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Mitten auf der Dreschtenne in Bauer Sibberns großer Hausdiele stand, vom gestrigen Heiligabend her, grün und duftig der weihnachtliche Tannenbaum. Die Kinder und das Gesinde hatten augenscheinlich schon manchen Raubzug auf die braunen Kaneelsnüsse und rosa Teigmännchen unternommen, mit denen die Äste behängt waren. Der Hauptschmuck jedoch, knisterndes Rauschgold, bunte Papierringel und vielfarbige Wachsstockstümpfchen, prangte unberührt. Durch die halboffenen Torflügel flutete köstlicher Abendsonnenglanz herein, zugleich mit der kalten Dezemberluft, die schon ein kräftiger Seehauch würzte. Die Tauben saßen dick geplustert auf den Stangen des Schlages und rucksten und gurrten der Sonne Gutenacht, und im Hofe stand der gelbe Bullenbeißer nachdenklich über seinem appetiterweckenden Freßnapfe, dessen warmer Dampf ihm angenehm um die gespaltene Nase schmeichelte. Da draußen lagen die verstreuten Gehöfte, von ihren »Büschen« eingehegt, so zierlich wie Gebilde aus weißem Zuckerkand. Die hübsche, runde Linde, drüben vor Tönjens Biehls Wohnhaus, glich einem Schneeballe, und die Dingener Kirche trug eine Zipfelmütze auf dem Turme. Die Kirchfenster blinkten hell: es war die Zeit des festtäglichen Nachmittagsgottesdienstes. Links tauchte Weddewarden, rechts die einsame, uralte Imsumer Kirche auf hoher Wurth aus dem Dufte des Horizontes empor, und ging man das halbe Stündchen bis zum starken Deiche, so blickte man ins unermeßliche Watt hinaus, wo die weiten Flächen von Langlütjensand grau durch die grüngelben Ausläufer des Wurster Fahrwassers sichtbar wurden.
Manch liebes Mal pflegte Bauer Sibbern in klarer Morgenfrühe oder um Feierabend unter seinem Torweg zu stehen, mit den großen, grauen Augen nach allen Seiten um sich her zu blicken und die Tabakswolken seiner Pfeife in die hohe Luft zu blasen, damit ihm nichts von der stolzen, freien Aussicht über die gesegnete Marsch verloren ginge.
»Un' dat schall franschet Land sien; use Land-Wusten?« fragte er dann und schüttelte seinen Rundkopf auf gedrungenem Nacken genau so ungläubig, wie das Kind, dem ein Spaßmacher vorredet: jenes üppig reifende Kornfeld werde sich über Nacht in ein gehaltlos prunkendes Tulipanenbeet verwandeln. Solch eine verrückte Undenkbarkeit!
Heute nachmittag war der Bauer nicht daheim. Nicht einmal den Kirchgang gönnten ihm die vertrackten franschen Rechtsverdreher am ersten Weihnachtstage. Nein, mit Nachbar Biehl hatte er auf die Mairie nach Dorum fahren müssen zur Zeugenschaft in einer ärgerlichen Sache. Schmuggel und kein Ende damit! Die kecken, jungen Hausmannssöhne betrieben die Narrenspossen um die Wette mit den Schiffern aus lauter Übermut und Wähligkeit, und alle Augenblicke steckte der und jener von den kreuzenden englischen Orlogschiffen mit ihnen durch. Das gab dann lustige und hitzige Katzbalgereien an der Küste hin: Schießen, Durchbrennen, Ertappen und dann ein Hallo und ein Bramarbasieren und Exempelstatuieren, daß alle Wurster Gelassenheit dabei aufhörte. Die streifenden Douaniers wurden immer gewitzigter; der Präfekt erhöhte die Strafen von einemmal zum andern, verhängte Gefängnis und drohte mit Prangerstehen und Füsilieren auf der Stelle. Wurster Blut ins Gefängnis! Wurster Hausmannssöhne öffentlicher Schande preisgegeben! Die hochmütigen Friesenaristokraten bissen ihre Zähne zusammen und schröpften ihre Säckel nach allen Regeln der Kunst für die französischen Nimmersatte. Mußten die waghalsigen Herren Söhne trotzdem ins Loch, so trieben sie es nach verbüßter Haft desto ärger, um den Schandfleck von ihrer Ehre abzuwaschen.
Das Vorbild all dieser Durchgänger war Jan Rickwegs, Jan Grön, wie man ihn im Lande wegen seines verschossenen grünen Wamses getauft hatte. Der brauchte nur eine französische Uniform zu wittern, dann kam ihm sofort irgendein unglaublicher Schabernack, zwischen Helgoland und der Wesermündung ausführbar, in den Sinn. Er steckte auch heute im Hintergründe des Gesetzesfrevels. Die Bauern aber hätten sich eher bei lebendigem Leibe schinden, als ein belastendes Zeugnis wider einen der Ihren auspressen lassen. Bauer Biehl besaß die imposante Körperlichkeit und die kluge Besinnung, Bauer Sibbern den harten Kopf und das helle Auge, und so sakrierten und parlierten die cholerischen Franzmänner heute umsonst: Nichts ließ sich ergründen und beweisen. Der Maire war ein »Maire wider Willen«, der krümmte seinen lieben Nachbarn und Brüdern kein Haar, und es war ihm ganz recht, daß die Angeklagten in Freiheit gesetzt werden mußten und schon hinter der Tür des Sitzungszimmers zueinander sagten: »Kinners! nu kann't wedder losgoahn!«
Auf diese Art lag der Sibbernshof schon seit dem Morgen herrenlos. Das Gesinde hatte des Festtags halber längst Schicht gemacht. Gedroschen ward überhaupt nicht während der »zwölf Nächte«, so lange der Christbaum in der Tenne stand. Hochgeschichtet lag das Getreide auf den Balken über den Viehständen, und der scharfe Dunst, der diesen heiß und feucht entstieg, kämpfte erfolgreich gegen kalte Außenluft.
Gemächlich wiederkäuten die feisten, hingelagerten Milchkühe und Kälber; der stößige Bulle stand aufrecht, rieb seinen bösen Kopf zornmütig gegen den Pfahl und klirrte mit der Kette. Dem Milchvieh gegenüber scharrten und stampften vor ihren Krippen die schweren friesischen Gäule, wohlgenährt, im rauhen Winterhaar. Spottwenig merkte man vom Notstände der Zeit in dieser Musterwirtschaft. Freilich nur »Deichgraf« war Bauer Sibbern, aber reicher und angesehener als mancher adelsstolze Graf in seinen Marken, und über dem alten Bauernwappen, mit dem Reichsadler und der vollen Kornähre, stand eine regelrechte Krone. Nicht die schmuckhaft geperlte: fünf kurze, stämmige Zacken vom breiten Reifen aufragend, weiter kein läppischer Schnickschnack.
Sehr anmutend und sauber war's da drinnen. Mit der abendlichen Himmelsglut wetteiferte das irdische Herdfeuer, das unter dem singenden Wasserkessel große Flammen schlug. Deren Licht tanzte über die blankgebohnten Vorschieber der geschlossenen Kojenbetten längs der Howand hin, streifte Truhen und eichene Schränke und lockte hüpfendes Gefunkel aus dem Zinngeräte der langen Börte. Um den Weihnachtsbaum wob es eine helle Glorie.
Die Bäuerin hatte ihrem Mann vor acht Tagen das jüngste Kindchen geschenkt und saß nun, hübscher und feiner anzusehen als gewöhnlich, im Ohrenstuhl der Stube neben der schaukelnden Wiege. Zwischen deren Rumpeln hinein tuteten und trommelten zwei flachshaarige Jungen und gefährdeten die Puppe des zweijährigen Schwesterchens zu Füßen der Mutter. Die lachte munter bei all dem Lärm, strickte behaglich und freute sich über ihr ruhiges Wiegenkindchen. Antje, die Hausmagd, versah ihre Stelle am Herde. Dort stand sie in der ärgsten Flammenhitze, rührte den steifen Mehlbrei zu den Abendklößen und schäkerte mit Wierich, dem Großknecht, der, an der Wand räkelnd, seiner Erkorenen allerhand grobkörnige Witze und Geschichten zum besten gab. Das übrige Hausgesinde kam eben aus der Kirche zurück, und nun setzte sich die ganze Gesellschaft, außer Reemt Arend, in die verräucherte Knechtskammer um den klobigen Tisch, holte die Spielkarten hervor und bekrittelte nebenbei, während die Kanne voll Roggenkaffee fleißig kreiste, die Christgeschenke des Bauern, der für »närig« galt. Der gemeine Mann pflegt nie ganz zufrieden zu sein.
»Närig« in gewissem Sinne war der Bauer, er hielt den Daumen auf dem Geldsack. Trotzdem aber hatte Marten, sein ältester, ein rotbäckiger Weißkopf, sich schon drei Tage vor Weihnachten einen Schulkameraden aus Dorum mit heimnehmen dürfen: Volkmar Torbeeken. Der Junge, der nicht einmal zur Hochzeit nach Haus sollte, jammerte den Bauern. Obgleich Marten mit dem Pastorensohne nur eine sogenannte Prügelfreundschaft unterhielt, war dieser einfach vom Vater des Hoferben in das stattliche Karriol gepackt und mit nach Dingen gebracht worden. Da wollte ihn der wohlhabende Hausmann einmal ordentlich herausfüttern! Umsonst hieß in der fetten Marsch der Weihnachtsabend nicht »Vullbucksavend«. Bis zur Überlast durfte jung und alt sich den Bauch mit rosinenstarrendem Mehlpudding und leckerem Grapenbraten füllen, und der unerschwingliche Zoll hatte dem Branntweinkruge des Hausmanns nicht weh getan. Wie Volkmar Torbeeken, der Schmalgewöhnte, diesen »Vullbucksavend« ohne Leibesnot hatte überstehen können, das war ihm noch heute früh ein interessantes Problem gewesen.
Jetzt saßen die Schulgefährten mit Reemt in seinem halbdunklen Verschlage hinter den Pferdeställen und halfen ihm beim Lichte des dampfenden Trankrüsels aus feinen Hanffäden neue Peitschenschnüre mit tadellosen Schweppen drehen.
Marten arbeitete mit gemächlicher Stetigkeit, schmauste dabei wohlzufrieden Äpfel aus seiner Tasche und fragte den Knecht, der ihm noch fremd war, zum zwanzigsten Male nach jedem Hufnagel im Stalle und jeder Zugleine in der Geschirrkammer.
Volkmar fing Grillen. Er sehnte sich nach Sankt Jürgen, nach der zärtlich geliebten Schwester und dem unbekannten Schwager, mit dem sie heute Hochzeit hielt, und der so herrliche Briefe schrieb. Reemt hatte Wunderdinge von ihm erzählt, gestern, als sie, vor der Bescherung, miteinander durch den gefrorenen Klei ein bißchen ins Feld gegangen waren. Vor Marten schämte er sich seines Heimwehs, er konnte solche runde, kalte Fischaugen zu weißem Haar nun einmal für den Tod nicht leiden. Weshalb hatte er sich mitnehmen lassen, anstatt ruhig in der Dorumer Dachkammer bei Eberhard Woyta, seinem Freundesidol zu bleiben? Was brauchte es ihn zu verdrießen, daß Eberhard der Heiligabendsfreude so abhold gewesen war, daß er heftig behauptete, es sei eine Sünde bei diesen niederdrückenden, russischen Kriegsnachrichten von Bescherung zu reden? Eberhard wußte Bruder und Vettern in der großen Armee. Volkmar keine verwandte Seele, darin aber lag doch kein Grund, für einen kindischen Schlecker zu gelten und sich so schimpfen zu lassen, weil man trotz des glühendsten Patriotismus noch immer mit einer kleinen Herzensfaser an Festkuchen und Lichterbaum hing? Ja, im halben Unfrieden waren sie voneinander geschieden, und nun wollte sich bei Volkmar keine Weihestimmung einfinden, ungeachtet des Puddings, Schweinebratens und Tannenduftes. Sein sensitiver Geist fühlte alle Flammen unter prosaischer Asche erstickt. Hier auf dem Bauernhöfe wußte keine Seele etwas von. Klopstock und seinen schwungvollen Bardieten, niemand hatte je von Tuisko, dem mythologischen Heldenjünglinge aus Walhall, gehört, noch von der Telyn mit ihren sanfttönenden Saiten im cheruskischen Eichenhaine.
Deshalb hockte nun der bildhübsche, lichtblonde Bursch, der eine drollige Ähnlichkeit mit seiner drei Jahre älteren Schwester zeigte, trübselig auf Reemts hölzernem Dreibeinschemel. Er hielt die Knie gegen die Brust hochgezogen, und die Ellbogen darauf gestützt. So zwirbelte er ohne Aufmerksamkeit an seinem hanfenen Schnurende. Aus seinen viel zu kurzen Jackenärmeln streckten sich derbe Hände lang hervor, die in auffallendem Gegensatze zu dem feinen, blauäugigen Gesichte standen. Nur dessen feste und sehr entwickelte Mundpartie zeugte von angeborener, starker Willenskraft, während die weiße, weichumlockte Stirn mit den schmalen, aschblonden Brauen für einen wahren Götterthron der Schwärmerei gelten konnte.
Er hatte, als Marten mit seiner Pferdeweisheit glücklich am Rande war, das Gespräch nochmals auf die Wührdener Schrecknisse gelenkt. Alle tragischen Einzelheiten ließ Reemt sich widerwillig abringen. Volkmar jedoch wußte seine Fragen geschickt zu stellen und folgte jeder kargen Mitteilung des jungen Knechtes mit äußerster Spannung.
»Hat denn keiner von euch hinterrücks die Stricke durchsäbeln können, mit denen sie deinen Vater gebunden hatten, Reemt? Herrgott! in dem Qualm, in der Verwirrung, ich sollte nur dagewesen sein! Heraus mit dem Messer! ritsch, ratsch! Durch wär' der Strick, und dann mit dir und Arend die Halunken gepackt und einfach ins Feuer geschmissen!«
»Jawoll! Dat smitt sick man so infach, Muschücken!« entgegnete der Knecht und nahm dem Redenden das Bindfadengeflecht aus der Hand. »Kumm, rungeneer mi de Sweep nich, Fent; hol' dien Meßt in'r Tasken! Was meinst du, wenn da'n Dutz' Schandoaren anzusegeln kommt, mit Degens un' mit Gewehre. Die stellen sich auf deine Wurth un' stechen un' knallen für blind, so'n Stücker sechs oder sieben. Die andern, die knoten Vater die Hände auf'n Rücken un' högen sich noch recht dabei un' bewachen das Wasser, daß wir nicks nich löschen können.«
»Donnerwetter! Ich sollte nur dagewesen sein! Ich hätte die Hundekerls schön ins Wasser schubsen wollen!«
»Füer un' Woater, dat kann di gefallen,« sagte Reemt und lachte kurz und trocken auf. »Du büst jo'n Nägenklook; jüst as use Herrgott sülwst: De kunn sick dat ok nich bäter utklamüstern!«
»Das Schubsen, das hätt'st du wohl bleiben lassen,« fiel Marten ein und brach seinen letzten harten Kantapfel in zwei Hälften. »Mein' dir man nich allzuviel! Du hast neulich erst auf'n Schulhoff gesagt, wir sollten stillkes sein, damit daß uns der Schandoare nich hörte un bisponte.«
Volkmar wurde feuerrot und seine langen Hände fuhren noch weiter aus den Jackenärmeln heraus. »Das ist'n elender Schnickschnack von dir, Marten Sibbern! Du weißt ganz gut, warum ich gesagt habe, daß wir uns in acht nehmen müssen. Wenn sie uns jetzt beispinnen und hinrichten, du Döskopp, wer soll denn nachher das Land befreien? Die alten Kröpels? Laß du den blutigen Tamerlan man erst aus Rußland wiederkommen, dann woll'n wir ihn schon zu fassen kriegen!«
»Wo nennt sick de Kärl, de wedderkoamen schall?« fragte Reemt und machte den Knoten in seine letzte Peitschenschweppe: »Dat is woll een' van Boneboart siene Generoals?«
»Der lebendige Teufel selber!« rief Volkmar. »Den woll'n wir zu Mus schlagen, so wahr ich hier stehe!«
Marten warf sein Kernhaus in die Ecke und lachte. »Du bist ja wohl rein mall in'n Kopp geworden! Dich nehmen sie ja noch gar nich zum Soldaten.«
»So, so? Weißt du das gewiß, du Döskopp? Weil du'n halben Finger größer und dreimal so dick bist, wie ich? Meinst du? Komm' an, ich will dir zeigen, wer stärker ist! Komm an, Bangebox!«
»Jung's, stried't jo nich,« mischte sich Reemt ein und nahm den Kampfhahn Volkmar beim Kragen. »Wenn't losgeiht, goah' wi alltohoop, un ick sliep jo de Säbels scharp. Dunnerslag! is dat all Klock söß? W'rafftig, de Buur kummt t'rügg. Betähmt jo, ji Bullerballers!«