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Am 21. April sah ich mich genötigt, dem Drängen meiner hungernden Leute nachzugeben und nach der Seriba Ghattas aufzubrechen. Hier empfingen mich höchst unangenehme Eindrücke. Die Menschen waren die alten geblieben, jene Ekelgestalten, die mit allen möglichen Krankheiten behaftet waren, diese lebenden Brutstätten des Übels. Man sah sie immer noch in gewohnter Weise umherschwanken zwischen den schiefen, krummen, verfallenen Strohzäunen, zwischen den Haufen von Kehricht, die Fieberlinge, die Räudigen mit geschorenem Haupthaar und mit dem Ausschlag über Kopf und Gliedern. Immer noch herrschte das alte Geächze und Gestöhne einer schleichenden Grabeswelt.
Das Erscheinen des ersten Mondviertels wurde wie üblich durch allgemeines Knallen mit den Gewehren begrüßt. Kugeln pfiffen nach allen Richtungen, und die Spitze eines benachbarten Strohdachs fing Feuer. Mit Mühe wurde es im Keim erstickt, aber meine Geduld war zu Ende. Ich drang auf Abfertigung der Barke nach Chartum – und am 4. Juni 1871 war alles marschbereit. Mein Zug bestand aus 50 Soldaten und über 300 Trägern. Wir schlugen den alten Weg zur Meschra ein, verließen aber später die gerade Straße, um auf einem östlichen Umweg für die vielen Träger Nahrungsmittel aufzutreiben. So gelangten wir zu dem großen, vor unserm Herannahen natürlich längst geräumten Murach eines Dinkahäuptlings.
Kaum war das Gepäck niedergelegt worden, als auch schon das Kommando zum Aufbruch aller waffenfähigen Mannschaft gegeben wurde, um einen Viehraub auszuführen. Als ich mich mit meinen wenigen Leuten allein zurückgelassen sah, empfand ich ein Gefühl von Unbehagen. Wären die Dinka über uns hergefallen, wie hätten wir uns gegen Tausende zu verteidigen vermocht? Nach Verlauf einer Stunde kehrten die Räuber triumphierend mit 15 erbeuteten Rindern und 200 Schafen und Ziegen zurück. Der Anführer der Bande war einer der erfahrensten Viehräuber. Sie waren in südlicher Richtung ausgezogen, machten im Walde kehrt, beschrieben einen halben Bogen um den Murach herum und drangen mit einer Linie von Treibern durch die Büsche vor. Kaum eine halbe Wegstunde vom Lagerplatz fiel alles Kleinvieh der Dinka in die Hände der Räuber. Ich habe nie wieder ein so großartiges Schlachten und solche Fresserei gesehen. Zwei weitere Raubzüge folgten, bevor am achten Tag das Lager in der Meschra erreicht war.
Ehe wir segelfertig wurden, hatte ich noch manchen Tanz mit den Leuten des Ghattas zu bestehen. Es handelte sich für mich vor allen Dingen darum, die Aussätzigen und die Sklaven vom beschränkten Raum meiner Barke fernzuhalten. Ich war gewiß, daß infolge der Anwesenheit Sir Samuel Bakers in den oberen Nilgewässern diesmal mit rücksichtsloser Strenge gegen jede Sklavenzufuhr vorgegangen werden würde. Ich hielt darum meinen Reisegefährten die ihnen hieraus erwachsenden Unannehmlichkeiten vor, falls sie darauf beständen, Sklaven mit sich zu nehmen. Meine Worte waren in den Wind geredet. 27 Sklaven fanden sich an Bord zusammen. Froh, wenigstens die Aussätzigen los zu sein, schiffte ich mich am Nachmittag des 26. Juni 1871 ein.
Auch ich selbst war nicht frei von jeglicher Schuld; auch ich führte mit mir drei Sklaven, einen Pygmäen, einen Bongo und einen Niamniam. Die Ziererei anderer Reisender vermochte ich nicht zu teilen. Sollte ich die Leute, die mir zwei Jahre lang treu ergeben durch die Wildnis gefolgt waren, einem zweifelhaften Geschick überlassen? Wurde ich dadurch etwa zum Sklavenhändler, daß ich sie mitnahm zu den Stätten der Gesittung? Sklavenhandel galt auch bei den edelgesinnten Orientalen als ein verächtliches Gewerbe. Sklavenkauf und Sklavenbesitz aber bestanden zu Recht.
Mehrere empörende Fälle der Grausamkeit gegen kranke Sklaven während der Flußfahrt enthält mein Tagebuch. Am 29. Juni wurde ein von Ruhr befallener Neger »wie üblich« halbtot über Bord geworfen.
Ein grauenvolles Ereignis brachte die Nacht vom 3. auf den 4. Juli. Eine alte Sklavin, die bereits lange an Ruhr gelitten hatte, lag unten im Schiffsraum im Sterben und begann entsetzlich zu stöhnen. Nie habe ich in meinem Leben von einem menschlichen Wesen ähnliche Töne vernommen. Ich hüllte mich tiefer in die Decken, um das gräßliche Geheul nicht hören zu müssen. Dennoch drangen bald fluchende Stimmen zu meinen Ohren, ein Plätschern im Wasser und zum Schluß der Ausruf »Marafil« (Hyäne); es war geschehen! Die grausamen Bootsleute hatten die Ärmste mitten in ihrem Todeskampf über Bord geworfen. Sie wollten ihren Tod nicht erst abwarten, denn alle waren davon überzeugt, daß dieses Weib ein Hyänenweib und eine wirkliche Hexe gewesen sei, deren Verweilen an Bord uns allen Unheil gebracht hätte.
Am 5. Juli wurden wir durch das Erscheinen von vier weißgekleideten Männern überrascht, die uns lebhaft zuwinkten und zuriefen. Es waren Chartumer Schiffer, die der Mudir, der Gouverneur der Provinz von Faschoda, uns entgegengesandt hatte. Sie teilten uns mit, sein Lager sei ganz in der Nähe, und alle von oberhalb kommenden Barken hätten sich zu ihm zu begeben, damit die an Bord befindlichen Fahrgäste einer genauen Besichtigung unterzogen würden. Wir erfuhren, daß die Truppenmacht, über die der Mudir verfügte, aus 400 schwarzen Soldaten bestand mit 50 berittenen Baggara und zwei Feldgeschützen.
Zwei große Barken, die dort lagen, hatten 600 Sklaven an Bord gehabt, die beschlagnahmt worden waren. Zunächst wurden alle Schwarzen und Nichtmohammedaner ans Land geschafft, von denen nicht nachgewiesen werden konnte, daß sie schon von Chartum aus in die oberen Nilgegenden mitgenommen worden waren. Jene 600 Sklaven machten nämlich nicht die einzigen Fahrgäste der beiden Barken aus, diese führten außerdem noch 200 Nubier mit sich. Man vergegenwärtige sich daraus das Bild, das die vollgepferchten Fahrzeuge geboten haben mußten!
Dann wurde alles Eigentum der Gesellschaft von Regierungs wegen mit Beschlag belegt; die Gewehre, die Munition, die Elfenbeinvorräte, alles wurde genau aufgenommen. Besondere Anforderungen stellte der Mudir an die Leistungsfähigkeit seiner Schmiede und Zimmerleute. Diese hatten Tag und Nacht an den Jochbalken und den eisernen Fesseln zu arbeiten, in die der Schiffsführer und diejenigen Nubier gesteckt wurden, die zur Weiterfahrt der beschlagnahmten Barke nicht unumgänglich nötig waren. Nach Verlauf von zwei Tagen war die Arbeit besorgt, und nachdem auch unsere Barke drei Soldaten als Wache erhalten hatte, durfte die Weiterfahrt vor sich gehen.
In Faschoda stand mir eine große Überraschung bevor. Der Generalgouverneur Djafer-Pascha hatte mir auf die erste Nachricht von der traurigen Lage, in der ich mich nach dem Brand der Seriba Ghattas befand, eine Menge von Lebensmitteln verschiedener Art nachgeschickt. Diese hätten bis zum Beginn des kommenden Winters in Faschoda liegen bleiben müssen und fanden jetzt unerwartete Verwendung. Das Los der armen Sklaven an Bord unserer Barke hatte sich aber arg verschlimmert. Sie erhielten noch weniger zu essen als zuvor. Den als Wache beigegebenen Soldaten fiel es nicht ein, für die Ernährung anderer zu sorgen, und die ehemaligen Besitzer hatten alles Interesse an dem Wohlbefinden der Sklaven verloren. Diese bekamen noch dazu die Peitsche aus Nilpferdhaut jetzt von seiten der Soldaten häufiger zu kosten als früher von ihren Herren. Ununterbrochenes Wehklagen und Gejammer der einen, ewiges Schimpfen und Fluchen der andern raubten mir den Rest meiner arg geprüften Geduld. Ich ließ ganze Kessel voll Makkaroni und Reis kochen für die Armen, aber sie alle satt zu machen vermochte ich nicht.
Als wir in die Gegend von Wod-Schellal kamen, erblickten wir an einer wüsten Uferstelle unzählige schwarze Punkte, die sich von dem blendenden Sand scharf abhoben; es waren Sklaven! Auf dem fleißig benutzten, aber unbeaufsichtigten Überlandweg von Kordofan quer durch das Land nach Osten war die Sklavenkarawane hier über den Fluß gegangen, um den großen Markt von Mussalemia ohne Hindernis zu erreichen.
Am 21. Juli 1871 gegen Sonnenuntergang waren wir an der Vereinigungsstelle des Weißen und Blauen Nil, am Ras-el-Chartum, angelangt. Die ganze Fahrt von der Meschra bis hierher hatte nur 25 Tage gedauert.