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Alt-Paka.

Es gilt für ein hohes Glück, wenn ein Kind auf dem ererbten Heimatboden großwächst, eins mit ihm wie der gehegte Baum, der sich als Sämling mit den Wurzeln in die Scholle geklammert hat. Aber es liegt nicht in der Macht des Kindes, wie ein wohlgehegter Baum auf dem Boden groß zu werden, der seine erste Heimat ist.

Auch den Lorentischen Kindern war ein solches Glück nicht beschieden. Ihnen war nicht das Schicksal des Baumes geworden, sondern das Schicksal des Wandervogels, der immer wieder aus einer Heimat in die andre zieht.

Kaum hatten sich die Kinder ins neue Heim eingelebt, als sie es wieder verlassen mußten.

Am Tage des ersten Schneefalles kam der Vater schon mittags aus dem Dienste; er war freudig erregt. Er zeigte der Mutter einen Dienstzettel, darin stand, daß er als Bremser nach Alt-Paka versetzt wurde. Wo war Alt-Paka? Am Fuße des Riesengebirges. In Rübezahls Heimat! Da packte Koja sein Schwesterlein und wirbelte es im Tanze herum: »Nach Alt-Paka,« jubelte er, »zum Rübezahl, zum Rübezahl!«

Und als eine Woche später der gemischte Zug die Familie Lorent samt ihren Habseligkeiten und den Liebesgaben der Großmutter nordwärts führte, aus der Ebene des Elb-Knies, vorbei am alten Königgrätz, dem Berglande zu, war Koja voll Erwartung des Wunderbaren. Seine kindliche Einbildungskraft zauberte ihm eine moosbewachsene Schindelhütte vor, mitten im Hochwald des Gebirges, worin sie hausen sollten und wo Rübezahl so leicht zu begegnen war, wie etwa der Waldheger im Kunietitzer Wald. Da war es zunächst für den Buben eine Enttäuschung, daß von der Dachwohnung in Alt-Paka, wo die Familie im Hause des Bäckermeisters Misera ihre Unterkunft fand, der Wald nur in blauender Ferne zu sehen war. Dazu kam, daß in der hochgelegenen Gegend schon der Winter ernst gemacht hatte. Unter kniehoher Schneedecke lagen die Wiesen und Felder, die Wege zum Walde waren für Koja ungangbar. Das Haus stand auf einem sanften Hang. An dessen Fuß zog sich die Straße hin und jenseits der Straße floß ein Bächlein stille plaudernd zwischen schneegepolsterten Ufern mit alten Kopfweiden. Dann kam eine kleine Ebene und dahinter stieg eine steile Lehne an, die von einem Bauerngehöft gekrönt war. von den Fenstern aus zeigte all dies der kleine Pepperl, das kränkliche Söhnchen des Hausherrn, den Geschwistern.

In der einklassigen Dorfschule, einem stattlichen Blockhaus, dessen dicke Bohlen vom Alter braun waren, saß die gesamte Schülerschaft in einer geräumigen Stube. Ein ungeheurer grüner Kachelofen strahlte wohlige Wärme aus. Links saßen die Buben, rechts die Mädchen, die kleinen vorne, die großen hinten. Und hier wurde Koja als ordentlicher Schüler aufgenommen, zunächst unter die Kleinen, tat sich aber bald hervor, rückte in die Mitte auf und hatte einen Eckplatz auf der Innenseite, nur durch den schmalen Gang von der Mädchenseite getrennt. Und seine Nachbarin jenseits des Ganges war Julie Niderle, die Tochter des Kaufmanns und Bürgermeisters. Blond und blauäugig, erinnerte die neue Banknachbarin den Koja ans Ännchen.

An Agi, die der Mutter Sorgen und Mühen für die Familie teilte, hatte Koja keine Spielgefährtin, am kranken Peperl keinen Gefährten. Da klammerte sich seine Seele an die freundliche Banknachbarin. Sie war ihm von allen Schulkameraden am liebsten. Daß Julie es mit Koja gut meinte, erfuhr er täglich: wenn er in der Zehnuhrpause sein Stück trockenes Brot hervorzog, strich sie ihm mit dem Taschenfeitel Butter darauf, die sie ihrem ausgehöhlten Brot-»Scherzel« entnahm. (Es war auch selbstverständlich, daß Julie mit Koja ihre Äpfel teilte und von seinen gedörrten Pflaumen aß. Es bildete sich eine Gegenseitigkeit von Dienst und Gegendienst aus, der beiden Nachbarn wohltat. Julie brachte Koja farbige Bildchen, er spitzte ihr Griffel und Bleistift, sie prüfte seine Rechnungen nach, er linierte ihr mit dem »Walzel« ihren Papierbogen. Linierte Schreibhefte gab es nicht. Und Agi wurde als Kojas Schwester in die Freundschaft aufgenommen.

Hatte Koja bisher als Gernegroß sich selbst zulieb gelernt, jetzt strengte er seinen jungen Geist an, daß ihm kein Wort vom Unterricht entging, denn er wollte nicht die Antwort schuldig bleiben, wenn der Lehrer ihn aufrief; er hätte sich vor der Julie geschämt.

Der Winter im Bergland war streng. Um die Dachwohnung der Lorentischen pfiff und heulte der Wind. Die Fensterrahmen schlossen so schlecht, daß die Kerzenflamme auf dem Tische flackerte, weil der eiskalte Hauch sich durch die Fugen drängte.

Wenn auch der Vater als Eisenbahner die Kohle und das Holz billiger bezog als andere Leute, es mußte gespart werden an allem, denn das Bargeld war knapp. Da trug Vater Lorent Moos ein, das er im Riesengebirgswalde von den Bäumen gelöst hatte; damit wurden die Fugen der Fenster verstopft und auf den Fensterbrettern wurde das smaragdgrüne Moos als Polsterung aufgelegt, daß es an die Bergwiese gemahnte.

Die Mutter sann auf Verdienst und fragte herum. Sie sprach die Stricklehrerin an, von der die Leute sagten, daß sie für Reichenberger und Prager Geschäfte Handarbeiten lieferte.

Da wurden Mutter und Agi als Helferinnen angenommen. Sie bekamen Stramin (ein lockeres, gesteiftes Gewebe zu groben Stickereien) und dazu gedruckte Tupfmuster für Pantoffel, Hausschuhe und Hosenträger. Nun stellten sie Muster her, d. h. sie stickten nur so weit vor, daß jede Käuferin imstande war, die Stickerei fertig zu machen; z. B. wurde das Blumenmuster der linken Pantoffelhälfte mit Kreuzstich oder nur mit Halbstich in Farben ausgeführt. Solange Mutter und Agi daheim arbeiteten, zog Agi den Koja zum Sticken heran. Besonders an Tagen, wo draußen der Schnee breiig war, ließ er sich willig als Helfer gebrauchen und zeigte sich gelehrig, war aber der Schnee trocken oder ballig, verzählte er sich in den Stichen und hatte nichts dagegen, wenn Agi ihn davonjagte.

In acht Wochen war Weihnachten, und es liefen von den Geschäften so viel Bestellungen ein, daß die Stricklehrerin und ihre Helferinnen die Abende streckten und bis tief in die Nacht beisammen blieben; arm waren sie ja alle, da arbeiteten sie gerne bei einer und derselben Lampe und genossen die Wärme eines und desselben Ofens.

Vater Lorent war in den Nächten selten zu Hause. Denn trotz des Winters wurde an den Tunnelsprengungen bei Tannwald gearbeitet und die Bediensteten übernachteten in den Baracken. Das ausgesprengte Gestein mußte auf die Strecke geschafft werden, die der Schneepflug gesäubert hatte.

Für die langen Winterabende, an denen Mutter und Agi den Koja allein lassen mußten, hatten sie ihm ein Beschäftigungsspiel zugedacht, das ihn fesselte. Agi hatte nämlich dem Brüderchen von ihrem Wochenverdienste manchen Kreuzer zugesteckt, daß er sich Manderlbogen kaufte. Auch Mutter hatte ihm Geld gegeben, auf Erdfarben und Pinsel. So verbrachte er die Abendstunden unten in der warmen Stube der guten Bäckersleute, denen das Haus gehörte, und bemalte die Bäume, die Hirten, das Vieh und die Stadt Bethlehem der Krippenbogen, die er mit Julie ausgesucht hatte. Das kränkliche Söhnchen der Hausherrenleute, der vierjährige Pepperl, leistete ihm nur ein kleines Weilchen Gesellschaft, ehe er ins Bett mußte, dann aber war Koja sich selbst überlassen, während der Bäcker und seine Frau sich dem Behagen des Lesens hingaben. Und Koja war glücklich. Durch die Farben hatten die Schwarzdrucke Leben bekommen und wenn er sie dann mit Packpapier unterklebte, mit der Schere ausschnitt und ihnen durch angeklebte Holzklötzchen Festigkeit gab, glühten wohl seine Wangen vor Eifer des Schaffens. Dann konnte er sie vor sich in Gruppen aufstellen und seine Einbildungskraft wies ihm allerlei malerische Möglichkeiten.

Wenn die Bäckerin merkte, daß dem Koja die Augen zufielen, leuchtete sie ihm mit der Kerze über die Stiege heim. Und sie ging erst von ihm, bis er im kalten Bette sich zusammengehuschelt hatte und sich nicht mehr rührte, die gefalteten Hände vor dem Munde.

Mit dem Aufstellen seiner Krippe wartete Koja nicht, bis er alle Figuren beisammen hatte. Was fertig war, kam zwischen die Fenster ins moosige Wiesenland. Und aus schönen Steinen, die der Vater dem Buben von den Tunnelsprengungen bei Tannwald eingetragen hatte, machte er Felsen und Berge. Es waren Stücke von Katzensilber (Glimmerschiefer) und Kristalldrusen. Das seltsamste Stück war eine halbkugelförmige Amethyst-Geode, die den Stall zu Bethlehem vorstellte, weil in ihrer Höhlung die heilige Familie, ein Öchslein und ein Eselein Platz hatten. Bald war die Wiese vor dem Stall mit Bäumen, Schafen, Rindern und Hirten besetzt, schon schwebte an langem Drahte der Schweifstern über dem Stalle, die heiligen Dreikönige mit ihren Kamelen aber waren noch weit drüben in der fernsten Ecke des Fensters und sie brauchten Zeit bis zum Dreikönigstage, ehe sie den weiten Weg bis zum Stalle zurücklegten. So währte Kojas Weihnachtsfreude wohl ein paar Wochen lang vor und nach der Bescherung, bei der Agi in Christkindleins Auftrag dem Brüderchen zwei paar warme Wollsocken und einen roten Federstiel beschert hatte. – Früh hatte sie sich darein gefunden, eine Verdienende zu sein, deren Freude nicht im Empfangen war, sondern im Geben.

Und eine neue Farbenschachtel war da, eine große, braunlackierte, und Manderlbogen waren da, auf denen waren Nadelbäume, Hirsche, Rehe und Hasen, auch ein Jäger und ein Jägerhaus. Die waren aber nicht von der Agi, sondern von einer anderen guten Seele.

Mutter Maria war glücklich, daß sie ihren Kindern in der heiligen Zeit reichlich Backwerk und Obst geben konnte, denn von der Großmutter war rechtzeitig ein Sack Mehl gekommen und eine Kiste mit Schmalz und Zucker und Dörrobst. Vater Lorent war in diesen Tagen bei seiner Familie. Infolge Verwehungen, die der Schneepflug nicht bewältigen konnte, war die Arbeit auf der Strecke eingestellt. Da ging in dem vom Leben in Kantinen und Baracken verwilderten Mann eine wunderbare Wandlung vor. Er, der vom Lohn für seine Familie fast nichts erübrigt hatte, war ergriffen von dem, was die noch nicht achtjährige Agi fürs Brüderchen tat und wollte nicht nachstehen. Am Tage nach dem heiligen Abend zimmerte er für seinen Buben einen Schlitten zusammen, der nichts anderes war, als ein umgestülptes Kistchen mit angeschraubten Kufen aus Hartholz.

Und damit stieg er dem Koja ins Herz.

Dick lag der Schnee auf dem Hange neben dem Hause. Und unter den schlittelnden Buben war der glückliche Koja. Sein Schlitten ging zwar nicht so ruhig und glatt wie die schlanken Schlitten der andern; er schlenkerte, hüpfte und holperte, – aber es war sein Schlitten!


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