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Viertes Kapitel.

Bis Mittemacht wanderte Reemt Arend, tüchtig ausschreitend, immer auf dem Deiche hin. Vor einer Stunde war die Flut eingefallen; die Weser trieb massige Eisschollen. Der Mond, der kaum eine Elle hoch über den Rand des Horizonts emporgeklommen, sank schon wieder und blickte blutrot durch die dicke Schicht des heraufbrauenden Seenebels. Aus ihm tauchten nur da und dort vereinzelte Bakenlichter hervor, mattblinzelnde Pünktchen von zitterndem Hofe umgeben. Von Jollen und größeren Böten nichts zu sehen. Hin und wieder ein langhallendes Signalblasen von der Karlsstadt-Batterie herüber: » Gardez-vous bien!« mahnten die vier deutlich getrennten Töne. Einmal zerriß der immer dichter werdende Nebel, und Reemt sah die graue Riesenform des englischen Orlogfahrers in der Ferne aufragen, gespenstisch verschwommen wie des fliegenden Holländers Geisterschiff. Jetzt lief ein heller Blitz an seiner Seite hin, durchzuckte das Wasser, und der dumpfe Knall kam gleichzeitig. Nun undeutliche Menschenlaute: Anrufe, Flüche, wirres Schreien. Das mußten wieder die Franzosen sein, die irgendeinem Schmuggel auf der Fährte waren. Da gaben sie noch eine Salve ab: eine Folge behender Fünkchen, helles Knattern. Der Orlogfahrer entgegnete nur ein nachdrückliches Wort aus dem Kanonenrohr. Der machte gemeinsame Sache mit den Schmugglern. So war's letzthin meist gewesen.

»Dat schall nu gau noog anners warden!« sagte Reemt, fühlte nach seiner Zeitung und schlug, heftig an seinem tönernen Pfeifenstummel saugend, die langen Arme ein paarmal kräftig über der Brust zusammen. Ihn fror, die Nebelkälte ging durch Fäden und Poren bis aufs Mark. In der Eile hatte er seinen Lebenswärmer, die Schnapsflasche, einzustecken vergessen; Geld und Brot trug er auch nicht bei sich – es war des Kuckucks! Als fixer Pferdeknecht eines Wurster Hausmanns verlernt man die Bettelhaftigkeit rasch; einsprechen und um Zehrung bitten mochte er nicht mehr. Erst hinter Wasserhorst fing seine Bekanntschaft wieder an, und er konnte dreist fordern, ohne Abweisung fürchten und demütigen Dank sagen zu müssen.

Unweit Wulsdorf kam ein patrouillierender Reiter in Sicht und hielt den nächtlichen Wanderer an: » Qui vive?«

»Dat bün ick: Reemt Arend – du kennst mi,« erwiderte der Knecht, trat neben das Pferd und schlug Feuer mit Stahl und Stein. Für eines Augenblicks Dauer fiel volles Licht auf die Patrouille: ein blonder Mensch hoch in den Zwanzigern mit Habichtsnase und nahe zusammengerückten Augen, dazu der friesische Rundkopf.

»Du mit dien franschet Kiiwiit; wat wollt du van mi, Jürke Meins?« fragte der lange Bursch verächtlich und sah dem allgemein verhaßten, abtrünnigen Landsmanne mit eisigem Hohne ins Gesicht. »Fisenteer mi driest, ick bün upp Verlöff van mienen Buur. Hier is dat Poppier.« Er holte Paß und Dienstbescheinigung aus der Tasche mit des Maires Unterschrift und Bauer Sibberns Hausmarke als Handzeichen.

»Wohin zu geht Er?« fragte der Gendarm kurzab, drehte sein Laternchen herum, daß es plötzlich hell ward, und hielt Reemts Papiere unter seine krumme Nase. Er hatte sich, seinem Amte zu Gefallen, ein schlechtes Hochdeutsch angewöhnt. »Mit Seine Frechmäuligkeit kann ihn das noch mal eklich mallören,« sagte er barsch und gab das Schriftstück zurück. »Er steht unter Kuntrellierung, un' mit'r Konskripschon soll das auch woll 'n anders Bewähr kriegen.«

»Hä, dat glöw' ick sülwst, Dekksel noch to!« entgegnete der Knecht und lachte sein kurzes Lachen. »Paß upp, dat du d'r man nich bi to Schimp kummst, Jürke, du un' dten franschen Schameluck!« Er versetzte der großen hochbeinigen Mähre des Gendarmen einen kitzelnden Schlag, daß sie sich auf die Hinterhand warf.

»Wat meenst du d'rmit? Woahr di, du Fuhlsnuut!« schrie der Mann des Gesetzes, im Zorn sein Hochdeutsch vergessend, und zog blank. Allein Reemt parierte mit dem Arme und duckte sich dann behend unter der Klinge durch.

»Woahr du die, du un' dien Boneboart!« gab er mit drohender Betonung zurück. »Du schast an mien Woort gedenken, Jürke Meins. Dat geiht nich mehr lang rundtum, as 'ne gedüllige Koffjemöhl, so, as du un' de Franschen willen!«

Der Gendarm stutzte merklich und ließ seine kurze Plempe in die Scheide gleiten.

»Ick kunn dt upp'e Stää arrendeeren, Kärl!« sagte er.

»Dat will ick di nich anmoden sien,« erwiderte der Knecht kalt. »Adjüs ok, Lannsmann!«

»Er hat erst noch zu vermell'n, wohin zu Er geht,« rief ihm der Gendarm nach. »Halt! stopp!«

»Na Sßan Jürdens to. Use junge Domine hett Hochtied mit usen Olen siene Mummsell. Ick will jüm gralleeren.«

»Schön; denn will ich Ihn für diesmal vorbeilassen. Kumpelsante Graddelierung!« gewährte Jürke Meins gnädigst, griff an den Tschako und wendete sein Pferd nach Wulsdorf zurück.

»Schaapsharm! Nu krieg' wi de Macht!« sagte Reemt hinter dem Fortsprengenden drein. »Weg ut'n Lanne mit de kralloogden Lumpenhunne!« Er brannte seine Pfeife frisch an und holte darauf zu Siebenmeilenschritten aus. Seines Vaters halsbrechende Tollheit schien sich, zu etwas Edlerem verklärt, in diesem schlichten und bis dahin so gleichmütigen Jungen wiederholen zu wollen. Das heutige Bulletin, das unter seinen kräftigen Atemzügen vernehmlich knisterte, hob seine ganze Natur aus den Fugen. Mut, Vaterlandsliebe durchbrachen den Deich und wuchsen an, bis sie gewaltiges Oberwasser hatten. Sank es auch einmal wieder, es kannte nun seinen Weg und sein aufgewühltes Bett. Es kam zurück, so sicher, wie die Flut nach der Ebbe.

Gegen Morgen fand er hinter Bramstedt Fahrgelegenheit, und um Mittag setzte ihn der Fuhrmann jenseits des Stoteler Waldes bei Linteln ab. Dort schnallte er sich die Schlittschuhe unter und lief auf dem Kanal und quer durch die überschwemmten Strecken des Lintelner Bruchs gegen die Hamme zu und dann, jenseits der Schleuse, weiter nach Vierhaus im Jürgensland. Trotz des verbrannten Trauscheins fühlte er in sich eine gewisse Verpflichtung, nach Gesche Redlefs zu sehen, um die er sich, seit damals, in der stürmischen Folge der Begebenheiten nicht wieder gekümmert.

Über des Korbmachers ruinenhafter Kate stieg eine schmächtige Rauchwolke vom zerfetzten Rohrdache kerzengerade in die blaue Luft auf. Also sie hatten wenigstens ein Feuer auf dem Herde. Rings um die Wurt lag das Staueis in zackigen Scheiben und abgeflachten Klumpen aufgetürmt. Keine Hand hatte sich bemüht, es abzuwehren oder zu verkleinern, wie es sorgliche Hausväter zu tun pflegten. Das wüste Geschiebe hatte mehrere der Pfähle, die der Kate als Grnndstütze dienten, bloßgelegt, die deckende Erde, das verkleidende Buschwerk fortgestoßen, und die darin geborgenen kleinen Wintervorräte von Kohl und Steckrüben hingen ordnungslos und eingefroren im Eise.

Das Ganze machte einen höchst verkommenen Eindruck, und als Reemt nach dem nahen Entenfange zwischen den Bracken ausspähte, sah er, daß der Sturm die Hütte abgedeckt und die Schlagwände zusammengerissen hatte. Verfall, wohin er sein Auge schweifen ließ, das sich nur allzurasch an Ordnung und Wohlstand gewöhnt hatte.

Auch das Innere der Kate schien ihm womöglich noch verwahrloster als vor fünf Wochen, da er sich von Wührden zu diesen Paria, abseits von der Dorfstraße flüchtete. Das Ehepaar jedoch saß am warmen Herde im Halbdunkel einander gegenüber und schmauste eine ungewöhnlich gute Kost aus schmieriger Pfanne: fette Reiswurst in Eierkuchenteig gebacken. Es schmorte und britzelte noch lustig auf dem Feuer; jeden Bissen tunkten die Essenden in den vollen Sirupstopf und tranken Schiedamer aus henkellosen Tassenköpfen dazu. Ein wahres Göttermahl für bettelarme Häuslinge.

»Goden Dag, tosaam!« sagte Reemt.

»Go'n Dag, Arend,« gab der Korbmacher zurück. »Süh, büst du d'r ok moal we'er?«

»Na, wo geiht't jo denn?«

»O fein to Wege! Goah sitten, Arend. Kannst miteten, is genog för dree Mann, 'n lekkert Eten: Rullkenpannkoken mit Zirupp; mag's dat woll? Moder, giww Arend 'n Förk', Gesche ähr Förk'.«

»Ji hewwt woll arwt, Redlefs? So moje bin ick dat bi minen Buur nich gewennt. Wo is Gesche?«

»Erst goah sitten. Kumm, sett die doal un' itt wat. Je jo! je jo! wo is Gesche? Dat fröggst du woll!«

Der dürre Mann mit dem weißstoppeltgen, verhärmten Gesichte blickte seine Frau aus dem gesunden Auge ängstlich von der Seite an, lächelte dumm-verlegen und ließ sein Stück Rullkenpfannkuchen unversehens von der Gabel in den Sirupstopf fallen.

»Wat gelld di use Gesche an, Arend?« fragte die Frau. »Dat Putzenspeel mit den Preester von Sßan Jördens hett keen Bestand. Uppschreeben in'n Karkenbook is joe Trau nich. Meßter hatt dat för us bi den olen Domine in' Schikk bröcht.« ›Meßter‹ war der verunglückte Seminarist und herumziehende Dorfschulmeister.

»Nä, ick danke; ick mag nich!« sagte Reemt plötzlich, legte seine Gabel mitsamt dem ersten Bissen in die Pfanne zurück, stand auf und steckte beide Hände tief in die Taschen.

»Reemt, ick wull dat pattu nich togeben mit de Deern,« fing der Korbmacher entschuldigend an, aber seine Frau schnitt ihm, wie immer, mit ihrer stehenden Redensart das Wort ab:

»Du hest hier nicks to willen un' totogeben! Gesche hett'n Dienst annoamen; se lüstert' d'r upp. In Wulsdörp bi usen Quoteerswann, bi Jürke Meins, denn nobeln Schandoaren.«

»Bi denn? Un' nu känt ji Rullkenpannkoken mit Zirupp eten, wat? – Futikan!«

Reemt drehte sich auf dem Platze um, wo er gerade stand und verließ die Kate. Der ruhige Mensch war nur äußerlich so gelassen, ihm schlotterten die Knie, und seine kalten Hände zitterten vor Wut. Auf einem Block des hohen Staueises setzte er sich, die Kate im Rücken, und begann sich die langen »Schöfels« wieder unter die Sohlen zu schnallen. Mitten in dieser Arbeit ließ er den Riemen fahren und legte das Gesicht in beide Hände. So blieb er lange.

Damals, unter der entsetzlichen Wucht seines Unglücks, hatte er, zum Dank für Domine Claudius' Opfer, ein Gelöbnis getan und gehalten. Er war ein brauchbarer Mensch geworden, entschlossen, sein gegebenes Wort rechtzeitig einzulösen. Zwar, während all dieser Wochen hatte das aufgezwungene Ehejoch ihn heimlich gedrückt und gepeinigt bis zur Unerträglichkeit. An Gesche Redlefs lag ihm nicht das Geringste. Im Gegenteil, ihre freche Art stieß ihn ab; ihre Hand aber hatte ihm aus seiner Not geholfen, nun deutelte er nicht länger, sondern versuchte sich stoisch mit seinem trüben Lose abzufinden.

Von ehrlichem Willen getragen, war er zu Gesches Eltern eingetreten, und aus ihrem eigenen Munde mußte er erfahren, daß die Tochter, ein halbes Kind noch, sich freiwillig in die Hände eines zwiefach verächtlichen Feindes gegeben habe: deutsche Art, die fränkisches Sündenbrot aß. Das wurmte ihn. Eine, die bei Jürke Meins in Dienst und Lohn stand, rührte er mit keinem Finger mehr an. Das hochfahrende Wurster Blut seiner armen, verstorbenen Mutter regte sich plötzlich in ihm; er war froh, daß er in ihrer Heimat lebte und nicht mehr im Moore.

Sein Zorn beruhigte sich unter dem Einflusse der Gedanken. Er stellte sich fest auf seine Schlittschuhe, nahm einen Anlauf in weiten Bogenlinien, schwenkte von Vierhaus ab und glitt in sausender Fahrt dahin über das spiegelglatte Eis, nach Wührden hinunter, wo die schwarzen Brandtrümmer des elterlichen Hauses ihm finster entgegenstarrten. Eiszapfen hingen in den leeren Fensterhöhlen; auf den versengten Ästen des alten Weidenbaumes vor der ehemaligen Tür trieben sich, wie sonst, krächzende Krähen umher. Das alles hatten die Franzosen getan. Zähneknirschend wandte Reemt seine Augen von dem schaurigen Zerstörungsbilde ab und sprach ein Haus weiter bei Ohm Ahlers vor.

Was er nur irgend wissen und nicht wissen wollte aus der Sankt Jürgener Dorschronik, das erfuhr er bei Ohms redseliger Frau. Vor allen Dingen, daß es den kleinen Wichtern im Bremer Waisenhause so gut gehe, wie noch nie in ihrem Leben bei Vater und Mutter. Und ob Reemt gehört habe, daß die Niederender Bollings wirklich ihre Stelle verkauft hätten und ausgewandert seien? Zuletzt kam die ganze Geschichte von dem »lichtfarigen« Redlefs-Wicht an die Reihe mit allerhand überflüssigen Nutzanwendungen. Reemt wußte genug, längst ehe der Bauer hereinkam und den nämlichen Teig noch einmal auf seine Manier knetete. Die Politik vermied Ahlers gänzlich. Seinen Horizont begrenzte das Dorf; seine Interessen gipfelten im alltäglichen Schlendrian und seinen Nörgeleien. Reemt geschah mit Ohms Enthaltsamkeit den weltbewegenden Fragen gegenüber ein Gefallen. Um keinen Preis hätte er aus seinem entwendeten Zeitungsblatte das Geringste mitgeteilt, ehe Domine Claudius es Wort für Wort gelesen.

Erquickt und durchwärmt verließ er abends sein heimisches Dorf mit dem Vorsatze, es ohne Zwang nicht wieder zu betreten. Das mitleidige Dunkel verbarg ihm die unheimliche Brandstätte, als er pfeilgeschwind an ihr vorüberglitt und dann zwischen den Bracken, in deren einer seines Vaters Leben geendet hatte, in gerader Richtung auf Sankt Jürgen zusteuerte. Sein einfacher Verstand erklärte ihm nicht, woran es lag, daß ihm jetzt ein unvermitteltes Wohlgefühl den Fuß beschwingte. Ganz unklar nur ahnte sein Instinkt die Rückwirkung deutscher Geburt und anerzeugte Triebe, aber eines empfand er so deutlich, wie den schneidigen Stahl unter seinen Sohlen: daß es nach der jüngsten, russischen Schreckenskunde für den deutschen Mann und Jüngling kein höheres Gut mehr auf Erden geben könne, als die Freiheit. Freiheit von allen einengenden Lebensfesseln, Freiheit, um zu jeder, auch der schwersten Erlösungstat Gut und Blut, ohne irdische Furcht und weltliche Reue, dahin geben zu können.

Indessen – herausbringen wollte er es doch, wie es kam, daß er von Gesche Redlefs los und ledig geworden war, ohne daß er selbst das geringste Wort zur Sache gesprochen hatte. Das bäuerische Rechtsgefühl in ihm forderte diese Erklärung. So sehr zerstreute ihn der ungewohnte Gedankenreichtum, daß er noch einmal den Weg zurücklief und sich dann eine Weile besann, welche Richtung er nun einschlagen mußte, um nach Sankt Jürgens zu gelangen. Endlich wies ihm der Mond, der einmal gerade hinter die bekannte Kirchturmspitze trat und sie schwarz hervorhob, die rechte Straße.

Schon längst spannte der Himmel sein sternbesäetes Zelt von Horizont zu Horizont, und der diamantengegürtete Orion stieg zwischen den nebelhaften Baumwipfeln des Hammedeiches hervor, zur silberflimmernden Milchstraße hinan, als der Schlittschuhläufer schurrend in die Inselbucht einfuhr. Am Röhricht schnallte er ab und gewann das eisgepanzerte Ufer.

Die Pastorei lag bereits dunkelnd und schlafend in ihrem buschigen Garten. Im Giebel des Küsterhauses jedoch hatte Reemt schon von weitem helles Licht schimmern sehen, sein junger Domine war also noch wach. Die Hochzeit hatte er hinter sich; warum sollte nun ein guter Freund nicht einsprechen dürfen?

So rüttelte er behutsam an der Haustürklinke, und die Küsterin, in Haube und Nachtjacke, ließ ihn ein.


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