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Nächtliche Schüsse.

Es war im Februar. Die warme Mittagssonne hatte die Schneelast auf dem Dache getaut, daß es von den Schindeln träufelte. Gegen Abend setzte ein schneidend kalter Wind ein. Von den Rändern der Fensterscheiben wuchsen Eisblumen zur Mitte wie Farnkrautwedel, die sich dann wirr durchkreuzten und mit einem Pelz von Eisnadeln bedeckten, daß sie den Sternenglanz des Winterhimmels ausschlossen. Vater Lorent war wieder einmal bei seiner Familie, auch Mutter und Agi waren daheim. Zum Abendmahl gab es mehlige Kartoffel in der Schale, dazu heiße Grammel (Grieben), Brot und Kaffee. Dann saßen sie alle eng beisammen in der kleinen Küche; bei dem eisigen Winde wäre das Zimmer nicht zu erheizen gewesen. Koja war damit beschäftigt, durch Pausen Durchzeichnen, vgl. Paus-Papier. den papierenen Wildstand seines Revieres zu vermehren. Mutter und Agi strickten und der Vater schnitzte seichte Rillen quer in ein armlanges Eichenbrett, aus dem eine neue Mangel Mangel = Rollbrett zum Wäscherollen. werden sollte. Draußen pfiff der Sturmwind und erzeugte im Kamin ein Heulen, das wie Weinen klang. Da sprach die Mutter: »Frau Melusine weint um ihre Kinder.« Und nun bettelte Koja um das Märchen von der Melusine, das er schon lange nicht gehört hatte. Und die Mutter erzählte:

»Es war in alten Zeiten eine Wassernixe. Die müßt ihr euch nicht häßlich denken wie etwa den Wassermann. Der hat grünes Haar und grünen Bart, Glotzaugen und Froschfüße und Froschhände mit Schwimmhäuten und lauert auf badende Menschen, besonders auf Mädchen, die er in die Tiefe zieht. Nein, Melusine war schön, schöner als menschliche Mädchen und Frauen. Nur von den Hüften abwärts war sie gestaltet wie ein Fisch. Es war aber eine gute Nixe, die niemanden Übles tat. In hellen Mondnächten tanzte sie im Wasser des Flusses und machte selbst gar liebliche Musik dazu auf einer goldenen Harfe mit silbernen Saiten. Das klang wie Vogelsang und Schilfgesäusel. In einer mondhellen Nacht kam ein Fürst geritten. Angelockt von der lieblichen Musik erspähte er das schöne Haupt der Wassernixe, ihre blendend weißen Schultern und Arme und sah die weißen Teichrosen in ihrem Haar. Sie erschaute den stattlichen Mann hoch zu Rosse im Schmuck seiner fürstlichen Kleider und seiner goldverzierten Waffen. Da gefielen sie eines dem andern. Melusine nahm ihm zuliebe menschliche Gestalt an. In wallendem Seidenkleide saß sie vor ihm auf dem stolzen Roß, die goldene Harfe in Händen. So führte er sie heim; und sie feierten Hochzeit. Sie wohnte mit ihm im fürstlichen Schloß und war ihm ein gutes Weib. Für die Untertanen war sie eine gute Fürstin. Nur einen Wunsch sollte er ihr erfüllen: So oft der Mond voll wurde, wollte sie sich in ihren Gemächern einschließen und niemand sollte zu ihr dürfen. Leicht und gerne versprach er, ihren willen zu achten. So lebten sie glücklich drei Jahre lang und hatten drei liebliche Kinder. Niemand wußte, daß die schöne Fürstin Melusine einmal im Monate sich rückverwandeln mußte in ihre frühere Gestalt, halb Menschenweib, halb Fisch; niemand sah es, daß sie in dem Marmorbecken ihrer Badestube im klaren Wasser ihren Tanz aufführte, während sie die Harfe schlug und dazu sang. Nur ein leises undeutbares Klingen drang durch die verriegelte Tür und erweckte die Neugier des Fürsten. Was ging da drinnen vor? Oft bezwang er seine Neugierde; er wollte sein versprechen halten. – Einmal aber war das Klingen stärker. Es drang durch ein offenes Fenster ins Freie, daß der Wind mit den Tönen spielte; es drang durch die nur angelehnte Türe. Es war wie Vogelsang und Schilfgesäusel. Das hatte er schon einmal gehört. Im festen Vertrauen auf das Wort ihres Gemahls hatte Melusine unterlassen, den Riegel vorzuschieben. Da riß der Fürst die Türe auf und trat ein. Als die Nixe ihn erblickte, entrang sich ein Klageton ihrer Brust und sie verschwand. – Im Windeswehen umschwebte sie das Haus, und der Wind trug ihr Weinen übers Land. Sie wehklagte um ihre Kinder, die jetzt verwaist waren, und um den Mann, der sein Versprechen gebrochen hatte. – Und so oft der wind heult, erinnern sich die Menschen an die arme Melusine.«

Atemlos hatten die Kinder zugehört und sie lauschten dem Heulen des Wintersturmes voll Mitleid mit der schönen Melusine. – Da erscholl plötzlich ein Schuß, als ob eine Flinte abgefeuert worden wäre. Wo war es gewesen? Auf dem Dachboden, oder gar auf dem Dache? – Und gleich darauf wieder: Krach – Puff! waren das Räuber? – Diebe machen keinen Lärm. – Warum schossen sie? Vater Lorent sprang auf, zündete seine Signallaterne an, holte die Hacke aus der Holzkiste und öffnete die Türe. Da knarrten die hölzernen Stufen der Stiege, es klapperten Pantoffel. Herr Misera kam heraus, nur im Hemde und den Unterbeinkleidern, die Doppelflinte schußbereit in den Händen, hinter ihm kam seine Frau, in der Rechten die flackernde Kerze, in der Linken einen Schafspelz, den sie ihm über die Schultern warf. Da zog auch Lorent seinen Dienstpelz an. Dann schritten beide Männer auf die eiserne Bodentüre zu. Die Hausfrau gesellte sich zu Frau Lorent, die mit ihren Kindern in der Küchentüre stand. Beherzt öffnete Lorent die Bodentüre, hielt die Laterne vor und holte mit der Hacke zum Schlag aus. Herr Misera hob das Gewehr zur Backe und fuhr mit dem Laufe hin und her. Er suchte den Kerl oder die Kerle.

Trotz des Pelzes zitterte er so, daß der Flintenlauf tanzte, wieder ging's Krach – Puff! und dann Bumm! Der Kugellauf der Flinte war losgegangen. Als der Rauch sich verzogen hatte und nichts zu vernehmen war, spannte Herr Misera den Hahn des Schrotlaufes und die Männer drangen in den Bodenraum ein. Da schlichen ihnen die Frauen und die beiden Kinder bis zur Bodentüre nach, jedes bewaffnet: Frau Misera trug einen Schürhaken, Frau Lorent ein Küchenmesser, Koja schwang mit beiden Händen das Mangelbrett hoch, als wollte er damit die Räuber platt niederschlagen, und Agi hielt eine Schere stoßbereit. Wenn es die Räuber wagten, die Väter anzugreifen, so ging es ihnen schlecht. Immer weiter bewegte sich die Laterne vor, von Balken zu Balken, selbst in den kleinsten Winkel leuchtete Lorent hinein. Die Innenseite des Daches glitzerte vom Rauhreif. Niemand war da, gar niemand! Da scholl es wieder: Krach – Puff! Über den Köpfen, auf dem Dach war's. – Jetzt hinunter und die Kerle herabgeschossen vom Dach! Herr Misera lud wieder den Kugellauf der Flinte und lud auch seine alte Reiterpistole für Lorent. Und so traten sie vors Haus. Auf dem Dache niemand. Und doch krachte es immer wieder und wieder. Da fiel unmittelbar nach einem Krachen ein Schindelsplitter vom Dach. – Herr Misera betrachtete die lichte Bruchkante: »Jetzt versteh ich!« Und er lachte und lachte fort, bis ihm die Tränen in den Augen standen.

Die heldenmütigen Verteidiger des Hauses zogen sich in die warme Wohnstube der Bäckersleute zurück, hier fanden sie die Frauen und Kinder beim Kachelofen. Peperl, der beim Lärm erwacht war, saß auf dem Mutterschoße, eingemummelt in die Bettdecke, in den verweinten Augen ein angstvolles Fragen. Mutter Lorent war mit der Zubereitung von Tee und dem Streichen von Butterbroten beschäftigt. Aller Augen waren auf Herrn Misera gerichtet, der den Schindelsplitter mit den Worten herumzeigte: »Das war's.« Und er begann seine Erklärung: »Einen Frost wie heut nacht hab' ich noch nicht erlebt. Und daß die Schindeln im Froste zerspringen, hab' ich nicht gewußt. – Heut' hat's den ganzen Tag getaut. Die Schindeln sind naß geworden, wo sie aufeinanderliegen, hat sich das Wasser gehalten. Als es am Abend zu frieren begann, hat sich über dem ganzen Dach eine Eiskruste gebildet, auch unterm Dach, weil der Wind durch den Boden strich. Der stärkere Nachtfrost hat aber auch das Wasser zwischen den Schindeln zum Erstarren gebracht. Beim Gefrieren hat das Eis mehr Platz gebraucht als das Wasser. Ein ruhiges Ausweichen der Schindeln nach oben oder unten war nicht möglich, da ist eine Spannung in ihnen entstanden, denn die Eisdecken haben sie niedergehalten. Und überall, wo die Spannung zu groß wurde, ist eine Schindel gesprengt worden samt der Eiskruste. Daher das Krachen. – Kinder erzählt nicht im Dorf herum, was ihr heute erlebt habt, sonst lachen uns die Leute aus.« Da machte Koja ein langes Gesicht; er hätte es lieber gehabt, wenn's Räuber gewesen wären.


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