wo er den besten Arzt wußte. Nach einer Stunde erst kam er mit dem weißhaarigen, aber lebfrischen Herrn zu den Seinen. Der war nach wenigen Fragen darüber im Klaren, daß er es hier mit einem Fall von Sumpffieber zu tun hatte und verordnete Chinin. Er tröstete die verstörten Eltern: »An Malaria stirbt bei uns niemand. Es wäre denn an Herzschwäche als Folge von Unterernährung und Überanstrengung.« Zwei Worte wie Keulenhiebe, hatte Agi nicht bei zu wenig Nahrung ungezählte Nachtstunden mit Sticken und Flicken zugebracht? – Noch in derselben Nacht läutete Vater Lorent den Apotheker aus dem Schlaf und brachte das Medikament heim. Als er frühmorgens daran war, in den Dienst zu gehen, erwachte Agi aus ihrem tiefen Schlaf. Und der Vater war Zeuge, wie sie vom Fieberfroste geschüttelt wurde. Da versuchte er, ihr die Arznei einzugeben. Sie aber hielt den Mund krampfhaft geschlossen und riß dem Vater den Löffel aus der Hand.

In der Verzweiflung schrie der Mann seine Frau und Koja an: »Haltet sie, ich bring ihr's bei.« Und während die Mutter weinend Agi den Kopf hielt und Koja ihre Hände umklammerte, zwängte ihr der Vater einen Löffelstiel von der Seite her zwischen die Zähne, schob ihr mit einem anderen Löffel die Medizin in den Mund und hielt ihr dann die Kiefer aneinander, daß sie nur durch die Nase zu atmen vermochte.

Auf diese Art wurde Agi auch in den nächsten Tagen gezwungen, die Arznei einzunehmen. Das Fieber, welches sich in den ersten drei Tagen pünktlich um halb neun eingestellt hatte, verspätete sich im Laufe der Woche um eine ganze Stunde. Aber noch immer dauerte es täglich sieben Stunden und die Kranke wurde schwächer und schwächer. Damals betete Mutter Maria so inbrünstig wie nie vorher und klagte sich selbst in Gegenwart ihres Mannes an, daß sie die gute Agi jahrelang mit dünnem Zichorienkaffee, Brot und Kartoffeln genährt hatte bei der Überanstrengung, bei dem Mangel an Schlaf. Das griff dem Manne ans Herz und er mied in dieser Woche das Gasthaus. Als er nach Leobersdorf vorausfahren mußte, um eine Wohnung zu bestellen und für die Übersiedlung einen Dienstaufschub zu erwirken, kehrte er nach drei Tagen nüchtern zurück. Indes hatte sich die Großmutter, die durch Marktleute von Agis Erkrankung verständigt worden war, mit einem Hausmittel eingestellt. Sie brachte Agi ein dreifarbiges Kätzchen, das sollte bei ihr im Bette schlafen. Und die alte Frau sagte voraus: »Die Katze wird die Krankheit in sich ziehen und wird davon zugrundegehen, von der Kranken wird die Krankheit genommen sein und sie bleibt am Leben.« Das Kätzchen aber war nicht zu bewegen, bei der Kranken zu bleiben, ob ihm Koja auch schmeichelnd zusprach. Da züchtigte er das Tier, so oft es das Bett verließ, und die Folge war, daß es in einem unbewachten Augenblick entwischte auf Nimmerwiederkehr.

Als Koja vor der Übersiedlung nach Leobersdorf sich und die Schwester in der Schule abgemeldet hatte, begegnete er dem alten Lehrer Kozák im Stiegenbaus. Der blickte dem Buben ins verweinte Gesicht und fragte ihn, warum er weine. Als er erfuhr, daß die Familie in die Fremde zog, legte er Koja die Hand auf den Scheitel, »Ob da oder dort, wenn du brav lernst, wirst du ein tüchtiger Mensch werden, andern zur Freud.« während Koja heimging, klang in ihm das Wort wieder und wieder nach jeder Gedankenreihe als Kehrreim: »Andern zur Freud.«

Und seiner Bruderseele war es nicht möglich, sich vorzustellen, daß Agi nicht mehr da wäre. Sie mußte gesund werden, wem hätte er denn mehr Freud machen sollen als der Mutter und der Agi?

Das glücklich gewählte Wort des alten Lehrers ward in Kojas Seele zum Leitgedanken; es klang in ihm als Gebet: »Andern zur Freud.«


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