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Sein und Schein.

Es wurde Mittsommer. Die schlanken Halme des weithin wogenden Getreides waren gelb, sie nickten mit ihren kornschweren Ähren, sie rauschten und säuselten im Winde.

Die Ernteferien brachten Koja viel ungeahnte Freuden. Er durfte mit Nachbarskindern den Schnittern Essen tragen und bei der Heimkehr hoch auf den Garben sitzen, die auf schwankendem Leiterwagen zur Scheune geführt wurden. Und nach jedem Tag, an dem ein lauer Sommerregen die Erde getränkt hatte, weckte die Großmutter seine Schwester und ihn beim Morgengrauen. Da marschierte sie mit den Kindern aus. Und ihre beiden Katzen, die zarte lichte Bielka und der schwarze Tschertik Teufelchen., sahen ihnen vom Fenstergitter aus nach, bis sie hinter den Alleebäumen der Königgrätzer Straße entschwanden. Sie führte die Kinder in den dunstigen Wald hinauf, um mit ihnen Schwämme zu sammeln. Den Korb am linken Arm, in der rechten das Messer, die Augen auf den Boden gerichtet, gingen sie vorgebeugt auf schwellendem Moose dahin; und wo ein Steinpilz oder ein Föhrenpilz in ihrer prallen und steifen Protzigkeit dastanden, oder ein Nest gelber Eierschwämme sich von dem Grün des Mooses abhob, wurden die Pilze nahe am Boden abgeschnitten, damit die Schwammbrut nicht aus der Erde gerissen werde. So wollte es die Großmutter. Und die Stellen sollten sich die Kinder merken; nach der nächsten feuchtwarmen Nacht würden sie ebendaselbst schon wieder Schwämme finden, die aus dem Boden geschossen wären. Und wo ein junger Schwamm die Moosdecke emporhob, die er noch nicht durchbrochen hatte, halfen sie ihm zum Lichte und dann in den Korb. War das ein Wetteifer im Suchen und Finden, ein Jubeln und Jauchzen, wenn gleich drei, vier, fünf oder mehr Schwämme beisammen standen, da, da, dort auch einer und dort schon wieder einer! wo ein grellfarbiger oder mißfarbiger oder gar stinkender Giftpilz stand, mußten sie ihn erst betrachten und dann mit den Schuhabsätzen seinen Standort aufreißen, damit seine Brut verdorre.

Eines frühen Vormittags, als die Körbe schon gegupft voll waren mit Herrenpilzen, Föhrenpilzen, Eierschwämmen und jungen, zarten, spröden »Bärenprankerln« führte die Großmutter die Rinder zum Rastplatz. Dort waren drei von Astmoos dünn besponnene Baumstrünke, die am Waldrand nahe beisammen standen. Die Geschwister mußten sich so setzen, daß die noch nicht sehr hoch gestiegene Sonne über ihre Rücken hinweg schräg in die unzähligen Tauperlen hineinleuchtete, die noch an den Blatträndern der Gebüsche, an den nickenden Grashalmen und Rispen hingen. Während den Rindern der Kaffee und die Butterbrote köstlich schmeckten, irrten ihre Augen auf und ab und hin und her von einem Tautropfen zum anderen. Sie sahen die Regenbogenfarben nacheinander aus den Tauperlen hervorblitzen; und sie wollten von der Großmutter wissen: »Wie kommt das Gelbe und Rote und Grüne und Blaue in die Tropfen hinein? Da hieß sie die Kinder aufstehen und dieselben Tropfen von der entgegengesetzten Seite betrachten, der Sonne entgegen. Und nichts mehr war zu sehen von der Farbenpracht. Sie war nicht da. Als Koja nun die Frage stellte: »Wie, Großmutter, wie sind die Farben jetzt aus den Tautropfen weggekommen?«, da versetzte sie: »Weggekommen? Ach, weggekommen sind sie gar nicht; sie waren nämlich überhaupt nicht drin; das war nur ein Schein in unseren Augen; das ist nur so, wenn wir die Sonne hinter uns haben.« Da war das Wort Schein zum erstenmal in Kojas und Agis aufhorchende Seelen gefallen. »Und sind die Tropfen so licht, so ohne Farbe, wie wir sie jetzt sehen?« forschte das Mädchen. – »Ich weiß es nicht« sagte die Großmutter, »vielleicht ist das auch nur Schein.« – »Und wie sind die Tropfen wirklich?« – »Wie sie wirklich sind?« fragte sie zurück. »Das weiß ich nicht. Das weiß wohl überhaupt niemand.« Und als die Großmutter die enttäuschten Gesichter der Kinder sah, sagte sie tröstend: »Wie die Dinge wirklich sind, das weiß kein Mensch; wir wissen nur, daß sie da sind.« –

Nur dreimal hatte es die Großmutter nötig, mit den Geschwistern den Wald die Kreuz und die Quer zu durchwandern. Dann konnte sie daheim bleiben und Agi bei ihr. Koja kannte sich ja im Walde schon aus. Die Höhenstraße, welche die Königgrätzer Straße kreuzte und auf der Schneide des Bergrückens sanft zum Kunietitzer Berg aufstieg, durchschnitt ja den Wald der Länge nach; von ihr aus senkte sich der Boden nach links und rechts; da war es leicht, die Straße immer wieder zu finden. – So wurde Koja ein richtiger Waldläufer, der nicht nur Pilze fand, sondern auch allerlei Bekanntschaften machte mit gar lieben Waldbewohnern. Da gab es Kaninchen zu belauschen, die im Sandboden ihre Höhlen hatten, dort zwitschernde Meisen, dort wieder schimmernde Eidechsen. Aber nie mehr fiel es Koja ein, ein Eichhörnchen auch nur bei seiner Mahlzeit zu stören; er gönnte ihm seine Ruh und sein Behagen und hatte seine Freude am Beobachten. Einmal sah er, wie eines den Hut eines jungfrischen Pilzes zwischen den händchenförmigen Vorderpfötchen hielt und das weiße Fleisch herausnagte, um schließlich die leergefressene Haut hinunterfallen zu lassen. Ein anderes ließ erst die Schuppen eines Föhrenzapfens nacheinander hinunterwirbeln, während es die Samenkörner herausknusperte und dann die Spindel zu Boden warf. Am Waldrand wußte er ein Goldammernest im Schutze eines Dornbusches, dicht im Bodengestrüpp; da belauschte er den brütenden Vogel, dessen Rücken rostfarbig und dunkel gestrichelt, sich kaum vom Gewirre abgestorbener Zweiglein und Blätter abhob. Das Auge der Vogelmutter, die zuwartend sitzen blieb, schaute bittend und fragend zum Knaben auf; er fühlte sich vom vertrauen des Vogels geehrt; er zog sich behutsam zurück, daß kein Zweiglein unter seinem Fuße knackte. Tag für Tag wiederholte er bei der Vogelmutter seine Besuche; er beobachtete, wie die vier jungen Vögel ihre graubeflaumten Köpfe auf den dünnen Hälsen emporreckten, wie sie die Käseschnäbelchen aufsperrten, wenn die Mutter von ihrem Beuteflug heimkehrte, um ihre Kinder mit allerlei Raupen zu füttern, die gleich kleinen Würstchen in ihrem Schnabel eingeklemmt waren. Nach und nach befiederten sich die vogeljungen. Noch hatten sie kurze Schwänzlein und schon wuchsen ihnen die Schwingen. Da machten sie von Zweig zu Zweig ihre ungeschickten Flugversuche. Und Koja genoß die Auszeichnung, von der Alten als Gast und Zuschauer in der Fliegerschule geduldet zu werden. Sie war so ruhig, als wäre er gar nicht da. Ließ sich aber ein schwebender Falke am Himmel sehen, da lockte sie mit dringlichem Schnalzen ihre Kinder zum Nest, daß sie darin zusammenrückten, während die Mutter, durch ihre Waldstreufärbung dem Boden gleich, sich über ihnen aufplusterte und ängstlich emporstarrte nach dem kreisenden Räuber, bis er im Gleitflug über den Baumkronen verschwand. – Tiefer im Walde hörte es Koja manchmal trommeln; und kam er näher, so war's ein rotbehaubter Specht, der einen dünnen Zweig durch Schnabelhiebe zum Schwingen brachte und dann die Schnabelspitze dagegen hielt, daß es klang wie: trrrr, trrrr, trrr …

Unweit des Rastplatzes, wo Koja nach getaner Sammelarbeit sein Frühstück zu verzehren pflegte, hatte er ein kniehohes Ameisennest; es war ein kleiner Kegel aus Föhrennadeln und Zweigstückchen, der in der Morgenkühle unbeweglich dalag, als wäre er unbewohnt; in der Mittagwärme aber war es, als wären an der Oberfläche die Nadeln lebendig geworden; das war ein Gewackel und Gegleite, ein Sich-Rühren und -Bewegen! Die großen schwarzen Ameisen taten sehr wichtig beim Herumschleppen ihres Bauholzes, als müßte jedes Stück so und nicht anders gelegt werden. Und manchmal schoben sie ein Zweigstück der Länge nach in ein Loch, daß es im Hügel verschwand. Das brauchten sie wohl in einer Rammer als Pfosten oder Balken, daß die Decke nicht einstürzte, von außen her krabbelten immer etliche mit allerlei Beute über das holperige Gebäude. Da schleppten drei eine tote Raupe, dort zerrten zwei an einer Fliege, dort wieder hatte sich eine ganze Schar in einen an der Sonne vertrockneten Regenwurm verbissen und zog ihn über das spießige Gewirre der Föhrennadeln empor. Er mochte als Dörrfleisch in die Vorratskammer kommen. Andere aber erschienen mit den weißlichen »Ameiseneiern«, Puppen im Kokon. die länglich aussahen wie Wickelkinder, in den Ausgangslöchern des Baues und legten sie in den warmen Sonnenschein. Es gereicht den Ameisen (Emsen) zur Ehre, daß von ihrem Namen das Wort »emsig« abstammt.

Jedesmal, wenn Koja die Ameisen besuchte, brachte er ihnen ein Gastgeschenk: Brotbrösel, gedörrte Pflaumen, Apfelschnitten, und freute sich am Eifer, in dem sie die Spenden mit ihren geknickten Fühlern betasteten, um sie dann mit den Beißzangen zu fassen und ganz oder zerkleinert ins Nest zu schleppen.

Wo der Waldweg sich der Königgrätzer Straße näherte, entdeckte Koja eines Tages einen dunklen Falter, der sah lichtbraun aus, wenn er gerade auf ihn hinschaute, dann wieder wunderbar blauleuchtend, wenn er ihn von der Seite betrachtete. Und wieder drängte sich ihm die Frage auf: Wie ist er eigentlich? Er fand keine Antwort, auch bei der Großmutter nicht. Und Agi zweifelte, ob Koja recht gesehen hätte. Gab es so wunderbare Schmetterlinge, die in zwei Farben schillerten? Da blieb das Rätsel in seiner Kindesseele ungelöst, das alte Rätsel vom Sein und vom Schein, das noch niemand ergründet hat.


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