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Viertes Kapitel.

In den grauen Wogen der drangvollen Zeit ging das Liebeswerben unter. Jener schöner Sonnentag im Oktober blieb für lange Wochen der letzte. Der Glücksstrahl, den er in die zwei jungen Herzen geworfen hatte, verdämmerte, und sein Abglanz schwebte ins Reich der Träume hinüber. So erschien er den beiden zuweilen wieder, als Trost in Anfechtung und Trübsal, als fernes Licht in den Nächten schlafloser Einsamkeit. Sie wurden einander treu, ohne jemals das geringste Liebeszeichen ausgetauscht zu haben. Christine begriff, daß sie für jetzt nur hoffen und harren, nicht wünschen dürfe, und fand in sich die Kraft, frisch und seelenruhig zu bleiben, den Stunden ihr karges Bestes abzugewinnen für die bekümmerten Eltern und den stillgeliebten Mann. Mit Sorge sah sie sein Gesicht täglich ernster werden, seine Augen sich tiefer und größer in ihre Höhlen zurückziehen. Sie dankte Gott für jedes Lächeln, das sie ihm entlockte, und stand mit heißen Wangen und kalten Händen am Fenster, wenn ihn eine Berufsfahrt länger aufhielt, als sie sich's, bei ihrer genauen Kenntnis der Entfernungen und Wetterverhältnisse, ausgerechnet hatte. War er dann unversehrt wieder da und trat in des Vaters Studierstube, um Bericht abzustatten, so begrüßte sie ihn mit holdester Freude. Und wie oft es ihn auch trieb, sie an sein Herz zu ziehen und von ihren Eltern für sich zu erbitten, er drängte das wachsende Verlangen zurück. Ja, wenn seine Sehnsucht nach ihrem Besitze ihm ein glückliches Ziel vorgaukeln wollte, so wies er es heftig von sich und wendete die Augen ab.

Er, der Geistliche, der taufte und traute, den Sterbetrost spendete und die Abgeschiedenen einsegnete, sah das Leben in all seinen Wandelungen. Er wußte, welch ein Wagnis jetzt die Gründung des eigenen Herdes bedeutete, den die Willkür des Despoten niederriß, wenn es ihm gefiel, und die Gründung einer Familie, die nicht deutsch werden durfte. Welch bange Zukunftsgedanken knüpften junge Gatten an ihre erste Hoffnung, Eltern an ihre heranwachsenden Kinder. Würden sie ihnen zur Ehre oder zur Schande groß werden? Noch litten sie nicht. Das Frostschütteln des Grausens war ihnen eine angenehm prickelnde Empfindung; sie spielten sich durch »Räuber und Soldaten« hierdurch zu vermeintlichen Heldentaten und wähnten schon ein Verständnis vom Weltkampf zu haben. Gebrach es ihnen an Butter zum Brote, so aßen sie's trocken, darbten wie Robinson auf der wüsten Insel und taten den Griff ins mütterliche Salzfaß nach dem Muster der französischen Beamten, die von der Notdurft des Hausstandes für die Tafeln der Herren im Lande requirierten. Sie rotteten sich zu geheimen Verbindungen zusammen und planten neue Legionenkämpfe im Teutoburger Walde, längst ehe die Eltern es wagten, von einem Aufraffen und Auftreten gegen den barbarischen Zwang zu reden.

Es ging noch kein Befreiungsahnen durch das deutsche Volk. Machtlos, mit gelähmten Gliedern, lag es am Boden und hielt die Augen geschlossen, um dem Greuel der Bedrückung nicht ins höhnische Antlitz sehen zu müssen. Wohin man sich wendete, grinste der Mangel bis zur bittersten Not; krochen Feigheit und Käuflichkeit bis zur schmählichsten Lüge. Zucht und Sitte verdarben, weil Zucht und Sitte bei den Franzosen niedrig im Preise standen, und Frankreich machte die Preise. In den Schulen wurden die deutschen Heimatlaute unflätig gescholten und die welschen Floskeln dafür eingeführt, deren zierlichere Worte Schmach und Elend mit unechten Goldtressen aufputzten. Die Präfekten zogen des Landes vornehmste Kräfte mit den feilsten zusammen in ihren Dienst und zwangen sie, den Gesetzen des Tyrannen zu huldigen und sie zu vollstrecken als seien sie ihre eigene, rechtliche Überzeugung.

Wer sich dagegen sträubte, der fiel, und die Seinigen fielen mit ihm. Den Mut einer eigenen Meinung zu besitzen und zu bekennen, war gleichbedeutend mit Gefängnis, Verarmung oder schimpflichem Tode. Die Landeszeitungen brachten, neben den französischen Lobhudeleien und Kothurnkünsten, in schwülstigem Deutsch die Übertragung dieses Gemisches von Anwiderndem und Bombastischem, und die Zensoren verschwiegen, änderten, strichen und setzten hinzu, bis das Bestehende ein formlos zerfließender Schemen geworden war. Keine Hand vermochte diesen Schemen zu packen, kein noch so guter Wille ihn zu lebensfähiger und greifbarer Körperlichkeit zu verdichten, kein Seufzer ihm eine Seele einzuhauchen.

»Was ist Wahrheit? Wo lebt Gerechtigkeit?« fragte man sich. »Wozu hat der Schöpfer seinen vollkommensten Geschöpfen das aufrecht getragene Haupt mit dem Denkvermögen verliehen? Wozu Urteil und Gewissen in seine Seele gesenkt, Kraft zum Dräuen und Wehren in seinen Arm gepflanzt?« Wessen Hand hatte dem Schöpfer ins Regiment gepfuscht und Tausende von edler Art in willenlose Automaten verwandelt? Wer war dieser Furchtbare, dem sich alles beugte, dieser Unheimliche, dem alles glückte? Ein kleiner, bleicher Mann mit feinem, wortkargen Munde und zwingenden Augen unter dem Dreispitz: Abbadon, der Engel aus dem Abgrund. Finsterer Aberglaube, nebelhafte Mystik nisteten sich im Volke ein. In der abendlichen Andacht mit Weib und Kind, Knecht und Magd las der Hausvater nicht mehr die schlichte Bergpredigt, die faßlichen Geheimnisse, die klaren und milden Lehren der Evangelien und Episteln, sondern er griff zu Hiobs Leiden und Jeremiä Klagen; zu Psalmisten und Propheten und zu den feurigen Bildern, den schreckensvollen Rätseln der Offenbarung.

Und wie in den Häusern, so in den Kirchen. Der gemeine Mann wollte seine eigene Not gepredigt haben und von den Strafen hören, die er seinen Quälern angelobte – mit der Faust in der Tasche.

Im Lichte des Tages hütete man sich. Im Dunkeln aber griff allerlei entwürdigende Hantierung um sich, die aus dem Ehrlichen einen Schuft vor dem Gesetze machte. Handel und Gewerbe lagen gänzlich danieder, Zoll, Kontributionen und unablässiges Einziehen neuer Soldatenmassen für des Kaisers große Armee im europäischen Norden machten die Betroffenen beben in fruchtlosem Grimme. Allein sie zwangen den Grimm, daß er ihnen Frucht trug – verbotene, mit Lebensgefahr zu ernten und zu genießen.

Schleichhandel und Desertion hießen die bösen Früchte, die der Grimm mit der Not zeugte. Sie wucherten üppig in den Departements der Elb- und Wesermündungen, die den Weg ins grenzenlose Meer öffnen. Deren Dünenzüge und gefährliche Moore, Heidestrecken und verstreute Gehöfte waren den Paschern und Flüchtlingen günstig, den Verfolgern wurden sie oft genug verhängnisvoll. In andrer Weise gab sich dies Flachland so wie vor wenig Jahren die Tiroler Berge zur Zeit des Aufstandes unter Hofers Führung. Dort Lawinen, hier Sandflug, dort reißende Wildbäche mit tosenden Wassern, hier übergrünte, tückisch schweigende Sümpfe, die gar manchen irregegangenen Douanier in ihre schlammigen Tiefen niederzogen. Dort Schwindelpfade an Abgründen hin, hier unabsehbare Wasserstrecken, deren glatter Spiegel ein Labyrinth von Kanälen zwischen seichten Wiesen verbarg. Wochenlang trieb der Spiegel in Eisschollen; dann schoben sie sich zusammen, und der Schnee überwehte sie; unterirdische Strömungen rissen klaffende Spalten von Ufer zu Ufer durch die gefrorene Fläche hin. Nur solche vermochten ihren Pfad zu finden, die jeden Fußbreit der Gemarkung kannten und Schiff und Schlittschuh als Meister lenkten, oder solche, denen ihr Leben nicht mehr galt als ein Würfelspiel zwischen ihnen und den getäuschten Behörden. Waren wurden vom englischen Helgoland hereingebracht, Briefe und Schriften durch die unwirtbarsten Strecken nach Dorf und Stadt geschmuggelt; in Weiberkleidern machten sich die Militärpflichtigen davon. Die Patrouillen wurden gefoppt und bedroht, überlistet und bestochen, und sollte der Schuldige aufgetrieben werden, so verschlang ihn das weite öde Land. Morastige Rohrfelder bargen ihn, das wirre Unterholz der wildreichen ›Büsche‹, die Hünengräber der Heide beschützten ihn, und der Stahlschuh unter der Sohle gab seinen fliehenden Tritten Schwingen.

Das kaltblütige und widerhaarige Bauernvolk leistete diesem unbotmäßigen Treiben Vorschub, wo es konnte, mit wenig Worten und zäher Energie. Väter halfen ihren Söhnen selber fort, und die schlau-besonnenen Jungen aus dem Torfmoor drückten sich in zahllosen Fällen glücklich durch, bis sie, trotz Blockade und Sperre, französischer Polizei und deutscher Spürhunde, das geknechtete Vaterland im Rücken und vor sich das freie Meer hatten. Die neutralen Briten halfen den Stammverwandten, und da draußen, zwischen dem westlichen und dem östlichen Indien, flatterte das heimische, rotweiße Wimpel nach wie vor furchtlos im frischen Seewinde und wollte nichts von der kaiserlichen Trikolore wissen. »Die Republik Bremen hoch und die Hoffnung hoch!« sprachen die stämmigen Bauernsöhne und fuhren hin und wieder unter Sturm und blauem Himmel, und wenn sie an ihr Vaterland dachten, so sahen sie es im Geiste fruchtbar und frei vor sich liegen. Sie waren selbst frei: die Sklavenangst verging ihnen droben im Mastkorbe.

Bei den Eltern und Freunden, daheim auf dem platten Lande, sank die Hoffnung und der Trotz wuchs. Die Konskription forderte ihre Opfer unerbittlich nach der Liste, und die Liste zeigte Lücke auf Lücke. Nun kamen Geldbuße, Gefängnis, Exekution, oder der Straffällige ward, weit über sein Können und Vermögen, mit Einquartierung belegt. Die Soldaten, übermütig und brutal, trugen Armut, Erbitterung und Jugendverderbnis mit ihren Uniformen und rasselnden Säbeln zusammen in die patriarchalischen Heimstätten.

Umsonst erließen sie jetzt Aufrufe den Entflohenen nach, die Gepeinigten. Auf unermeßlichem Wege vermochte das Flehen der Eltern die Söhne nicht zu erreichen. So kam mancher brave Mann, der unter dem unerträglichen Druck der Verhältnisse gefehlt hatte, mit Weib und Kind an den Bettel und ging mit dem weißen Stabe von seinem eingeäscherten Hofe fort, ins Ungewisse hinaus.

Zu all dem Elend die französischen Siegeskunden und die hohnvollen Veröffentlichungen russischer Proklamationen. Kaiser Alexanders Appell an das goldene Moskau, seine erste Hauptstadt, ehe sie in rauchenden Schutt verwandelt war, General Wittgensteins männlich-schlichter Rapport über die Kämpfe an der Düna, Prinz Georg von Holsteins warmer Aufruf an den Adel Rußlands: alle drei Dokumente nur abgedruckt, um mit ätzender Satire beträufelt zu werden, um dem Pöbel zu zeigen, wie ohnmächtig, trotz guten Willens und aufgewandter Kräfte, der tölpelhafte Verzehrer des Wutki und der Talgkerzen gegen die göttergleiche Streitmacht Bonapartes sei. Wenig Tage später setzte die Reihenfolge der erbitterten Drohungen des moskowitischen Gouverneurs Rostopschin, mit beißenden Randbemerkungen versehen, dem Verspottungswerk der Presse seine Krone auf.

Mit stummem Entsetzen las man von der patriotischen Barbarei Rostopschins, der seine Helfershelfer aus der Hefe des Volkes, dem Abschaum der Menschheit gedungen und dann gesprochen hatte: »Besser alles vernichten, was mir teuer ist, als es den unerbittlichen und unersättlichen Feinden preisgeben.« Lag nicht doch ein gewaltiger Heldenmut in der Barbarei?

In ihrer blinden Aufgeblasenheit sagten sich die welschen Prahler nicht, wie sehr diese frech glossierten Worte des nordischen Scaevola durch die gefesselten deutschen Herzen zitterten, ein starkes Echo darin weckten und die ersten, fernen Klänge des Freiheitsrufes hineintönen ließen.

Jedoch die schwachen Klänge vertönten nur allzurasch wieder. Des Triumphators Glorie schien in den Zenit zu steigen, die Sonne von Austerlitz auch die russische Steppe zu überstrahlen. Tändelnde Nachrichten, die dem schauerlichen Ernste des Krieges das Ansehen eines lustigen Kinderspiels zu geben suchten, machten die Zeitungsleser abermals stutzig und mißtrauisch. Dieser Korse mußte wahrlich etwas anderes sein, als der Sohn eines sterblichen Weibes. Gemahnte er nicht an die lernäische Hydra, deren neun Häupter sich immer von frischem aus sich selbst erneuten? Ach, kein Herkules kam und wälzte den tötenden Felsblock auf die Schlange und schleuderte ihr Feuerbrände entgegen! Der täppische Bär Rußland hatte vom Heroen anscheinend nichts in sich, und die deutsche Cheruskerkraft verzettelte sich, unter dem Joche keuchend. Trauerte sie in der kalten Steppe wie die Juden an den Wassern zu Babylon? Oder ließ sie sich entsittlichen von den Sittenlosen?

»Die Armee erholt sich von ihren Fatiguen,« meldete das zweiundzwanzigste Bulletin aus Moskau und brachte den Zusatz, daß die Witterung vortrefflich, die Privatbriefe vom angenehmsten Inhalt seien. »Der französische Soldat bedarf nur einen Augenblick Ruhe und Genuß, um alle Mühseligkeiten und Entbehrungen zu vergessen. Die Einwohner von Moskau sind erstaunt darüber, zu sehen, wie diese, gleichsam durch einen Zauber in ihre Mitte versetzten Krieger, sich gar nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, die Gegenwart froh genießen und die Zukunft bloß in ihren Beziehungen mit der Ehre und der Pflicht betrachten.«

Anderen Tages offiziöse Berichte aus Sankt Petersburg, die französischen Siege leugnend, und bald darauf ein nüchterner Gegenartikel aus englischer Feder mit der Mahnung, den russischen Gerüchten von den Schlappen der großen Armee nicht leichtblütig zu trauen. In derselben Zeitungsnummer die Schilderung des Schreckens, den die fälschliche Nachricht vom Tode des Kaisers in Paris hervorgebracht hatte. Die Verbreiter dieser Unwahrheit, drei Generale, waren festgenommen worden und sahen strenger Bestrafung entgegen.

Ein solches Gerücht und aus Militärkreisen stammend! Zeigte sich schon, auf dem düsteren Hintergrunde dieser furchtbaren Zeit, die gespenstische Hand, um in feurigen Lettern des Franzosenkaisers Menetekel zu schreiben?

»De Düvel geiht d'r doch nich dodt!« sagten die Bauern im Sankt Jürgensland und besuchten allesamt die Inselkirche, solange es noch freien Weg dort hinaus gab, weil Domine Claudius ihnen das Schriftwort genau so mundrecht machte, wie einen guten, steifen Grog in der Winterkälte. Er schürte nicht mehr mit Hetzreden wie im Verlaufe seiner ersten Predigt, aber unbewußt tat er's in der zweiten mit den Flammen seiner Augen und der Heftigkeit seiner Gebärden. Die Antrittspredigt haftete im guten Gedächtnis der Bauernschädel, und das, was Domine Claudius Sonntags darauf sprach, legten sie sich nach dem Schema seiner vorherigen Schrifterklärung zurecht. Er hatte das winzige Senfkorn in den steinigen Acker gesäet; zwar keimte es unerhört langsam und wartete gemächlich auf den Lenzhauch, um hervorzubrechen, aber es keimte doch, und das war die Hauptsache.

Leberechts erfahrener Senior, der zum Müßigsitzen zwischen seinen Wolldecken und Büchern verdammt war, lobte des Jüngeren verständige Einsicht, nachdem er sich von seiner Frau Text und Einteilung der zweiten Predigt erbeten hatte. Er erging sich in guten Ratschlägen und wollte das Wort Gottes vom Zepter weiser Diplomatie beherrscht wissen. Leberecht hörte respektvoll an, was der alte Herr ihm riet; er gab es seit jenem ersten, gemeinsamen Mittagsmahle in der Pastorei auf, sein junges Eichenreis auf den bemoosten, friedlichen Obstbaum pfropfen zu wollen. Allein der Kämpfer lag ihm zu tief im Blute. Nicht umsonst war sein Vater unter den Fahnen des großen Friedrich Soldat gewesen und hatte den einzigen Sohn mit Kriegsgeschichten gespeist und getränkt, bis dieser, die letzten Bitten seiner sanften und heißgeliebten Mutter heilig achtend, die Theologie zum Studium erwählte.

Diese Jugenderinnerungen bedrängten seine Gedanken mehr und mehr und schauten ihn, den Grübler, aus funkelnden Augen an. Konnte man den Vulkan zum Eisberge umschaffen, der sich schwerfällig von den hohen Wogen wälzen läßt? Nimmermehr! Unmöglich! Dem Vulkan blieb sein Feuerkern im Innern. Asche auf die Flammen, zurückgedämmt die kochende Lava, bis das gewaltige Erdbeben die Welt aus den Fugen hob, den Glutstrom emporriß und, mit anderen Schrecknissen vereint, zu Tal schickte, der Vermessenheit zur Züchtigung!

Aber das gewaltige Erdbeben kam nicht, um Frankreichs übermütigen Ruhm zu zerstören, wie es einst das schwelgerische Sodom, das sündenvolle Gomorra zerstört hatte.

Leberecht hielt mühsam an sich. Er wartete; er verbarg den Zustand seines Gemütes unter Aufbietung aller seiner Kräfte und rieb sich auf dabei. Mit nagendem Leid erfüllte es Christine, daß er sein innerstes Leben mehr und mehr von dem ihrer Eltern trennte und auch von ihrem eignen Leben; denn war das nicht verwachsen mit dem elterlichen? Ihre ersten schlaflosen Nächte lernte sie durch diesen Gram kennen; mit heißen Tränen suchte sie im Schatz ihrer heimlichen Liebe, im stillen Quell ihrer jungfräulichen Demut nach dem Heilmittel für Leberechts Krankheit und sie fand keines. Hätte sie sich selbst für ihn hingeben dürfen, wie freudig würde sie's getan haben, aber er kehrte seine Augen ab von ihr und begehrte weder sie, noch ihr Opfer. Und all dies Hangen und Bangen drängte sich in drei kurze Wochen zusammen.

Dieser gerade, rein und mutig denkende Mann führte ein qualvolles Scheinleben. Dem Äußeren, Augenfälligen nach war er ein mustergültiger Seelsorger. Er gestaltete sich einen förmlichen Kultus aus der Übung seines Berufes, allein es war nicht mehr die Liebe zum Beruf, die ihn trieb. Die zitternde Furcht trieb ihn, die Furcht vor dem Abtrünnigwerden, und sie glich dem Todesgrauen eines rettungslos Verlorenen. Denn trotz Nachtwache und Gebet, trotz Lebensbrot und Abendmahlswein fühlte er den Priester in sich unaufhaltsam sterben und den weltlichen Streiter unter Ängsten und Schmerzen sich zum Leben durchringen.

Als er zu seiner dritten Predigt die Kanzel betrat, spürte er ihren Boden so morsch unter seinen Füßen, daß ihn körperliche Ohnmacht infolge des seelischen Zwanges anwandelte. Christine gewahrte es von ihrem Platze an der Orgel aus und empfand, was es ihn kostete, das Gleichnis vom Schalksknecht auszulegen, der in die Pein geworfen ward, weil er sich seines schuldigen Mitknechtes nicht erbarmte. Er selbst war ja der schuldige Mitknecht.

Aus ihres Herzens Fülle betete die Liebende für ihn, aber die Hilfe ihres Gebetes verzog noch. Den Ausdruck leidenschaftlichen Widerspruchs in allen Zügen, so beendete er seine Predigt. Sündhaft und immer sündhafter erklangen ihm aus seinem Munde die verordneten Friedens- und Versöhnungsworte der Schrift. In ihm schrie es nur: »Haß!« »Vergeltung!« »Blutige Rache!« Ohne Unterlaß rang er mit dieser Lüge, die seine Selbstachtung zu Boden warf, seine Tage vergiftete. Wohl brachte ihm die Ermattung am Abend dieses Sonntags eine Art von Resignation: er versuchte es mit dem Philosophieren, das aber vermehrte seine Not.

»Ich will es einmal wagen, meine unwürdigen Tritte in des Heilands Fußstapfen zu setzen und gute Werke zu tun,« sagte er sich, als die lange, traurige Nacht dem Morgen wich, und dann dankte er Gott, daß ein großes und schweres Arbeitsfeld in dieser Einöde vor ihm lag.


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