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Nein, es stand nicht gut um seinen inneren Menschen. Er beschloß an diesem Abende, während er den Liedern seiner jungen Frau lauschte, es mit einem Betäubungsmittel zur Linderung seines seelischen Fiebers zu versuchen, und was er zu tragen hatte, allein zu tragen. Nicht als ob er Christine sein Vertrauen entzog, aber er beschränkte es bis zur äußersten Grenze auf das, was er ihrem jugendlichen und weiblichen Verständnisse für zugänglich hielt. Er wußte auch, daß sich aus einem so gesunden und geistig nach der Höhe und Tiefe hin so normal entwickelten Wesen nicht über Nacht eine Heroine schaffen läßt. Unstet wie jetzt sein Geist war, kämpfend gegen die vereisenden Wasser seines wirklichen und die mächtigen Feuerströme seines idealen Berufes, fühlte er nicht die Kraft in sich, an seiner jungen Frau erneute Erziehungsversuche zu machen. Seine Friedensbringerin und freundliche Leuchte in all den Wirren und Finsternissen, die ihn umgaben, sollte sie sein, weiter nichts. Ihr feines Gefühl las jedoch weit besser in ihm, als er glaubte. Lange ging sie mit sich selbst darüber zu Rate, ob sie ein Recht habe, seine Wunden zu berühren, auf die Gefahr hin, ihm mit ihrer ungeübten Hand noch weher zu tun, trotz aller Liebesmüh'. Sie kam zu dem Schlusse, daß es besser sei, einfach Balsam zu spenden und treue Wacht zu halten.
So gingen die wenigen Tage zwischen Weihnacht und Neujahr ihnen still dahin. Von früh bis spät sann Christine darauf, ihrem Gatten sein Daheim so lieb und schön zu machen, seine Wünsche, so wenige deren waren, schon von fern zu erraten; sich in zartester Weise jeder seiner Stimmungen anzupassen, ohne daß er's bemerkte. Sie besaß jenen weiblichen Herzenstakt, der eine Fülle ungelernter Weisheit in sich schließt, in reichem Maße. Zu ihrem großen Kummer bemerkte sie, daß er das elterliche Haus mied, und die mitteilsame Mutter verriet ihr's, auf ihre entschiedene Frage hin, daß sich zwischen diesen beiden geliebten Menschen, dem Vater und dem Gatten, eine Kluft aufgetan hatte, die zu überbrücken nicht in Frauenmacht stand. Näheres darüber wußte die Mutter nicht zu sagen; der Vater habe sich auf wenige und allgemeine Bemerkungen beschränkt: moralischer Zwang verschlimmere den Konflikt, jedermann stehe oder falle seinem Herrn.
Dennoch wagte Christine den Versuch, sich mit Leberecht über den schmerzlichen Punkt auszusprechen, aber der Versuch scheiterte. Nicht etwa an Aufwallung oder Mißverstehen, Leberechts Antwort schloß nur jedes weitere Nachforschen aus.
»Du verkennst uns beide ganz und gar; Meinungsverschiedenheit ist kein Zwist,« sagte er. »Unser Schöpfer hat die Menschen nicht schabloniert, sondern sie mit Geistesfreiheit ausgestattet. Du mußt es doch fühlen und wissen, wie sehr ich unsern guten, alten Vater liebe und verehre. Daß seine Ansichten in andrer Zeit und anderm Boden wurzeln wie die meinen, das isi niemandes Schuld; und daß ich unsern Vater augenblicklich weniger aufsuche, geschieht, weil ich wünsche, unsre Gemüter möchten sich erst beruhigen. Für jetzt scheinen mir Kontroversen noch unvermeidlich, und die verletzen allzuleicht die Ehrfurcht vor dem grauen Haupte.«
Bei dieser Erklärung hatte Christine sich ein für allemal zu bescheiden, und es blieb, wie es geworden war.
Die politischen Ereignisse gestalteten sich unterdessen immer aufregender. Schon in den letzten Dezembertagen hatten alle Deutschgesinnten in der Stadt mit Erbitterung die Kunde von des französischen Kaisers Rückkehr nach Paris gelesen. Geheimnisvoll, zu Schlitten, verließ der gallische Attila die Reste seiner unglücklichen Armee, um sich in seinem Seinebabel warm zu betten und das russische Gottesgericht im Schnee zu vergessen.
Ein keckes Flugblatt tauchte auf und ward mit rascher Hand unterdrückt, mit grausamer Strenge an den mutmaßlichen Übeltätern geahndet:
»Er flohe hin im blutigen Gewand,
Marie Luisens Liebe zu genießen.
Doch sie hob ihre weiße Hand:
›Hinweg, den Schlächter mag ich nicht,
Den Menschenmörder nicht begrüßen!‹
Da hob auf sie sein bleiches Antlitz er,
Mit Vampyr-Basiliskenblicken,
Und sie, sie sträubte sich nicht mehr:
›Du bist ein Gott, laß dich herab.
Mich Staubgebohr'ne zu beglücken!‹«
Über das russische Gottesgericht verbreitete sich irgendeine feile Feder in geschraubten Perioden: »Die Details, welche das neueste Bulletin der großen Armee enthält, können nur den Ruhm, womit sich das Heer im letzten Feldzuge bedeckt hat, und die Bewunderung, welche die heldenmütige Festigkeit und das mächtige Genie S. M. des Kaisers einflößen, erhöhen. Es gibt wenige Blätter der alten und neuen Geschichte, welche man an Adel, Hoheit und Interesse diesem denkwürdigen Tageblatte vergleichen kann! Es ist ein geschichtliches Denkmal ersten Ranges.«
»Ein geschichtliches Schandmal ersten Ranges« sagten die Patrioten. Sie mehrten sich im Lande und begannen zusammenzuhalten, wie die Schneeflocken, die sich zur Lawine ballen. Ein Zittern der Kampfbegier flog durch die Herzen, die finstere Verzweiflung schlug plötzlich in ein brennendes Rachelechzen um, dem die Beresinagerüchte als eine ungeheuerliche Fata Morgana am Horizonte erschienen: wogende, ringende Massen verzerrter Fratzen und verstümmelter Menschenleiber über endlosen Wasserfluten hängend. Und doch sollte man's inne werden, daß die ungeheuerlichste Fata Morgana nur ein mattes Spiegelbild der Wirklichkeit war. Die Angesichter verhüllten sich über diesen Zeitungen und den mühsam hereingebrachten Briefen, die Wangen glühten vor Scham. »In einem solchen Jahrhundert leben zu müssen!« Und diese Scham verwirrte manchen klaren Geist und trieb wilde Schößlinge an manch' edlem Baume.
Dann kamen die Berichte von des Kaisers Einzug in Paris. Mit salbungsvollen Worten, wie ein Volkserlöser, einen zweiten Messias, begrüßten ihn seine Würdenträger: Lacépède, der Senatspräsident, und der Staatsminister Defermont:
»Stets ist, Sire, die Abwesenheit Ew. Majestät eine National-Kalamität, Ihre Anwesenheit ist eine Wohltat, welche das ganze französische Volk mit Freude und Vertrauen erfüllt. – Die im letzten Bulletin der großen Armee enthaltenen Berichte erregen unsre ganze Teilnahme; welche Bewunderung muß nicht die Entwickelung des erhabensten Charakters während dieses Monats der Gefahren und des Ruhmes einflößen, wo der Kummer des Herzens nie die Kraft des Geistes zu vermindern vermochte! Erschienen Ew. Majestät jemals mehr auf der Höhe Ihrer Bestimmungen, als in jenen Momenten, wo das Glück, die Elemente bewaffnend, scheinbar daran zu erinnern schien, daß es unbeständig sei?«
Kurz und kühl antwortete der allmächtige Despot: »Wer berufen ist, einen Staat zu regenerieren, muß beständig entgegengesetzte Prinzipien verfolgen. Frankreichs Ruhm und Macht liegen mir am Herzen, aber meine ersten Gedanken sind auf das gerichtet, was die innere Ruhe meiner Völker festigen und sie auf ewig vor allen Zerstörungen der Parteisucht und der Anarchie sicher stellen kann. Man zerstört in einem Augenblicke, aber man kann nicht ohne Hilfe der Zeit wieder aufbauen.«
Wahrlich, man mußte bei gerechtem Fühlen diesem großen, unheimlichen Manne auf dem Throne einen Bruchteil von der Riesensumme seiner Schuld abziehen, wenn man die blinde Vergötterung seines Volkes sah und den übelriechenden Weihrauch seiner Schranzen spürte.
Alle diese Nachrichten, in den Zeitungen des siebenundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Dezembers enthalten, gelangten erst am zweiten Januar, einem Sonnabende, nach der Insel Sankt Jürgen.
Die herrliche Winterklarheit der Weihnachtswoche war vorüber und Tauwetter eingetreten. Noch hielt das Eis, aber schon hatte sich der Wind von Nordost nach West gedreht; aus seinem kräftigen Brausen war ein weichliches Winseln geworden. Das Eis krachte und knackte gefährlich. »Die Spanier laufen,« sagten die Moorbauern. Über Nacht barst die spiegelnde Fläche nach Ritterhude zu in langen Rissen und Spalten auseinander: es klang in der dunkeln Stille wie knatterndes Kleingewehrfeuer. Man konnte sich wirklich aus der Ferne einbilden, daß ein Fähnlein welscher Arkebusiere, aus der Zeit des Wallensteiners, das Moor unsicher mache. Nach der Stadt zu gab es nicht so viel Strömungen unter dem toten Wasser, die das Eis zum Bersten brachten; deshalb hoffte der Postbote mit Recht, noch sicher zurück zu gelangen.
Vorhin, als er gekommen war, um im Küsterhause sein Päckchen abzuliefern, hatte Leberecht gerade über seiner Predigt am Schreibtisch gesessen, einsam, denn Christine verbrachte auf seinen Wunsch den Nachmittag bei den Eltern. Der Bote legte die Zeitungen sacht neben Domines Ellbogen, strich seinen Lohn ein und tappte hinaus, um gleich darauf durch das Schneegestöber seines Weges weiter zu eilen, nach Wasserhorst und Grambke zu.
Es war totenstill um Leberecht her. Er beendete die letzten Sätze seiner Predigt, deren Text, aus der ersten Epistel Petri, ihm abermals eine große Versuchung gewesen war, den Strom seiner Beredsamkeit über die russischen Greuel zu ergießen. Er hatte der Versuchung mannhaft widerstanden; schob seine Papiere rasch beiseite und griff nach den Zeitungen.
Tief auf ihre Spalten niedergebeugt, blaß vor Empörung, fand ihn Christine, als sie eine gute Stunde später von den Eltern heimkehrte. Mit der vollen Freude gestillter Sehnsucht, die ihr jedesmal den Tritt beflügelte, wenn sie sich für noch so kurze Zeit von ihrem Manne trennen mußte, lief sie auf ihn zu und schmiegte ihre rosige Wange, an der die schmelzenden Schneeflocken in feinen Tröpfchen hingen, zärtlich gegen seine Lippen.
»Da bin ich endlich wieder, ewig lang ist mir die Zeit geworden!«
Als sie die neuen Zeitungen und den Ausdruck in ihres Mannes Zügen gewahrte, schwand ihr Lächeln.
»O Liebster, ich wollte wahrhaftig, es würde gar nichts mehr gedruckt in dieser Welt!« rief sie, und er erhob sich und reckte die Arme vor sich hin wie ein müder Mann. Seine Stimme erschien ihr rauh, ganz verändert und verschleiert:
»Ja, Kind, das wünscht' ich auch, oder wenigstens, es würde nicht mehr soviel Schandbares gedruckt und statt dessen etwas Rechtes getan. Was meinst du: ob ich den Vater um eine große Güte bitten dürfte? Daß er, falls morgen wider Erwarten Kirchgänger kommen sollten, noch einmal an meiner Stelle Andacht im Hause hielte? Sage mir's ehrlich; du kommst eben von ihm, ist er leidlich wohlauf?«
»Sehr wohl – sehr gut, soweit man's von ihm verlangen kann,« entgegnete Christine, »aber erkläre mir nur, weshalb?«
»Mir brennt der Kopf, ich möchte in die Stadt zum Arzte. Frage nicht so viel,« unterbrach er sie ungeduldig! »es ist besser, ich predige morgen nicht, wie soll ich meiner selbst auf der Kanzel Herr bleiben, nach Diesem!?«
Er schlug mit der geballten Linken auf die Zeitungen und fuhr sich dann mit beiden Händen heftig durch sein dichtes Haar.
Sie sah ihm bestürzt ins Gesicht. Diesen Ton ihr gegenüber kannte sie noch nicht an ihm, aber sie zwang ihre verletzte Antwort nieder und sagte freundlich:
»Laß mich deine Stirn fühlen – du hast wirklich ein wenig Fieber. Mit dem Arzte wollen wir's uns noch überlegen und erst einmal in Mutters Hausapotheke nachsehen; es ist gar zu schlecht in die Stadt zu kommen. Vater wird dir sicher nicht nein sagen, geh, selbst die paar Schritte zu ihm, willst du? Die Luft ist wundervoll frisch, das tut dir gut.«
Während er, ihren Rat befolgend, sich zur Pastorei hinüber begab, sorgte sie fürs Abendbrot und räumte ihr Stübchen auf. Bei so winzigen Platzverhältnissen war Ordnung die vornehmste Bedingung zum Wohlbefinden. Der Fußboden um den Schreibtisch her lag voller Papierfetzen, und als Christine dieselben sammelte und beim Lichtschein betrachtete, sah sie mit Schrecken, daß sie die Bruchstücke von ihres Mannes morgender Predigt in der Hand hielt. Sie vermochte sich die Sache nicht zu erklären; konnte ihm der erste Entwurf nicht genügt und er einen zweiten begonnen haben? Oder wo sonst sollte sie den Grund einer solchen Tat suchen?
Sie faltete die Zeitungen auf dem Tische zusammen, und ein halber beschriebener Bogen fiel ihr dabei entgegen. Die erste Zeile beruhigte sie: das war ganz unzweifelhaft der neue Entwurf; denn den Anfang bildete ein Bruchstück des verordneten Textwortes für den ersten Sonntag nach Neujahr. Sie las:
»I. Petri, 4.
Darum es ist Zeit, daß anfange das Gericht. Und so der Gerechte kaum erhalten wird, wo will der Gottlose und Sünder erscheinen?«
Und weiter:
»Man zerstört in einem Augenblicke, aber man kann nicht ohne Hilfe der Zeit wieder aufbauen.«
»Napoleon Bonaparte Imperator. Paris am 20/12 1812.«
Und unter diesem Ausspruche das Folgende:
»Frevler! Bist Du Gott, vor dem tausend Jahre nur wie ein Tag sind? Nennest Du die langen Jahre des Druckes, der Schmach, der Not, des Blutes und der Tränen einen Zerstörungsaugenblick? Du Sünder wider das erste Gebot! Denn Du machest Dir ein Bildnis und ein Gleichnis von Deinem Gotte und betest es an: Dein eigenes, vermessenes Ich! Du aber bist nicht Gott, und des Allgewaltigen Hand wird Dich treffen und schlagen, wenn Du am höchsten und sichersten zu stehen vermeinest!«
» Deutsche Patrioten aller Stände! Höret auf die Mahnungsstimme eines Predigers in der Wüste. Auf! Lasset uns wirken und für unsere Befreiung kämpfen, solange es noch Tag ist!
Ein deutscher Patriot.«
Am Fuße des Blattes in kleiner Schrift eine Bemerkung für den Drucker in der Stadt:
(»Klein-Folio. Antiqua. Unterstreichungen sperren.«) Daneben, sehr fein mit Blei notiert, des Druckers Adresse: irgendein entlegenes Bremer Winkelgäßchen.
Christine hielt das Blatt in der zitternden Hand und starrte auf die gefährlichen Sätze aus der Feder ihres Mannes. Indem hörte sie ihn rasch treppauf kommen. Sie warf das Papier auf den Schreibtisch zurück und wollte ans andere finstere Ende des Gemachs fliehen, allein sie blieb wie versteinert, wo sie stand. Bewunderung und Entsetzen überstürzten stch in ihrer Seele.
»Was tust du?« rief er in der Tür, eilte auf sie zu und ergriff heftig ihre Hand beim Gelenk. »Du hast in meinen Papieren gestöbert!«
Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihm zu lügen. Sie wurde leichenblaß; dunkel blickten ihre Augen in seine zornigen.
»Ja,« erwiderte sie, »ich habe es getan, ich habe die Flugschrift gelesen, die du veröffentlichen willst, morgen, wenn du in die Stadt zum Arzt gehst.«
Er wendete sein Gesicht ab und ließ auffahrend ihre Hand los. In einem knappen Satze hielt sie ihm die Wahrheit entgegen: alle seine Pläne, an denen er seit Tagen geschmiedet hatte, während jeder Einsamkeitsminute und in langen, schlaflosen Nachtstunden.
Sie warf sich an seine Brust und kehrte mit beiden Händen sein widerstrebendes Antlitz dem ihrigen zu.
»Nein, o nein! Das bist nicht du! Das ist nicht mein edler Mann, der wie eine Natter im Verborgenen schleicht und sticht! O, mein geliebter Freund, höre auf mich! Ich bin nicht gelehrt, aber den Unterschied zwischen Tugend und Unrecht hab' ich doch klar erkennen gelernt. Leberecht: lieber will ich dich klaglos hingeben in offenem Kampfe, aber nicht so, nicht für lichtscheuen Patriotismus! Du antwortest mir nicht? Sieh mich an, o, sieh mir ins Gesicht, mein Einziger! Geh' nicht in die Stadt zum Arzt, laß mich versuchen, dich zu heilen. Und zerreiß' dies Blatt, mir zuliebe; dir selber zuliebe!«
Sie hielt ihm das Papier hin: »Was wagst du mir zu bieten – –?« sagte er mit klangloser Stimme und trat von ihr hinweg.
»Mein Bestes: treue, ehrliche Liebe,« gab sie zurück, umschlang ihn, trotz seines Widerstandes von neuem und bot ihm abermals das Blatt. »Vernichte es; höre auf mich,« wiederholte sie, »ich will dich auf den Knien darum bitten!«
Allein, ehe sie es so weit kommen ließ, riß er sie an sich, schaute ihr, unter festzusammengezogenen Brauen hervor, gerade ins Gesicht; dann gab er sie frei, nahm das unselige Papier aus ihrer Hand und zerpflückte es in kleine Stücke.
»Still! Kein Wort mehr!« gebot er ihr, als sie Miene machte, ihm für das zu danken, was er eben vollbracht. Darauf hüllte er sich in seinen Mantel, ging ins Freie hinunter und schritt wohl eine Stunde lang zwischen den Gräbern des Friedhofes auf und nieder. Eine Weile kauerte Christine in Todesangst vor dem runden Fensterchen und spähte, durch Dunkelheit und Schneetreiben, vergeblich nach ihm aus. Sie zwang sich mit aller Macht, nicht zu weinen, nicht zu fürchten; sie legte Gott ihre Not ans Herz, und das Gebet machte sie mutiger, so daß sie sich ruhig zu ihrer Arbeit setzen konnte, bis er wieder zu ihr eintrat, verschneit, durchweht, aber doch ein anderer, als der vorhin von ihr gegangen war. Nur seine matten Augen ängstigten sie und daß er sich kaum mehr auf den Füßen hielt, vor Müdigkeit. Sie ließ nicht mit Bitten ab, bis er, nach kaum berührtem Abendbrote, sich niederlegte. Sie fühlte sich erschreckend wach und hätte am liebsten noch stundenlang mit ihm hin und her geredet und gerechtet über dies erste und düstere Blatt im Liebesgedichte ihres jungen Herzens. Allein sie bezwang die selbstische Regung. Damit der Geliebte volles Dunkel und ungebrochene Stille habe, löschte sie das Licht, setzte sich auf eine Fußbank an seine Seite, lehnte ihren Kopf gegen die Bettkante und kämpfte mit der eigenen Schlummermüdigkeit, die nun doch kam. Stunde auf Stunde verstrich; Leberechts Fieberglut fing an, sich ihr mitzuteilen. Unablässig seufzte und stöhnte er und warf das Gesicht hin und her in den Kissen; packte mit hastigen Fingern die Decke zusammen, als suche er plötzlich einen Halt gegen eingebildetes Versinken, und wenn Christine ihn leise anrief, legte er seine brennende Hand auf ihre Lippen:
»Laß mich! still! still!«
Zuletzt jedoch wurde ihr seine qualvolle Unruhe ganz unerträglich. Sie erhob sich von ihrem Binsenschemelchen und berührte seine Schulter, die unter ihrer Hand zusammenzuckte.
»Lieber, kannst du denn gar nicht einschlafen? Willst du's nicht versuchen? Ich werde Licht machen und dir ein Glas Wasser holen.«
»Kein Licht, – laß, – – laß! ich bin nicht durstig,« wehrte er abermals flüsternd ab und wollte sie zurückhalten. Als sie jedoch trotzdem zum Fensier ging, aus dem Steinkruge einschenkte und ihm den eisigen Labetrunk au die Lippen hielt, wie einem kranken Kinde, leerte er das Glas in langen, schmachtenden Zügen.
»Christine,« sagte er dann leise zwischen raschem Atemholen, »gib mir deine Hand; hilf mir, wie du's schon einmal getan hast. Sieh, der Versucher, das Böse in mir, will es nicht zugeben, daß du recht hattest, als du verlangtest, ich solle die Flugschrift vernichten, – das Pamphlet.«
»Lieber, quäle dich nicht so entsetzlich darum. Laß den bösen Geist austoben. Der gute ist hundertmal stärker in dir, und wenn du auch meinst, er sei matt geworden: das geht vorüber; er überwindet doch.«
»Die Erkenntnis wenigstens steht mir bei – – und doch und doch – –!«
»Gib Geduld gegen dich selbst. Liebster. Du bist ein Mensch; jeder Mensch muß kämpfen, und du stehst nicht allein in der Welt. Sieh, ich bin jung und unerfahren, aber du hast mich doch, und mein Herz liebt dich über alles.«
Er drückte ihr ungestüm die Hand. »Tausend Dank, Christine! – Du mein lieber Trost, wie klein fühl' ich mich vor dir. Ich habe dir auch noch mit keinem Worte abgebeten, daß ich dir heute abend so schroff und lieblos begegnen konnte.«
»Geliebter Mann,ich bitte dich innig; schweige davon. Es ist im großen und kleinen schwer, wenn ein Unberufener uns einen Plan vereitelt, von dem wir etwas hoffen. Du hieltest mich in deiner Erregung für unberufen; du vergaßest, daß ich ein Teil von dir selbst bin und das Recht meiner Liebe für mich hatte. Und ich hätte nicht so heftig fordern dürfen, was du, bei ruhigem Bitten und gemeinsamer Überlegung, so gewiß unterlassen hättest, wie dir's jetzt deine Erkenntnis verbietet.«
»So vergibst du mir ganz, Christine?«
»Hätt' ich dir nur gezürnt! Dürfen zwei, die sich lieben, einander in solchen Zeiten harter Anfechtung etwas nachtragen? Du hast schwerer zu kämpfen als ich; du, der Mann, und doch bin ich stolz, daß du ein rechter Mann bist. Nun küsse mich zur guten Nacht und schlaf' in Frieden. Gott schütze dich.«
Er fragte nicht einmal, ob sie der Ruhe bedürfe, drückte den Kopf fest ins Kissen und schlang einen Arm um den Nacken seiner Frau. So blieb er regungslos; nur daß seine heißen Finger ohne Unterlaß an Christinens Halse zuckten und zitterten.
Draußen krachte und knatterte das brechende Eis eine ganze Zeit lang; es war wie fernes Schlachtengetöse. Dann pfiff nur noch der Tauwind eintönig und melancholisch um den Giebel, der das kleine Heim zweier schlaflosen Menschenherzen barg.
Auch in ihnen ward es endlich schlummerstill.