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Die feierliche Eröffnung der Tannwalder Strecke war nahe. Lorent bereitete sich mit anderen Bremsern zur Schaffnerprüfung vor; er sollte ins Personal der neuen Bahn übernommen werden. Schon sprach er zu seiner Frau von höherem Gehalt, von den Kilometergeldern, vom Quartiergeld, und er lobte sich's, daß er auch die Montur (die Dienstkleider) ausfassen würde. Beinkleid, Rock und Bluse aus blauem Tuch, schwarzen Mantel, schwarzen Pelz. Das war ein Freuen bei der Mutter und den Kindern! (Eine feste Lebensstellung des Vaters, ein gesichertes monatliches Einkommen! Oh, die Mutter wollte schon alles gut einteilen, daß es den Kindern an nichts fehle. Herr Fekete hielt mit den Bremsern Schule. Und Lorent wußte schon über die Bedeutung der farbigen Lichter und ihrer Stellung Bescheid. Da fühlte er sich sicher. Im Lesen und Schreiben ging es ihm freilich nicht gut; aber er hoffte, daß der Beamte, dessen Kinder Schandor und Maruscha doch mit seinen Kindern so gut befreundet waren, bei der Prüfung schon irgendwie helfen würde.
Seinen Leuten verheimlichte er den Tag der Prüfung; er wollte sie überraschen. Aber es kamen fremde Herren, Beamte von der Wiener Direktion; die hielten die Prüfung ab. Da ging es manchem alten Prüfling schlecht. Als Lorent durch Schreiben unter Diktat erweisen sollte, daß er der deutschen und der tschechischen Sprache in Wort und Schrift mächtig sei, kam er nicht nach. Er wurde aus der Liste der zu übernehmenden Bediensteten gestrichen.
An diesem Tage ging er nicht heim, auch nicht an den folgenden zwei Tagen.
Seine Frau nahm an, daß er wie schon so oft auf der Strecke Dienst machte. – Als sie am frühen Nachmittag des dritten Tages vom Fenster der Wohnung aus bunte Fahnen auf dem Bahnhofsgebäude sah, ahnte sie, daß die Entscheidung gefallen sei. Sie kleidete sich wie die Kinder sorgfältig und ging mit ihnen die Straße bergan zum hochgelegenen Bahnhof. Dort stand ein Personenzug, dessen glänzend schwarzlackierte Lokomotive wie auch die neuen Personenwagen mit Fahnen und Kränzen geschmückt waren. Und auf dem Bahnsteig waren die Musikbanden der Veteranen und der Feuerwehr von Alt- und Neu-Paka angereiht. Es standen Gäste da in Festkleidern und die übernommenen Bediensteten in ihren neuen schmucken Uniformen aus dunkelblauem Tuch mit glänzenden Messingknöpfen und silberig beborteten Dienstkappen. Vergebens suchten die Augen der Frau ihren Mann, vergebens die Augen der Kinder ihren Vater. – Er war nicht unter den Bediensteten. Da fuhr ein Zug in die Station ein. Die Musik spielte, die neuen Eisenbahner standen »Habt acht«. Dem Zuge entstiegen Herren in schönen Uniformen, Degen an der Seite, Gold am Kragen, Orden auf der Brust. Der Zug, der sie gebracht hatte, fuhr wieder ab und die Eröffnungsfeierlichkeiten begannen. Einer der Herren hielt eine Ansprache. Da preßte die enttäuschte Frau Lorent die Lippen aufeinander. Krampfhaft umschlossen ihre Hände die Finger Agis und Kojas. – Sie drängte sich mit ihnen durch die Reihen der Festteilnehmer. Unbeachtet kam sie quer über das Geleise ins freie Feld hinaus, nur fort, fort, immer weiter weg von den fröhlichen Menschen! Am Rande eines Föhrenwäldchens setzte sie sich auf einen Baumstrunk, und jetzt erst stürzten ihre Tränen hervor. Die Fragen der Kinder machten ihr Qual. Und als sie ihnen gesagt hatte, daß der Vater nun wieder ohne Verdienst war, daß er nun wo anders eine neue Anstellung suchen müßte, da bargen sie schluchzend ihre Gesichter an der Mutterbrust.
Agi beruhigte sich zuerst. Sie streichelte stumm die Hände der Mutter und starrte ins weite, Koja aber schluchzte fort. Nicht in Alt-Paka bleiben können, weg müssen von dem kaum liebgewordenen Ort, von Bach und Wald, von Maruscha und Schandor und Julie – wie sollte er da nicht weinen!
Mutter Marias Augen wurden trocken; sie saß in Gedanken und schaute in den Frieden des Sommertages. Vom Festplatz herauf scholl die Musik gedämpft herüber, dann ertönte ein langer pfiff wie ein Jubelschrei und der fahnengeschmückte erste Personenzug dampfte nordwärts, den Höhen des Riesengebirges zu, nach Reichenberg.
Da raffte sich die Frau auf und ging mit festen Schritten den Feldweg hinab, der ins Dorf führte. Die Kinder folgten ihr Hand in Hand. In ihr war ein Entschluß aufgekommen. Verworfen hatte sie den Gedanken, beim alten Oheim, dem geizigen Müller in der Neuda bei Pöchlarn, drunten im Österreichischen, Hilfe zu suchen, die er schon einmal verweigert hatte; auch ihrer Mutter wollte sie nicht mit Bitten kommen. Die Ausgedingerin tat ja ohnehin mehr als sie tun konnte; schon war sie verschuldet. Es mußte anders gehen. Der ungarische Beamte, Herr Fekete, der doch ihren Mann zur Prüfung vorbereitet hatte, sollte helfen oder doch wenigstens raten. Und das gleich. An der schlimmen Meinung über die Ungarn, wie sie von den Husaren verursacht worden war, hielt sie nicht fest. Die ungarischen Kinder waren gut; warum sollten die Eltern nicht auch gut sein? Nur nicht verzagen, nur nicht die Hände in den Schoß legen! voll Zuversicht betrat sie das Häuschen am Bach, in dem der Beamte wohnte. Sie traf nur die Frau und die Kinder daheim. Die Slowakin hörte voll Teilnahme die Bitte der Frau Lorent an und sicherte die Hilfe ihres Mannes
zu. »Ja, ganz gewiß, wenn auch mein Mann nur ein kleiner Beamter ist und keine Stellen zu vergeben hat, so kann er doch ein paar Briefe schreiben.« Noch hatte sie nicht ausgesprochen, als Fekete ins Zimmer trat. Der ernste Mann, dessen schwarzer Schnurrbart sowie das Haupthaar schon von grauen Fäden durchsetzt waren, hatte etwas ungemein Beruhigendes im Blicke seiner dunklen Augen. Er begrüßte Frau Lorent sehr achtungsvoll und sprach ihr Trost zu, ohne sie zum Wort kommen zu lassen. »Es ist gut, daß Sie mich aufsuchen. Ich bringe Ihnen eine erfreuliche Nachricht. Da unten im Österreichischen bauen sie neue Bahnen im Gebirge dort werden Bremser zu den Schotterzügen gebraucht. Ich hab' einen Studienkameraden bei der Betriebsleitung in Wien. Dem werde ich schreiben. Er wird Ihren Mann anstellen. Und ist die eine Strecke fertig, ich meine Leobersdorf-Gutenstein, dann kann Ihr Mann auf der anderen Verwendung finden, auf der Strecke Pöchlarn-Gaming. Da ist er auf Jahre hinaus versorgt; und wenn er im Deutschen zulernt, wird er vorwärts kommen, ja er wird doch noch Schaffner werden und wird pensionsberechtigt sein.« Frau Lorent wollte ihm die Hand küssen. Er ließ es nicht geschehen, setzte sich an den Schreibtisch, erfragte Lorents Geburts- und Zuständigkeitsangaben und schrieb ein kurzes Gesuch. »So, das soll Ihr Mann unterschreiben und mir bringen. Das weitere mache ich.« – Glücklich, daß ihr rasches Vorgehen schon die Hilfe ausgelöst hatte, betrat Mutter Maria mit den Kindern den Heimweg. Kaum war sie ein Stück gegangen, als sie Herr Fekete einholte. »Meine Frau hat mich gefragt, wie lange es dauern mag, bis Ihr Mann da unten die Anstellung bekommt. Das hat mich aus dem Haus getrieben. Es kann ja noch Wochen dauern, dazwischen muß er etwas anderes haben. Ich gehe jetzt hinauf zum Bahnhof und werde den Chef bitten, daß er nach Pardubitz die telegraphische Anfrage richtet, ob der bei uns freigewordene Bremser nicht im Pardubitzer Magazin oder auf dem Rangierbahnhof als Verschieber Verwendung finden könnte, wir dürfen ihn doch nicht ohne Arbeit lassen.« – Damit enteilte er und stieg die Fahrstraße zum Bahnhof auf. In Marias Seele aber klangen die Worte nach: »wir dürfen ihn doch nicht ohne Arbeit lassen.« Ein kleiner Beamter hatte die Worte gesprochen. Aber es war einer von den Menschen, die sich dafür verantwortlich fühlen, daß auch andere ihre Arbeit haben. Ein Ungar war es; und die Ungarn waren bei den Tschechen verhaßt. Aber Herr Fekete war ein guter Mensch.
Als Mutter Maria im Abenddämmern mit ihren Kindern vor die Wohnungstüre kam, hörte sie ein röchelndes Atmen. Ihr Fuß stieß an etwas Weiches. Tastend griff sie hinunter. Ihr Mann schlief vor der Türschwelle, Von Mitleid und Zorn erregt, stieß sie den Schlüssel ins Schloß. Sie rüttelte den Mann wach und brachte ihn mit Hilfe der Kinder ins Zimmer, wo er sich aufs Bett warf, bekleidet wie er war. Da machte Koja die Mutter darauf aufmerksam, daß dem Vater die Uhr fehlte. Die mochte er dem Wirt gelassen haben, bei dem er Trost gesucht hatte in seinem Unglück. Mit gerunzelten Brauen stand der Bub vor dem Vater. Da sprach die Mutter zu ihm: »Koja, schau den Vater nicht so bös an. Er war traurig, weil sie ihn weggeschickt hatten. Denk nur, wie er sich gefreut hat auf die neue Uniform.« Da seufzte der schwertrunkene Mann, als habe er die Worte verstanden und begann zu schluchzen wie ein geschlagenes Kind.
Durch die Fenster flutete das warme Licht der Abendröte, die drüben überm Föhrenwalde stand, und verklärte das Antlitz der Dulderin, die mit ihren Kindern am Bette des unglücklichen Mannes stand. Tränen schimmerten in Agis Augen, die flehend zur Mutter aufschaute: »Nicht weinen, Mutter, nicht weinen!« – Kinder, die eine solche Mutter haben und daneben einen solchen Vater, lernen das Leben mit seinen Höhen und Tiefen früher und inniger verstehen als andere. Und in der Schule sind sie älter als ihre Altersgenossen. Sie haben einen Ernst in der Seele, der sie anders aufhorchen macht, der sie alles anders deuten läßt, einen Ernst, der als Grundton alles umstimmt und den kein Lachen ganz zu verdecken vermag.
Solche Kinder reifen schneller und schätzen alles Gute höher ein, das sie von anderen erfahren, und die Schönheiten der Natur sind ihnen köstlicher als anderen.