Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.

Alles war totenstill. Draußen vor der Tür der schrägdachige Bodenraum vollgestopft mit allerhand schadhaftem und wertlosem Gerümpel, Kisten, Kasten und Möbeln. Drinnen im Kämmerchen sah Leberecht einen Schatten sich vor der hellen Wandspalte hin und her bewegen, nun kam ein gleichmäßiger, feiner Laut, Schaben und Kratzen und ganz leises Pfeifen dazu: die weiche, schwermütige Melodie der Tiedgeschen: »Schöne Minka.« Jetzt ging das Pfeifen in Summen über, und die Worte wurden vernehmlich:

»Du, mein Olis, mich verlassen?
Meine Wange wird erblassen!
Alle Freuden werd' ich hassen.
Die sich freundlich nah'n.

Ob auch all' die frischen Farben
Deiner Jugendblüte starben,
Ja, mit Wunden und mit Narben
Bist du, Süßer, mein.«

Der Gesang brach ab, die etwas unklare Knabenstimme räusperte sich energisch, und dann wieder kein Laut mehr, als das emsige Schaben und Scharren, wie von Sandpapier auf einer rostigen Messerklinge.

Leberecht kam's auf eine Überraschung an. Er hob geräuschlos das zusammengeknüpfie Bindfadenende vom Nagel ab, und die Tür öffnete sich von selbst, nachdem dieser einfachste aller Verschlüsse beseitigt war. Indem aber fuhr ein Katze, die wohl verborgen im Türschatten gesessen hatte, fauchend und prustend auf und floh über das Gerümpel davon zur Dachluke, und der Knabe sprang, jäh erschreckt, vom Sessel in die Höhe. Sein Arbeitsgerät: ein Fetzen Schmirgelleinen und eine zierliche, englische Pistole von sich werfend, stand er seinem Schwager gegenüber. Rot und blaß in raschem Wechsel ward das schöne, blondlockige Gesicht; die lange, blaugefrorene Hand machte, aus dem kurzen Ärmel heraus, eine instinktive Bewegung gegen den Tisch hin, den ein Wust von Schriften, Wäsche und allerlei kleinen Gebrauchsgegenständen überstreute, aber sie zog sich sofort wieder zurück, ohne das Geringste zu verdecken.

Furchtlos richtete sich der Kopf empor auf der jungen, überschlanken Gestalt, und Christinens große Blauaugen schauten den Eindringling keck und trotzig an.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzutreten?« und die lange Knabenhand griff hinter sich nach der englischen Pistole, deren frischgeputzter Lauf im Licht der Talgkerze flimmerte.

»Holla halt, du Tollkopf! Kannst du dir's gar nicht denken, wer ich bin?«

»Nein – doch – ich weiß nicht! Was wollen Sie von mir?« Der Pistolenlauf senkte sich ein wenig, und die Blauaugen wurden weit aufgerissen.

»So sieh mich doch einmal richtig an! Ich komme von deinem Vater –«

»Sie werden mich niemals von meinem Vorhaben abbringen! Wer sind Sie? – ich kenne Sie nicht – das ist eine bloße Finte!« Dann nach einem weiteren Prüfungsblicke: »Um Gott! Schwager – Schwager! geliebter Schwager!«

»Nun endlich! Junge, erwürg' mich nicht, laß mir mein Leben. Laß ab, Junge! Sinnig, du Unband –«

Wie ein gutgeschnellter Ball war er an der hohen Männergestalt aufgesprungen, hatte den starken Nacken mit klammernden Händen umschlungen und küßte nun Leberechts Mund mit heißen Lippen, die dabei hart und spröde vom Winterfrost waren. Wie ihm unter der dünnen Jacke das Herz gewaltig schlug, wie er kindisch lachte und schluchzte in einem Atem an der brüderlichen Brust!

Leberecht hielt den schmächtigen Körper fest gegen sich, erwiderte die warmen Liebkosungen und versicherte zwischendurch auf des Knaben überstürztes Fragen, daß in Sankt Jürgen alles wohl und sein liebes Stinchen auch nicht die Spur erzürnt sei gegen ihren Herzensbruder. »Aber nun erkläre mir, was bedeutet dies?«

Er trat zum Tisch und musterte das bunte Chaos: hier ein Reisetäschchen, mit Brot und einem schmalen Schnapsfläschchen versehen, dort Wäsche in ein festes Bündel gerollt, um in den offenen Tornister gepackt zu werden, der kein Schulbuch mehr barg, zerrissene Briefe, sorgsam gefaltete Flugblätter und Zeitungsausschnitte; ein handliches Dolchmesser und die Pisiole nebst einem Beutelchen Munition. Auf einem Bogen Konzeptpapier der Gänsekiel quer über den Anfang eines Briefes geworfen: »Theure Eltern – Einziges Stinchen, verzeihet mir, wenn ihr's könnt –«

Seitab auf der Tischkante ein Tassenkopf voll Tapezierkleisier und der gekleisterte Gegenstand daneben zum Trocknen ausgelegt: eine Art Medaillon von Pappe, schwarzumrandet an blauem Florrande hängend. In der schwarzen Umrandung ein kleines Stahlstichporträt der Königin Luise, und als Leberecht das Ganze vorsichtig aufhob, um es näher zu betrachten, zeigte ihm die Rückseite Christinens Schattenriß.

Volkmar nahm ihm das Medaillon fort, errötend wie ein Mädchen, überzeugte sich davon, daß der Kleister völlig trocken war, und ließ sich das blaue Florband über den Lockenkopf gleiten. Dann öffnete er Jacke und Hemdkragen und versteckte die beiden Bildchen in ihrem Trauerrahmen auf seiner bloßen Brust.

»Das ist mein Amulett, mein Talisman, das Reinste und das Liebste, das ich kenne,« sagte er und preßte Leberechts Finger hart zusammen. »Ja, Schwager, so ist es nun; ich geh' mit meinem Eberhard davon in den Krieg. Haltet ihr mich zurück, so schieß ich mich tot! Ja, gerade weil ich Vater und Mutter ehre und liebe, geh' ich,« schnitt er Leberechts Einwurf ab. »Was könnt' ich denn Besseres und Höheres tun, als mit vielhundert Gleichgesinnten für die edle Freiheit, fürs Vaterland hinwegziehen? Schwager, Sie werden mich vertreten!«

»Kind, wie willst du die Strapazen, die Märsche ertragen, du bist noch so jung, zu jung,« entgegnete Leberecht, faßte des Knaben beide Hände und betrachtete ihn gerührt. Diese schöne, reine Stirn hegte nichts als Gedanken an blutigen Ruhm; das Herz hinter jener Brust, die schneeweiß zwischen den Falten des offengebliebenen Hemdes hervorschimmerte, ahnte nicht in seinem Tapferkeitsidealismus, was es heißt, sich dem Feinde unerschrocken als Kugelziel zu bieten.

»Du bist noch zu jung, wahrlich, Kind!« wiederholte er, aber Volkmar rief leuchtenden Auges: »Zu jung? Was wollen Sie? Im März werd' ich sechzehn.«

»Und wenn du bliebest? Wenn deine Eltern dich verlören? Hast du daran nie gedacht, an ihr grenzenloses Leid?«

»Hätten Sie's in meiner Lage? Dies Feuer glüht alles andre hinweg, und das soll's auch! Das Ganze fürs Ganze! Und ich werde ja wiederkehren; die große, herrliche Sache muß siegen! Pst, pst! Da kommt mein Eberhard zurück; warten Sie, hören Sie ihn!«

Der Junker in der Pikesche, die Bärenmütze auf dem Kopfe, das Peitschchen im Stiefelschaft, riß die Tür auf und trabte mit starken Schritten über die altersschwachen Dielen.

»Noch nicht weiter mit der Arbeit, Tuisko? Es ist halb sechs vorbei; Arend und die andern warten – ah! wen hast du da?«

»Gut Freund, gut Freund! Meinen Schwager, von dem ich dir schon so oft sprach: Domine Claudius. Er ist eingeweiht, ich hab's getan.«

»Das nenn' ich eine Überraschung! Also Sie wissen? Sie billigen es? Vielleicht gar schließen Sie sich uns an für die heilige Sache des Vaterlandes?«

Er streckte ihm die kleine, nervige Hand entgegen und blitzte ihn aus den kohlschwarzen Slawonenaugen an. Zu einer Erwiderung ließ er Leberecht gar nicht gelangen. Er war viel zu intensiv mit den Vorbereitungen zum nahen Aufbruch beschäftigt, und seine lodernde Begeisterung dabei, sein klares Disponieren über Ort, Zeit und Hilfsquellen und das weichere Herz des Freundes dazu, machten einen großen, erhebenden Eindruck auf den reifen Mann, in dessen Seele die gleichen Entschlüsse unter schweren Kämpfen zum Licht drängten. Noch ein Anstoß, wie die Wulsdorfer Szene, und er machte sich des Talars ledig! Je länger er diesen beiden unmündigen Knaben zusah und zuhörte, desto heftiger wurmte es ihn, daß sie ihm ein Beispiel gaben und nicht er ihnen. Seinen heimischen Banden und Verhältnissen schien er entrückt und entronnen, alles Zarte ward vom Hehren und Gewaltigen in ein Nichts gedämpft.

Er stand zwischen den Knaben am Tische, Volkmar packte, holterdipolter, Eberhard erläuterte dem neugewonnenen Freunde die mutmaßliche Zukunft mittels der Landkarte, die er vor ihm ausbreitete: »Den Weg haben wir uns schön ausgearbeitet. Sehen Sie, zuerst über Midlum nach Westerwanna, und dann schräg vor Otterndorf hin (denn die Städte meiden wir) nach Belum hinauf, und oberhalb Neuhaus die Ostemündüng entlang. Da ist der erste Verschworene, der bringt uns mit Reemt Arend zusammen, über die Elbe nach Brunsbüttel. Sind wir nur erst im Holsteinischen und Mecklenburgischen! In Wismar treffen wir auf meinen Vetter Trebbin, der nimmt uns und seine beiden Brüder mit hinunter nach Breslau. Sie wissen doch die Kunde aus Breslau? Gib die Blätter herüber, Tuisko, nein, nicht doch; packe sie lieber ein, spute dich!«

Volkmar packte nur mit einer Hand, die andre ließ den Schwager nicht los, und wieder und wieder forschte er ihm in den Augen. »Haben wir's nicht gut überlegt?« fragte er endlich, als er den Ranzen zuschnallte, während Eberhard noch immer mit seinem Rotstifte im Zickzack auf der Karte hin und her fuhr, Leberechts vielfache Bedenken niederschlagend, wie Fliegen mit der Klappe. »Sehen Sie hier den Brief vom Junker Trebbin,« sagte Volkmar. »Nichts wird uns die Reise kosten, als ein wenig Zehrung und müde Füße. Und das auch nur bis ins Mecklenburgische, dann sorgen die richtigen Patrioten für uns, und unsre ganze Equipage gibt uns der König. Lassen Sie sich's zeigen, wieviel ich mir erspart habe.« Er suchte und suchte unter der Jacke, bis er das ärmliche Beutelchen mit seiner klingenden Habe fand: »Volle drei Taler, damit kommt man ungeheuer weit!«

Die Augen leuchteten ihm; er schulterte den Ranzen und hängte den Brotsack um. Sein Blick durchschweifte das kahle Kämmerchen von Winkel zu Winkel und blieb an dem aufgemachten Bette hängen: »Wo werden wir diese Nacht schlafen?« fragte er halblaut, und ein leiser Ton zaghaften Bedauerns lag in seiner Stimme.

»Je härter, desto besser,« antwortete Eberhard, »so daß wir uns schon heute an das gewöhnen, was uns bevorsteht, und als kernfeste Soldaten vor den König hintreten dürfen. Weihen Sie uns,« sagte er plötzlich zu Leberecht gewendet, kniete vor ihm nieder, beugte das Haupt und hieß seinen Freund das Gleiche tun.

Wie eine wilde Flut durchbrauste es Leberechts Seele. Furcht, Sorge, Zweifel, alles war von ihr hinweggespült. Er legte die Hände fest auf den dunklen, tiefgesenkten Kopf und auf den lichten, der sich wie eine Blume seitwärts neigte, und segnete sie ein mit einer Stimme, die rauh klang, weil sie Gefahr lief, vor übermächtiger Bewegung zu brechen:

»Verzage nicht, o Häuflein klein,
Obschon die Feind' willens sein,
Dich gänzlich zu verstören,
Und suchen deinen Untergang,
Davon wird dir recht angst und bang,
Es wird nicht lange währen.

Tröste dich nur, daß deine Sach'
Ist Gottes, dem befiel die Rach',
Laß ihn alleine walten.
Er wird durch seinen Gideon,
Den er wohl kennt, dir helfen schon,
Dich und dein Wort erhalten.

Amen!«

Sie erhoben sich, bepackt, bewaffnet wie sie waren, küßten einander innig und feierlich auf Stirn und Mund und küßten dann des Geistlichen segnende Hände.

»Sie wären ein rechter, herrlicher Gideon, ziehen Sie doch mit uns,« sagte Eberhard und blickte bewundernd zu Leberecht empor, den der Kragenmantel zwiefach stattlich machte. »Ist denn jetzt nicht der Krieger fast heiliger vor Gott, als der Priester?«

»Ich komme auch!« wollte Leberecht entgegnen, da aber schauten ihn wieder Christinens große, fragende Blauaugen an, aus ihres Bruders Antlitz, und er brachte die drei kurzen Worte nicht über seine Lippen.

Im Abenddunkel stiegen sie treppab und gingen miteinander durch das still gewordene Städtchen ins Freie hinaus. Am Alsumer Markstein schauten sie sich nach den Gefährten um, von denen Eberhard gesprochen, aber sie sahen niemand.

»So müssen wir weiter bis Cappel, dort treffen wir sie an,« sagte Eberhard, und Volkmar fügte bittend hinzu: »Bringen Sie uns doch noch ein Stückchen, liebster Schwager.«

Leberecht nickte, die beiden nahmen ihn in die Mitte und weiter ging's nordwärts. Sie näherten sich dem Deiche, und dumpf und schwach kam von dort das Geräusch der gleichmäßig anprallenden Wogen herüber.

Die Knaben sprachen gedämpft und drückten Leberecht vielfach die Hände. In ihren Taschen knitterten und knisterten die Zeitungen und Flugblätter, die sie mit Lisi und Klugheit gesammelt hatten; lauter Schwamm und Zunder, und ihre Herzen waren Stahl und Stein, die Funken gaben.

Leberechts Tritt beschwingte sich, als er so zwischen diesen beiden dahinwandelte, die ihm Mut und Glauben wieder schenkten, die des Vaterlandes Bestes und Schönstes verkörperten, zwei Lichtgenien vergleichbar: Knabenreinheit, Jünglingsfeuer, Manneswillen und die kühle Todesverachtung des Greises, der, zu jeder Stunde sterbensbereit, spricht: »Herr, in deine Hände gebe ich meinen Leib und meine unvergängliche Seele.«

Der Wind blies frisch und kalt; es lag wieder Schnee in der Luft, und da tauchten die Häuser von Cappel auf, da war der Scheideweg nach Midlum hinüber. Drei dunkle Gestalten, deren größte ein Laternchen trug, warteten und pfiffen von der Seite der weiten, leeren Felder her den Nahenden ein leises Signal entgegen. Nun kam der Laternenstrahl tanzend heran, drehte sich, und Reemts Stimme fragte: »Wen hebb ji dar, Jung's? Domine – w'rafftigen Gott, use Domine!«

Nur eine kurze Begrüßung; der kleinen Schar ward die Zeit knapp.

»Nä, nä; ick kehr um, achter Brunsbüttel,« sagte der Knecht, »ick bün in'n Lanne Wusten hüert. Paß He up, Domine, wi leernt de Franschen 't Gruweln!«

»Hier wollen wir Ihnen Lebewohl sagen,« sprach Eberhard und schüttelte Leberechts Hand. Volkmar warf sich ihm abermals stürmisch um den Hals und preßte seinen ganzen Körper, der bei aller Magerkeit fest und geschmeidig war wie geschmiedeter Stahl, gewaltsam gegen ihn.

»Gute Nacht, Schwager, teurer, teurer Schwager, gute Nacht! Grüßen Sie unsre Lieben in Sankt Jürgen, und sie sollen nicht zürnen bis aufs Wiedersehen. Nie, oder als Mann tret' ich euch wieder vor Augen. Und Dank, Schwager. Ich schreibe Ihnen; Dank nochmals!«

Seine Lippen, die er zum Scheidekuß auf Leberechts drückte, bebten; in seiner Stimme lag verhaltenes Aufschluchzen. Und doch; nun nicht matt werden, nun hindurch zur Siegerglorie! Leberecht griff in die Tasche und schmuggelte den Louisd'or, für den er Christine ein Geschenk hatte kaufen wollen, in Volkmars Hand. Jetzt lachte der entzückt über die unerwartete, große Gabe, nickte und sprang davon, wie ein rechtes Kind, den voranschreitenden Freunden nach. Leberecht sah noch, wie sie alle fünf die Köpfe über dem Goldstück zusammensteckten. Volkmars fadenscheiniges Mäntelchen flatterte einer Fahne gleich, im Winde hinter ihm drein. Schön und heilig dünkte es dem Nachschauenden, wie die Oriflamme, die vom Himmel geschenkt ward.

Als die schnellen Tritte der Wandrer verhallt und ihre Gestalten seinen Augen entschwunden waren, kam der Rückschlag für Leberecht. Unruhe und Gewissensbisse über das, was er getan und gestattet hatte, packten ihn mit Macht an. Des Vaters Auftrag, seine eigene Stellung dazu, kehrten ihm in die Gedanken zurück. Er sah die kleine Schar marschieren bis zum Morgengrauen, durch die öden Ausläufer der Hohen Lieht und die schauerlichen Strecken des Wester Moores, das vom dumpfen Rufe der Rohrdommel und dem Schrei verflogener Möwen widerhallte. Gefahren rings um sie her, Feinde in der Natur und unter den Menschen, die jetzt noch die Macht im Lande besaßen.

Ihn erfaßte der unwiderstehliche Trieb, diesen Tollkühnen nachzueilen und sie zurückzuhalten, aber zahllose Wege kreuzten und schnitten sich zwischen unabsehbaren Feldern, Deiche ragten auf, da und dort, rückwärts stand vor Cappel das uralte, verlassene Gehöft am schwarzen Nachthimmel auf, in dem einst Doktor Faust, der unheimliche Zauberer, gehaust haben sollte, bis der Teufel ihn holte. Die bröckelnde Mauer mit dem Loche: der Teufelseinfahrt, darin, stand halt- und stützelos, und durch jene blinkte ein verlorener Stern zwischen hastenden Schneewolken.

Leberecht trieb es weiter und weiter, bis er unvermutet den äußersten Deich des Marschlandes erreicht hatte. Da donnerte das winterliche Meer, windgepeitscht, gegen den festen Wall, auf dem er allein stand. Es war hohe Flut; ein fahles, phosphorisches Leuchten zuckte durch die wilden Wasser, die Luft fuhr scharf und salzig daher. Herbe Luft; reine Luft! Gott, wie tat sie dem Einsamen not zum Besinnen und Beschließen, wie stimmte seine erregte Seele ein in dies Kriegs- und Sturmgeschrei der ewigen Natur, ins Brüllen der Wogen, ins durchdringende Kreischen der weißbeschwingten Möwen.

»Rache! Rache! Kampf bis aufs Messer! Der Soldat ist jetzt heiliger als der Priester!« Es klang und gellte ihm in den Ohren; er wußte sich vor den Stimmen nicht mehr zu retten.

Sich selbst unbewußt war er in die Knie gebrochen und hatte das abgenutzte, kleine Neue Testament aus der Manteltasche genommen, das ihn niemals verlassen hatte während seiner Amtsführung. Er hielt es zwischen seinen gefalteten Händen gen Himmel empor: »Herr, mein Gott! Ich fühle dich, ich erkenne dich, ohne diesen Buchstaben. Ich habe geforscht und gerungen, ob es deine Hand sei, die mir meinen Weg ins Kampfgetümmel mitten hinein zeigt, aber du hast meine Augen getrübt. Ziehe den Schleier hinweg; ende meinen Streit und Widerstreit. Gehe nicht mit mir ins Gericht, daß ich deiner Predigt des Wortes untreu werde, laß mich durch meinen Tod um deiner höchsten Güter willen predigen, nimm die Last meines Amtes von mir! Ich kann sie nicht länger tragen!«

Eine mächtige Welle verschlang das dunkle Büchelchen, das aus des Betenden Händen in die Tiefe hinabgeglitten war. Er kniete noch eine Zeitlang unbeweglich auf der Deichkappe im Andelgras, die Hände vor seinem Angesichte, sonder Gedanken, betäubt von seiner eigenen Tat. Als er sich dann erhob, den Mantel über der Brust zusammenknöpfte und den gewohnten Druck des Neuen Testamentes gegen sein Herz nicht mehr empfand, schüttelte ihm ein unbeschreibliches, grauenvolles Gefühl die Glieder.

Weh deinem Tempel und weh seinen Dienern,
Götterverstoß'nen Empörern.

»Nun ist's getan, Apostat!« Er starrte mit wilden Augen in die düstern Wogen zu seinen Füßen hinab. Das toste und rollte und gebar sich ohne Ermüden immer wieder aus sich selber heraus; seines winzigen Büchleins Spur war längst verloren in der fortreißenden Meeresströmung.

Ihn schwindelte, aber die rückwirkende Kraft des Gebetes, zu dem er sich eben noch vor seinem Gotte gebeugt hatte, hielt ihn aufrecht. Er gedachte der Knaben, die sich mutig frei gemacht hatten; er wünschte ihnen Heil und Glück auf den rauhen Weg und beneidete sie nicht mehr und fühlte sich nicht länger klein und beschämt vor ihnen. Nein, nun hatte er das grauenvolle Gefühl der Leere von seiner Brust abgeworfen und wuchs über sich selbst empor. Er wollte diesen Knaben folgen, mit der irdischen Waffe in der Hand; jetzt endlich stand es sonnenklar, felsenfest in seiner Seele, und als dann im Osten die schweren Wolken auseinander flogen, und Stern um Stern mit Blitzen und Leuchten hervortrat, da jauchzte es in ihm: »Du hast die Schleier zerrissen; mein Opfer verschmähst du nicht, Gott!«

Ein unbändiger Tatendrang überfiel ihn. Wohin nun? Nach Dorum zurück ins Wirtshaus unter die Kannegießer? Nein, um keinen Preis! Er beschloß, auf dem Deiche weiter südwärts zu gehen bis zum Auftauchen des nächsten Kirchdorfes, und dort in einem der Gehöfte anzupochen und Nachtquartier zu suchen. So verfolgte er wohl eine Stunde lang seinen einsamen Weg: dann begannen sich im Schutz des Deiches Häuser aneinander zu reihen, eine Turmuhr zu seiner Linken schlug neun; da erschien die Kirche selbst, und jetzt stand er, schon unweit des Dorfes, vor der Tür des Padingbüttler Deichkruges.


 << zurück weiter >>