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Koja auf Abwegen.

Lorent war es gelungen, im Hoftrakt des Grasl-Hauses, wo sie einst vorne gewohnt hatten, eine Hinterstube um geringen Mietzins zu bekommen. Die Wohnung hatte nur einfache Fenster und konnte zur Not in der wärmeren Zeit benützt werden. Der Raum war eigentlich als Tischlerwerkstätte gedacht gewesen und hatte einen Bretterboden und einen eisernen Sparherd. Obwohl die Wohnung voraussichtlich nur wenige Wochen dienen sollte, weißte Mutter Maria die rauhen Wände selbst mit Kalkmilch, scheuerte den Boden und machte das Heim behaglich, während die Kinder noch bei der Großmutter blieben. Als Koja und Agi ihren Einzug hielten, waren sie entzückt von der Aussicht, die sie aus den Fenstern hatten. Sie sahen gerade auf das große unterschlächtige Mühlrad der Pernermühle, unter dem das zu Staub zerschlagene Wasser hervordrängte, um dann lärmend aus der Rinne als Wasserfall in den tief ausgehöhlten Tümpel zu stürzen; dort gurgelte und wirbelte es, weiß von der mitgerissenen Luft, bevor es beruhigt dahinfloß zum breiten Wasser, das weithin von Schilf umstanden war. Die Spätsommerwochen waren heiß, die Abende aber kühl. Die Nähe des versumpften Ufergeländes war Ursache, daß unzählige Stechmücken sich in der Wohnstube einfanden. Darunter litten am meisten Mutter und Agi, die vor Sorgen oft lange nicht einschlafen konnten. Ihnen verkürzten die singelnden Blutsauger die ohnehin karge Nachtruhe.

An jedem sonnigen Nachmittag fand sich beim Mühlrad eine Schar Buben zum Baden ein, die ein keckes Spiel trieben. Von einem Brett aus, das sie unterhalb des Rades quer über die Rinne gelegt hatten, ließ sich einer nach dem andern in die Rinne fallen, wurde vom stürzenden Wasser in den Tumpf mitgenommen und langte, von der Strömung vorgedrängt, schließlich im Seichten an, wo er stehen konnte. Und ein jeder der Buben war ein Schwimmer, dem es gleich war, ob er bäuchlings oder rücklings vom Wasser getragen wurde, wie gerne wäre Koja dabei gewesen! Aber die Mutter verbot es ihm, und der Vater, der täglich verdrossener wurde, weil noch immer keine Nachricht von der österreichischen Bahn kam, stellte ihm eine Tracht Schläge in Aussicht, wenn er sich einmal da unten blicken ließe.

Der Schlackenhof wurde wieder Kojas Spielplatz. Sein Gärtchen, in dem nur einige Mauerpfefferpflänzchen am Leben geblieben waren, stellte er mit Hilfe der Perner Annerl wieder her. Er trug vom nahen Elbeufer allerlei Schwemmholz und Schilf ein und baute daraus eine Robinsonhütte. Dann spielten sie Robinson, wie es Koja in Alt-Paka sich ausgedacht hatte. Dabei stellte Annerl die Julie vor und der alte Jagdhund, den sie von daheim herübergebracht hatte, spielte als Hirschkuh mit.

Indes kam der Herbst, die Schule ging an. Koja und Agi, die von einer einklassigen Dorfschule gekommen waren, wurden einer Prüfung unterzogen und nicht nach ihrem Alter, sondern nach ihren Kenntnissen eingereiht. So kam Agi in die vierte, Koja aber, trotz seiner Jugend in die dritte Klasse, worüber sich niemand wunderte, da er auch körperlich den meisten Klassenkameraden nicht nachstand.

Unter diesen war nur einer, den er beim Raufen zu fürchten gehabt hätte, das war der zwölfjährige Hacina, ein blasser, hochaufgeschossener, schmalbrüstiger Repetent, der bisher in jeder Klasse zwei Jahre gesessen war. Da er mit Koja den gleichen Schulweg hatte, lernte ihn dieser bald in seiner ganzen Überlegenheit kennen, Hacina rauchte wie ein Großer und hatte immer die Säcke voll aufgelesener Zigarrenstummel. Und er prahlte mit Abenteuern, von deren Möglichkeit und Bedeutung Koja bisher keine Ahnung gehabt hatte. In der Klasse war Hacina der anerkannte Führer, schon wohlbelesen in Räubergeschichten und Indianerbücheln, dabei ein unersättlicher Forderer, wenn es ihn nach etwas gelüstete. Er brauchte in der Pause nicht erst zu betteln: »Gib mir was!« Er brauchte nur den Handteller hinzuhalten und sein Opfer zu überäugeln, um seinen Anteil am Imbiß zu bekommen – als schuldige Abgabe. Wer ihm genug gab, stand unter seinem Schutz, war seiner Hilfe beim Raufen sicher und – was die Hauptsache war – er wurde von ihm nicht geknufft. Auch Koja fügte sich dem Brauch. Er gab dem Hacina von den dürren Zwetschgen, mit denen die Großmutter sich eingestellt hatte, aber er gab ihm nie genug. Denn Hacina hatte eine Vorliebe dafür. Und nicht naschen wollte er, nicht essen, nein – fressen. Seine Kinnladen sollten nicht nur in der Jausenzeit, sie sollten auch im Unterricht Arbeit haben. So kam es, daß Koja, der täglich von der sparsamen Mutter nur eine Handvoll Zwetschgen mitbekam, den Hacina nicht zufriedenstellte. Er wollte ihm doch nicht gleich die ganze Handvoll geben.

Eines Morgens erwartete Hacina den Koja vor dem Hoftor mit einem Gedichtenbuch. Er bot es ihm zum Tausche an. Koja zögerte; ihm waren im Lesebuch die Geschichten lieber als die Gedichte. Das Buch war fleckig, abgegriffen, ohne Deckel und Titelblatt. – Hacina begann daraus vorzulesen, während sie langsam die stille Gasse zwischen den Mauern des Schindergartens und der Kasernstallungen hin und her gingen. Bald leise, bald schreiend, mit Seufzern und Augenrollen trug er eine Geschichte vor, die an Lieblichkeit und Schrecken, an Rührung und Spannung alles übertraf, was Koja je gehört hatte. Es war eine tschechische Übersetzung von Uhlands Ballade »Des Sängers Fluch«. Das Buch war eine Sammlung von Übersetzungen deutscher Balladen. Und Koja, der kaum den zehnten Teil der bildlichen Ausdrücke verstand, die geheimnisvoll an sein Ohr klangen, ließ sich trotz des komödienhaften Vortrages von der Schönheit der Dichtung so hinreißen, daß er seine Handvoll Zwetschgen ungezählt für das Gedichtenbuch hingab.

Als er es heimbrachte, war große Freude bei Agi und Annerl. Sie lasen daraus abwechselnd vor, sie lasen zaghaft und schüchtern, sie lasen mit Andacht und sie besprachen jedes einzelne Gedicht als ein Erlebnis. So trat die Dichtkunst in Kojas Seele, die vom Märchen zur Aufnahme des Romantischen vorbereitet worden war. Er lernte Goethes »Zauberlehrling« kennen und den »Schatzgräber«, Bürgers »Lenore«, Schillers »Taucher« und den »Kampf mit dem Drachen«; und er genoß alles, wie er Märchen zu genießen gewohnt war. Es gab ja darinnen so vieles, was ihm unverstanden blieb; – wo das Begreifen aufhörte, fing das Ahnen an. Des Sängers Fluch führten die Kinder in ihrem Hoftheater auf. Hacina, der Schreckliche, war ihnen gerade recht für den bösen König. Der brauchte sich nicht erst viel zu verstellen. Er saß auf einer umgestürzten Kiste, eine Goldpapierkrone auf dem Haupte, in der Hand das Blatt einer Gartenschwertel als Schwert. Er saß dort finster und bleich. Neben ihm Ännchen als Königin mit ihrer eigenen echt goldenen Halskette in den Haaren und einer knallroten Pelargonienblüte als Rose an der Brust. Agi hatte ihr Haupthaar aufgelöst, den Flachsbart Rübezahls umgebunden und zwei blaue Schürzen der Mutter als wallenden Mantel angelegt. Sie zupfte an den Saiten einer Harfe, die aus einem schmalen Kistchen, einer gebogenen, darangenagelten Latte und dazwischengespannten Fäden bestand. Sie war ja der alte Sänger mit der Harfe. Sie schritt neben dem großen Hund der Müllerleute, der das edle Roß vorstellte. Koja aber war der blonde Jüngling. Die Sänger hatten erst ein Zwiegespräch, wie sie das Herz des bösen Königs erweichen wollten. Dann sangen sie im hohen Säulensaal – es war der Holzschuppen – vor dem Königspaare herzergreifend, ein jeder etwas anderes, wie es ihnen in den Sinn kam.

Dann warf die Königin dem Jüngling die »Rose« zu und der König schrie wütend: »Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?« Er warf das Schwert so heftig nach Koja, daß er hinstürzte, obwohl es an ihm vorbeigeflogen war. Die schone Königin wurde ohnmächtig und fiel von der Kiste herab. Dann setzte der Alte den Jungen auf das »Roß« und der Tote mußte mit den Füßen fest auf dem Boden stehen und gehen, daß ihn das Roß tragen konnte.

Das Schönste aber war der Fluch, den der alte Sänger auf den König schleuderte. Die Harfe zerschlug er am Türpfosten der Palastes.

Trotz der Mangelhaftigkeit der Darstellungsmittel waren die Kinder tief ergriffen und sie wunderten sich, daß Mutter Maria und die alte Frau Grasel, die ihnen zugesehen hatten, lachen konnten, als der Fluch verhallt war. Hacina hatte den bösen König so natürlich gespielt, daß Koja ihn von diesem Tage an jeder Grausamkeit für fähig hielt.

Hacinas Begierde nach den Zwetschgen war durch die einmalige Gabe nicht befriedigt, sondern nur gesteigert worden.

Da verlegte er sich aufs Schmeicheln. Er kannte Koja als Gernegroß. Er selbst war der einzige in der Klasse, der wie ein Erwachsener rauchte. Eines Spätnachmittags lockte er Koja in das dunkle Gäßchen, schenkte ihm eine Zigarre (die er daheim »gefunden« hatte) und verleitete ihn dazu, das Rauchen zu versuchen, das ihm gut stehen müßte, weil er ja doch einer der Größeren in der Klasse wäre. Nach den ersten Zügen schon empfand Koja einen heftigen Widerwillen gegen den übelriechenden Glimmstengel und gab ihn dem Verführer zurück. Der aber änderte plötzlich sein Verhalten. Er begann zu drohen: »Wart nur, ich sag's deinem Vater, daß du geraucht hast – wart nur, du kriegst es!« Er kannte Kojas Angst vor dem Leibriemen, mit dem der Vater ihn zu züchtigen pflegte. Da verlegte sich der Verführte aufs Bitten: »Nur das nicht, nur das nicht!« Der Bösewicht weidete sich an seinen Ängsten. Erst als Koja versprach, ihm täglich alle seine Zwetschgen abzuliefern, ließ er sich zu Verhandlungen herbei. Aber nicht eine Handvoll sollte er täglich liefern, sondern zwei Handvoll. Da sagte Koja zögernd: »Ich werde müssen die Agi bitten, daß sie mir ihre Zwetschgen dazu gibt.« Das aber verbat sich Hacina. Niemandem durfte Koja von dem Handel etwas sagen, niemandem, sonst – sonst! – Er holte aus zum Schlag. – Dann redete er stiller auf den Geängstigten ein: »Wo hebt deine Mutter die Zwetschgen auf?« – »Im Speisekasten in der dritten Lad.« – »Na also, dann nimm's und bring mir 's, das ist ganz einfach.« –

So trat die große Sünde in Kojas Leben, daß er die liebe, gute Mutter bestahl.

Aber schon am dritten Tage merkte sie, daß die Zwetschgen schneller weniger wurden. Und sie ließ den Schlüssel nicht mehr stecken, wenn sie mit der Agi in den Holzschuppen ging oder ums Wasser. Aber Hacina mußte seinen Schweigelohn haben, er mußte – sonst! – sagte er's dem Vater. Koja war ratlos. Da fragte ihn der Erpresser: »Wo hat deine Mutter die Schlüssel bei der Nacht?« – »Unterm Kopfpolster.« – »Na also, das ist ja ganz einfach: In der Nacht, wenn alle schlafen, wenn sie laut und regelmäßig atmen, schleichst du dich zum Bett der Mutter, tastest unter dem Polster, bis du die Schlüssel hast und dann –.« Koja stampfte zornig auf: »Das tu ich nicht!« – »Dann sag ich dem Vater, daß du geraucht hast, und das gleich.« Er ließ Koja stehen und ging pfeifend auf den Bahnhof zu. Nach wenigen Schritten wendete er den Kopf: »Du Raucher, du Dieb, du Feigling! Wart nur, du kriegst es!« – Jetzt lief ihm Koja nach, holte ihn ein, packte ihn beim Arm und flehte ihn an, er sollte ihn nicht verraten, er wolle von der Großmutter einen ganzen Sack Zwetschgen erbetteln, nur extra für Hacina, und die wollt' er ihm geben, alle, alle! – Der aber glaubte ihm nicht oder wollte ihn noch mehr quälen.

Pfeifend setzte er seinen Weg zum Bahnhof fort. Da packte die Angst vor den furchtbaren Schlägen Kojas Seele; unwillkürlich duckte er den Nacken, als ob die Hiebe schon auf ihn niederregneten. – Plötzlich aber geschah in seinem Inneren etwas, das sich am besten vergleichen läßt mit der Umstellung eines Weichenwechsels, der einen Zug auf ein anderes Geleise leitet: Er dachte an Agi und Mutter. Ihnen alles sagen und dann ertragen, was kam.

Als er über die Schwelle trat, fragten ihn Mutter und Agi zugleich: »Koja, was hast du denn? Wie siehst du aus?« – Da warf er sich vor der Mutter auf die Knie, umfaßte ihre Füße und bekannte: daß er geraucht und für Hacina Zwetschgen gestohlen hatte, und daß Hacina jetzt dem Vater entgegenging, um ihn wegen des Rauchens zu verklagen, weil er sich geweigert hätte, die Schlüssel der Mutter heimlich unterm Polster zu nehmen. Mit einem Ruck machte sich die Mutter los, hüllte sich ins große Umhängtuch und verbarg darunter das fingerstarke spanische Rohr, mit dem sie die Kleider auszuklopfen pflegte. »Ich geh dem Hacina nach; Agi, du kochst das Nachtmahl, Knoblauchsuppe mit Brotschnitten.« – Die gute Frau brauchte nicht weit zu gehen, vor dem Hause draußen fand sie den Erpresser, der offenbar auf Kojas Rückkehr lauerte. Sie faßte ihn am linken Handgelenk und hieb mit dem spanischen Rohr auf ihn ein, daß er ein über das andere Mal aufheulte. Dabei wiederholte sie nur immer wieder die Worte: »Du wirst mir meinen Buben nicht verderben. Du wirst kein Wort mehr mit ihm reden.« Als die Mutter wieder eintrat, war ihr Gesicht vor Zorn gerötet und aus ihrem linken Ärmel sickerte Blut. Das Messer aber, mit dem Hacina nach ihr gestochen hatte, wickelte sie, wie es war, in ein Papierblatt und versperrte es in der Gewandtruhe. Dann trat sie auf Koja zu. »Du sprichst mir kein Wort mehr mit dem Kerl, kein Wort, nicht im Guten, nicht im Bösen; du redest auch nimmer von ihm. Du mußt vergessen, was er mit dir geredet hat; es ist Schmutz. Und zum Heimgehen wartest du auf die Agi; sie wird deinen Lehrer bitten, daß er dich derweil in ihrer Klasse sitzen läßt.« Die Ritzwunde am Arm wusch sie mit Seifenwasser aus, streute Salz darauf und ließ sich von Agi einen Leinwandstreifen herumbinden.

Als Koja längst zu Bette gegangen war, saßen Mutter und Agi noch beisammen. Sie flickten für die Hausfrau Wäsche im Scheine der schmaldochtigen Lampe, um den Mietzins abzuverdienen. Der Vater ließ lange auf sich warten. Es war heute Zahltag und er sollte den Lohn heimbringen. – So stille war es in der Stube, daß Koja die Uhr aufdringlich ticken hörte. Darob schlummerte er endlich ein. Seine Seele war erschöpft von ausgestandenen Ängsten. Er mochte schon lange geschlafen haben, als ihn die Stimme des Vaters weckte. Der war nicht nüchtern und schimpfte auf den Herrn Fekete, der geflunkert hätte, daß er hohe Herren zu Freunden habe. Erleichtert schlief Koja wieder ein. Der Vater wußte nichts von seinen Sünden. –

Die Hacina-Geschichte hatte ein gerichtliches Nachspiel. Die Mutter des verdorbenen Jungen verklagte Kojas Mutter wegen körperlicher Mißhandlung ihres Kindes. Auch Koja mußte mit der Mutter vor den Richter.

Als Frau Lorent zur Selbstverteidigung das Wort ergriff, lauschte Koja mit Bewunderung, wie herrlich kühn und mutvoll, wie überzeugend sie von der heiligen Mutterpflicht sprach, das Kind vor dem Verderben durch schlechte Gesellschaft zu schützen. Bis sie mit den Worten schloß: »Vor Gott und meinem Gewissen habe ich recht getan und wenn mich die Menschen deshalb verurteilen werden, so werde ich es tragen.« –

Bei der Verhandlung kam es zutage, daß Hacina Mitglied einer »Platte« jugendlicher Einbrecher war. Und seine Mutter war als Diebin vorbestraft. Der Richter sprach nicht nur die angeklagte Mutter frei, weil sie in Verteidigung ihres gefährdeten Kindes so gehandelt hatte, sondern verfügte, daß Hacina einer Besserungsanstalt übergeben wurde.

So verschwand der Verführer und Erpresser aus dem Gesichtskreis der Geschwister, und enger wurde ihre Freundschaft mit Annchen, das bei ihnen beiden um der Schönheit und Reinheit der Erscheinung willen, wohl auch als Tochter des reichen Bürgers im Ansehen stand. Sie fühlten in der Demut armer Kinder wohl den Unterschied der Rangordnung, aber sie wußten nicht, daß sie selbst in Annchens Augen die Besonderen waren. In der alten Stadt Pardubitz aufgewachsen, mit jedem Wahrzeichen vertraut, übernahm das Müllerkind die Führung. Auf den Schulwegen, die nicht immer die kürzesten waren, zeigte sie ihnen die Denkwürdigkeiten der Vaterstadt. Da war über dem Schloßtor ein uraltes Steinbild. Dazu die Sage: Der starke Mann, der den Auerochsen bezwungen hatte und ihn am Nasenring führte, war ein Köhler, der Urahn der Herren von Pernstin. Die hatten das Pardubitzer Schloß erbaut.

Auch das Stadtwappen auf dem alten Rathaus Dieses Kleinod der barocken Baukunst wurde vor Inkraftreten des Denkmal-Schutzgesetzes abgetragen und durch einen stillosen Bau ersetzt (!!!)., der Vorderleib eines Schimmels im roten Felde, hatte seine Geschichte. Im Jahre 1158, wo der Tschechenkönig Wladislaw mit dem deutschen Kaiser Friedrich nach Italien gezogen war, um ihm die aufständischen Mailänder unterwerfen zu helfen, war auch ein Pardubitzer Ritter Jeschek dabei. Der war mit in die feste Stadt Mailand eingedrungen. Als er beim Verlassen der Stadt unterm Fallgitter des Stadttores durchritt, wurde dieses vom Torwart niedergelassen, so daß es hinterm Sattel das Pferd Jescheks entzweischnitt. In den von Raspe 1785 englisch, von Bürger 1786 deutsch herausgegebenen Münchhausiaden wird dieses Erlebnis dem Baron Münchhausen zugeschrieben. Glücklich ins Lager des Königs zurückgekehrt, erhielt er von diesem das Recht, das halbe Roß im roten Schild als Wappen zu führen. Und so wurde es vor siebenhundert Jahren das Wappen seiner Vaterstadt.

Und über dem Tore des Grünen Turms zeigte Ännchen diese Geschichte in Stein gehauen. –

Am köstlichsten waren für Koja die Stunden, die er daheim lauschend zubrachte, wenn Ännchen mit einem Buch kam, um der Mutter Maria und der Agi beim Nähen vorzulesen.

Ännchen las Erbens »Strauß« tschechischer Volkssagen, Stück für Stück; von der Waldlilie mit der Seele eines Weibes, von der Rittersfrau, deren Seele bei Nacht in einer Weide lebte, von dem Wassermann (Nix), der sich die wortbrüchige Braut aus dem Palaste geholt hatte; und anderes, und anderes.

Und sie wußte die Geschichte von der weisen Fürstin Libussa zu erzählen; ihr hatten die Götter einen Mann zum Gemahle bestimmt, der auf eisernem Tische aß. Und der kluge Schimmel Libussas führte die Abgesandten der Fürstin zu einem Bauer, der rastend auf dem Äcker sein Mahl auf der Pflugschar einnahm. So kam in Böhmen, dem Land der fruchtbaren Kornböden, der Bauer P&#341;empsl auf den Fürstenthron.

Als die Kinder darangingen, die Geschichte der Libussa darzustellen, war Agi die Fürstin, Ännchen war ihr Abgesandter, der Hofhund war der Schimmel, Koja der Bauer. Und weil er keinen Pflug hatte, keilte er zwei Stäbe in die Stielhülse eines alten Spatens, legte sich den Spaten auf die Knie und aß darauf sein Brot, war nicht die Pflugschar auch eine Art Spaten?

Die Geschichte vom gefürsteten Bauer erfüllte Koja mit Stolz; waren ja seine Großeltern noch Bauern gewesen! –

Eines Tages, als Ännchen mit den Geschwistern aus der Schule ging, machte sie mit ihnen einen Umweg beim Grünen Tor hinaus bis zu einem neuerrichteten Denkmal. Da waren zwei Männer, es waren die Vettern Wewerka, in Stein dargestellt; der eine trug Bauerntracht und hielt einen kleinen Pflug in der Hand, das Modell des Ruchadlopfluges Ruchadlo = Krümmelpflug., den er erfunden hatte, der andere hatte einen groben Schurz wie die Schmiede; er hielt einen Hammer in der Rechten und lauschte sichtlich aufmerksam den Erläuterungen des Erfinders.

Daß da einem Bauern und einem Schmiede ein Denkmal gesetzt war, erschien Koja als eine Ehre, nicht geringer, als wären sie zu Fürsten ernannt worden.

Die Welt, in die ihn Ännchen eingeführt hatte, war eine ganz, ganz andere als die Welt Hacinas. Es war die reine Welt des Schaffens, verklärt von der Kunst.


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