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Dieser traurigen Nacht folgten trübe Tage, während welcher Leberecht das Zimmer nicht verließ und niemanden sehen und sprechen wollte außer Christine. Kirchgänger stellten sich nicht ein. Draußen wütete das Unwetter und trieb den Schnee in Wolken vor sich her; klirrend rüttelte der feuchte Wind an den Scheiben und packte mit wilder Gewalt den vorspringenden Giebel. Fast den ganzen Tag lang saß der Leidende auf dem Söller am Fenster, seinen Kopf gegen den Mauervorsprung zurückgelehnt; schwermütig in das weiße Gewirbel hinausschauend. Seine zerfahrenen Gedanken vermochte er nicht zu sammeln und zu ordnen und er machte auch gar keinen Versuch dazu. Unablässig sah er die endlosen Truppenzüge der vernichteten, großen Armee an seinem Geiste vorüberschleichen, Greise, Weiber, Kinder in ihrem Gefolge, Vögel mit schwarzen Fittichen hinterdrein, huschende Kosakenhorden am Horizonte. Ohne Laut schleppte die Schreckenskarawane sich dahin, durch tiefen Schnee, unter bleigrauem Himmel. Es war wie eine ungeheure Wandeldekoration, und die Wasserfläche rings um das Inselchen wurde zur schollentreibenden Beresina: nirgends eine Brücke; nirgends ein sicherer Übergang für den Zug des Todes. Wenn dann die Stunde des Abendrots kam, und dieses in düsierem Feuer über den Baumwipfeln des Ritterhuder Deiches siand, dann begann sein Herz wild zu schlagen: das Blut von Tausenden meinte er, mit dem Blute des Einen, Verhaßten zugleich, über den Schnee dahinströmen zu sehen.
»Christine!« rief er oftmals wie ein jählings aus dem Schlafe Emporschreckender. Wenn sie dann herzueilte, sank sein Kopf willenlos gegen ihre Schulter, und sie fühlte seine Hände eiskalt in den ihrigen werden. Nun ließ er sie nicht mehr von sich bis zur Schlafenszeit; seine gärenden Gefühle steigerten sich in glutvolle Zärtlichkeit hinauf, die sie quälte und erschütterte, die ganzen Nächte hindurch mußte das Licht hinter dem heiter-bunten Schirme brennen. Nur kein Dunkel. Der Vorrat an Wachskerzen ging mit der Woche zu Ende.
Christine ängstigte sich mit viel heimlichen Tränen über ihres Mannes Zustand. Allein die Hausmittelchen der Pastorei zog sie gar nicht zu Rate; dies war kein Leiden für Opodeldok, Réglisse oder Kamillentee. Ja, sie hielt sogar den teilnehmenden Besuch der Mutter von Leberecht fern und lief in die Diele hinunter, wenn sie die kleine Frauengestalt, in Schal und Kapuze gehüllt, aus der Gartenpforte treten sah. Nur der heilenden Zeit und ihrer eigenen Liebeskraft vertraute sie.
Zeitungen kamen nicht, und Leberecht tat auch keine Frage danach. Seine gute Natur besiegte im übrigen den bösen Ansturm ebenso rasch, wie sich draußen das böse Wetter vertobte.
Schon am folgenden Sonntage stand er, äußerlich ganz und gar der alte, wieder auf der Kanzel vor seiner Gemeinde, und die Pastorin sprach sich nach dem Gottesdienste gegen ihre Tochter entzückt über die eben gehörte Predigt aus.
»Das war einmal schön geredet, maßvoll, verständlich!« Christine antwortete ausweichend: sie hatte sich mit schmerzlichem Erschrecken die große, innere Veränderung klar machen müssen, die mit ihrem Manne vorgegangen war. Seine Predigt zeigte ein völlig fremdes Gesicht. Trocken und knapp gefaßt, hielt sie sich streng an den ihr zugewiesenen Text, der vom Jesusknaben unter den Schriftgelehrten des jüdischen Tempels erzählte. Rein menschlich legte der Redende ihn aus und wendete ihn aufs schlichte Alltagsleben an. Als ihm ein einziges Mal eine Anspielung auf die Zeitereignisse unversehens mit unterlief, warf er sie schroff und gewaltsam, wie einen stürzenden Felsblock, in den ruhigen Fluß seiner Worte und stieß sie wieder aus, ohne sie mit dem geringsten Strahle der Erklärung zu beleuchten. Dann gewahrten seine scharfen Augen mit einer seltsamen Mischung von Ingrimm und Genugtuung, daß die Bauernköpfe jetzt schläfrig nickten, wie vordem bei des alten Domine Predigten.
Der Pflicht seiner Seelsorge kam er peinlich nach, weder Wind noch Wetter scheuend. Klagten die Leute ihm über die schlimmen Zeiten, dann hielt er ihnen entgegen:
»Habt ihr's so lange gelassen ertragen, so ertragt es weiter, bis andre den Wagen für euch aus dem Schlamm heben.«
»Da könt wi doch ok sülwst dhon, Domine,« meinte dieser und jener und richtete seine prüfenden, verwunderten Augen auf den Geistlichen, der sonst immer von Dreinschlagen und Abschütteln geredet hatte. Auf seine Antwort:
»So tut es selber und redet nicht viel vorher davon,« standen sie breitspurig auf ihren Türschwellen, schauten ihm kopfnickend nach und brummten vor sich hin:
»W'rafftigen Gott, recht hett de Mann! Je jo! De Mann hett gans recht: man blot: ick mag nich anfangen.«
Da lag der Hase im Pfeffer. Dierking schob den ersten Handstreich auf Bartels, und Bartels steckte beide Fäuste in die Hosentaschen, schlurrte über den wippenden Steg zu Ahlers hinüber und sagte:
»Ahlers, use Domine de seggt: wie schölt dat sülwst mit de Reveluschon in Gang bringen, du büst'n Vullbuur, du mußt dat dickste Enn' afsnieen.«
»Nä,« erwiderte Ahlers gelassen, »ick heww noch Drög' un Natt genog in' Huus; ick will mi woahren mit joe Reveluschon, dat de franschen Kärls mi allens wegnehmen.«
Auf diese Weise kam es zu nichts über dem Besinnen und dem Hin und Her. Leberecht gab seine Gemeindeglieder auf. Die gewaltige Zukunft selbst mochte sein menschliches Stümperwerk in die Hand nehmen und den schweren Torf zu Flammen schüren.
Auch ins Teufelsmoor ging er nicht. Sein dortiger Amtsbruder hatte durch irgendeinen unberufenen Mund Wind von Harm Finkes Vorschlägen bekommen und verwahrte sich dem Sankt Jürgener Kollegen gegenüber in gereizten Ausdrücken seiner Rechte, die noch keine Hand angetastet hatte. Man müsse mit dem Volkscharakter rechnen: der Moorbauer sei nicht dazu berufen, das Panier der Erhebung voran zu tragen; es sei des Druckes seiner trübseligen Umgebung, seiner ungünstigen Lebensbedingungen von Natur aus viel zu sehr gewöhnt, schrieb er unter anderm. Die lebhafteren Geestleute, die reichen, kräftigen Marschsassen seien solchem Wagnis zugänglicher. Er in seiner lieben Gemeinde wünsche den Frieden aufrecht zu halten und den Übergang in andre Verhältnisse sich möglichst ruhig vollziehen zu lassen, falls es des Herrn Wille sei, abermals ein andres Regiment einzusetzen.
»Du wärest meinem Schwiegervater ein besserer Sohn gewesen, als ich,« dachte Leberecht, als er den langatmigen Brief durchlas. Harm Finkes Sohn mahnte ihn auch noch einmal im Namen des Alten: er möge dennoch kommen und seine Predigt insgeheim in kleinem Kreise halten; er aber blieb bei seiner Weigerung. Auch jetzt stemmte er sich scheinbar der Zeitströmung entgegen. Da draußen in der unruhigen Welt redete man lauter und lauter von Freiheit und Mutfassen; er saß tatenlos zwischen den Wassern auf seiner Insel: ein Trotziger – ein Träumer.
Christinens Seele durchzitterte das Mitleid. Sie lebte nur für ihn. Jeden Tag an seiner Seite kaufte sie aus, vorsichtig, mit Furcht und Zittern, wie sie's ihm einst ausgesprochen. Denn seiner unnatürlichen Ruhe gegenüber befiel sie oft und oft der Gedanke: er möge eines Tages von ihr gehen, wie in grauen Zeiten der Schwanenritter von der Herzogin zu Brabant, wenn sie ihn unbedacht fragen würde: »Was sinnst du? Was bereitet sich vor in dir?« An seiner Erschlaffung reifte und erstarkte sie aus dem weichen Mädchengemüte zum klaren und schönen Frauencharakter.
Besonders fiel es ihr auf, daß er seine theologischen Werke nie mehr zu Rate zog, wenn er arbeitend am Schreibtische saß. Sein gewohntes Buchzeichen, ein abgebrochenes Falzbein aus Knabentagen, lag immer nur in der Bibel an irgendeiner mystischen Stelle der Apokalypse oder dem schneidenden zehnten Kapitel des Ebräerbriefes: »Denn wir wissen Den, der da sagt: Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der Herr, und abermal: der Herr wird sein Volk richten. – Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. – Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. – Denn noch über eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll und nicht verziehen. – Der Gerechte aber wird des Glaubens leben. Wer aber weichen wird, an dem wird meine Seele keinen Gefallen haben.«
Über diesen Stellen brütete er wieder und wieder, und mit beklemmender Sorge pflegte Christine den starren Ausdruck seiner sonst so sprechenden Züge zu beobachten, während sie nähte oder mit leisem Fußtritte an ihrem zierlichen Rade spann.
Tagaus, tagein blieb es so; endlich vermochte sie's nicht mehr schweigend zu ertragen. Eines Abends gegen Ende Januar, als er seinen Predigtentwurf mit unwilliger Geste beiseite schob und abermals die Bibel an der Stelle aufschlug, die das zerbrochene Falzbein bezeichnete, trat Christine sacht hinter seinen Stuhl, bog seinen Kopf gegen ihre Brust zurück und las über seine Schultern hinweg den Vers, auf den ihr Auge eben fiel:
»›Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.‹ – Das redest du dir unablässig vor, und begehst ein großes Unrecht damit? Geliebter, was hast du mir heilig zugesagt? Weshalb grämst du dich allein? Hast du dein Wort vergessen, daß deine Frau die Hälfte deines Ichs ist und daß nur dem ganzen Ich sein Streben ganz gelingt?«
Er schloß seine Hände um die ihren, und ein bitteres Lächeln zog seine Mundwinkel abwärts. »Du junge Weisheit von achtzehn Jahren, du hast gut reden. Streben? Was sprichst du mir von Streben, Christine? Ich habe mein Wort vom halben Ich nicht vergessen und du hoffentlich das Gleichnis von der Ebene nicht. Das ist's: ich pflüge Sand und murre wider mein Joch und reibe mich damit auf, in diesem kläglichen Halblichte den Sümpfen auszuweichen. Solange ich hier auf der Insula perdita sitzen und mein unverdientes Brot essen muß, ist es nichts mit allem Streben.«
Sie stand minutenlang ohne Bewegung und sah gerade vor sich gegen das Fenster hin. Ihre Augen wurden groß und feucht, ihr lieblicher Mund jedoch nahm einen Zug an, der sie plötzlich Volkmar zum Verwechseln gleich sehen machte. Nach einem Weilchen kniete sie neben ihrem Manne nieder und umfaßte ihn: »Leberecht, du weißt, wie ich an der Insula perdita mit allen Fasern hänge. Aber laß uns fort von hier ziehen. Wo wir auch sein mögen; bei dir ist meine Heimat. Nur werde wieder glücklich!«
»Ich wäre ein schöner Mann, wenn ich, ohne härtesten Kampf gegen mich selbst, ein solches Opfer von dir annähme, Christine,« erwiderte er ernst, hob sie empor und zog sie auf seine Knie.
»Du kämpfst schon so hart und so lange; laß es genug damit sein,« sagte sie. »Dieser Zustand ist für uns beide unerträglich!«
Er schüttelte den Kopf. »Armes Kind, was du mit deinem weichen Herzen Kampf nennst, ist nur ein Hin- und Herschwanken,« entgegnete er. »Das Kämpfen beginnt erst, wenn ich's klar weiß, von welcher Himmelsrichtung aus der Wind mich menschliches Schilfrohr im Sumpfe packen und werfen will.« Er wehrte das finstere Bild mit der Hand von sich ab und preßte die Gestalt seines jungen Weibes eng an sich. »Vergib mir, liebstes Leben, all' meine Unterlassungssünden der letzten Wochen. Ich bin ein grausamer Egoist geworden und du hast's wahrlich nicht um mich verdient. Es soll wieder anders werden: komm, laß uns den ewigen Bücherwust und das ewige Spinnrad fortschieben und einmal wieder Brautleute sein und dämmern. Willst du, Christine?«
Ob sie wollte!?
Solch eine warme, frische Jugend läßt sich nur zu leicht und gern durch eine vollgenossene Zärtlichkeitsstunde über alles Ungemach, das bestehende und das drohende, hinwegtäuschen. Christinens Paradiesgarten stahl vom hellen Abendrot da draußen am Himmel für seine neuen Knospen. Mit Leberecht war's anders. Ein fruchtloser Aufschwungsversuch des Vogels mit gestutzten Flügeln.
Aber die Schwingen sollten dem Vogel wieder wachsen über Nacht.
Der Januar ging zu Ende. Das beständige Schwanken der Witterung hatte den Botendienst zwischen Stadt und Land fast unmöglich gemacht: die Zeitungen kamen spärlich und arg verspätet. Was sie brachten, war ein Wirrwarr von Widersprüchen, die den besonnenen Lesern baldige Auflösung bestehender Zustände nach einer oder der andern Seite hin prophezeiten. Die Optimisten sahen in der Ausführlichkeit und Strenge, womit die » Affaire Malet-Frochot« behandelt wurde, den sichersten Beweis dafür, daß der große Kaiser wirklichen Grund habe, sich seines Lebens nach den russischen Mißerfolgen nicht mehr sicher zu fühlen. Weshalb sonst nachträglich noch soviel Aufhebens von der fälschlichen Verbreitung seiner Todesnachricht durch den exaltierten Grafen Frochot? Weshalb sonst diese energische Betonung von des Kaisers Gesundheit und feldherrlicher Schärfe bei der Truppenrevue, und die immer wiederholte Ankündigung kolossaler Heeresmassen, die Berlin passieren und zur Grande armée stoßen würden; man fing an, die Zeitungen mit allerhand spielerischen Hofgeschichtchen, kleinlichem Fürstenskandal, witzig sein sollenden Entgegnungen auf die Warnungstafel der »Times« auszufüllen.
»Wie könnt ihr euch einer solch blinden Zuversicht hingeben?« warnten die Pessimisten. »Danzig, Marienburg, Thorn in Belagerungszustand, – fühlt ihr da nicht den alten, harten Druck? Der Graf Narbonne, des Kaisers Generaladjutant, hat mit dem Könige von Preußen in Berlin gespeist und ein vertrauliches Schreiben seines Monarchen an den Herrscher-Vasallen überreicht. Das soll die gespannte Stimmung von einem zum andern bedeuten? Weit gefehlt! Lest doch weiter: der preußische König gibt den Tagesbefehl aus, daß jeder Soldat, den man ohne Urlaub auf dem linken Weichselufer antrifft, als Deserteur behandelt und standrechtlich erschossen werden würde.«
»Und Hunderte desertieren ungestraft in Nacht und Nebel!« lachten die Optimisten.
Am zwanzigsten Januar erhielt Domine Torbeeken, zugleich mit der amtlichen Bewilligung seines Emeritierungsgesuches, auch die Departementszeitung vom siebzehnten durch den Stadtboten zugestellt. Er schickte sofort in die Küsterei nach seinem Schwiegersöhne.
»Sei einmal wieder warm oder kalt, mein guter Sohn,« sagte er bewegt und streckte dem Eintretenden, der ein seltener Gast in seinem Studierstübchen geworden war, seine zittrige Hand entgegen. »Wirf die leidige Lauheit und Zurückhaltung über Bord, das ist doch nichts als fremder Ballast; ich will mich besser in dich hineinzufinden suchen. Du komm' mir nun auch entgegen: teile wie einst mit dem Alten, der seit heute nur noch ein abgedankter Radnagel ist und nichts mehr hat und will, als seine Lieben und seinen Hausfrieden. Nein, das Schreiben haben wir ja lange kommen sehen; das nur so nebenbei,« fügte er hinzu, als Leberecht den amtlichen Brief zur Hand nehmen wollte, »einstweilen hat man dich noch bis nach den Ostertagen mit meiner Vertretung beauftragt, und sieht meinen und deinen Äußerungen entgegen. Aber nun sage mir, was du von den Nachrichten hier aus den zuverlässigsten englischen Blättern hältst?«
»Die Angelegenheiten Napoleons,« so meldete die Times vom zweiten Januar, »sind, wie Er selbst, in den letzten Zügen, und man hat Ursache zu glauben, daß Ereignisse von großer Wichtigkeit ehester Tage in Frankreich geschehen werden; wenn sie nicht schon vorgefallen sind.« Unter dieser Timesnotiz Anmerkungen des französischen Moniteurs von geradezu verblüffender Lahmheit.
»Hier möchte ich die verfrühten Hoffnungen dämpfen, die ich in Ihren Augen lese, bester Vater,« meinte Leberecht. »Ich habe keinen Seherblick; aber von England verspreche ich mir nichts. Daß seine Seeleute mit den unsrigen beim Schmuggel gemeinsame Sache machen und die reichen Wurster Hausmannssöhne dazu, das halt' ich für den Zusammenfluß verwandter Nationalzüge, die, abgesehen von aller Politik, sich anlocken, nun die Gelegenheit so günstig ist: Kühnheit, Piratentum, Geldstolz und -gier, Prunken mit der gelobten Unabhängigkeit und dem geliebten Reichtum, vor allem aber denen eine Nase drehen, die der Unabhängigkeit drohen und nach dem Gelde die Hand aussirecken – da liegt's. England als Staatskörper gibt seine anfechtbare Neutralität so leicht nicht auf, um uns elenden Franzosenknechten mit mehr als bloßen Worten beizuspringen. Aber lassen Sie nur einmal einen deutschen Mann, der etwas gilt, offen hintreten und sprechen: ›Nun ist's genug mit deiner Halbgottsmacht, Bonaparte; ich tue nach meinem Kopfe und meinem Gewissen!‹ Ja, dann will ich die Hoffnung wieder ins Treiben bringen, und mit zwiefacher Bodenwärme; – eher nicht. Es ist für uns alle gut, daß ich sie für jetzt zugedeckt halte, denken Sie an Ihre eigenen Bitten und Warnungen nach dem neunundzwanzigsten Bulletin.«
Der alte Mann nahm die Hand des jungen zwischen seine beiden und blickte ihn an mit einem schönen Lächeln in seinen ruhigen, durchgeistigten Zügen. »Jeder junge Heißsporn hat doch ein wenig vom Bühnenhelden an sich und spielt vor sich selber Komödie,« sagte er. »Denkst du, ich ließe mir's von dir einreden, lieber Sohn, daß mein siebzigjähriger Mut in Wahrheit stärker sei, als dein sechsundzwanzigjähriger? Ich habe dir's, nach deinem eigenen Willen, nie sagen dürfen, wie mir das Verständnis für dich erst aufgegangen ist bei deinem,Hier stehe ich, ich kann nicht anders'. Langsam hab' ich gelernt, dich zu lesen, aber nun hast du dich mir auch eingeprägt, und es tut mir gut, daß du mir heute diese ruhige Aussprache Aug' in Aug' nicht wieder auf den Lippen abschneidest wie bisher. Deshalb machst du mich auch nicht glauben, daß du heute scheu nach dem Fenster horchst, der Spione wegen, wie ich es einst tat, als wir auch laut von unsern Hoffnungen für das Vaterland redeten. Sieh, so alt ich bin, ich danke dir's, daß du mir das volle Vaterlandsbewußtsein wiedergegeben hast. Was nützt uns alles Widerstreben, alle Vorsicht und Angst, wenn wir's in uns haben und fühlen müssen, uns selbst und unsrer kühlen Weisheit zum Trotz?«
Stumm und fest hielten sich die beiden Männer umschlungen. Die Mutter, die darauf zukam, drückte leise die Tür zur Eßstube ins Schloß und zog Christine zurück, die gekommen war, um den Gatten zum Mittagsmahle abzuholen.
»Bring' es herüber, Stinchen, laß uns beisammen bleiben,« sagte die kleine Frau mit Tränen in den Augen. »Was ich da drin in des Vaters Stube gesehen habe, darüber haben die lieben Gottesengel im Himmel ihre Freude gehabt. Alles ist wieder gut zwischen unsern Lieben, und nun wollen wir auch glücklich miteinander essen.«
Die alte Harmonie, nur abgeklärter und wärmer in diesem kleinen Kreise. Christine war, so eigen es klingen mag, überselig, ihren Mann wieder feurig und zornig politisieren zu hören, und die Ehrfurcht, mit der er dann des Vaters Entgegnungen hinnahm, machte ihr das Herz vor Dank und Rührung klopfen. Denn nicht nur, wie sonst, die Ehrfurcht vor dem grauen Haupte fand sie heraus, sondern eine weit höhere und tiefere zugleich: die Ehrfurcht vor dem Manne, den ein stolzer, jugendlicher Geist über sich erhaben gefühlt hat.
»Daß du so werden und sein mußtest, wie du bist, Christine, das ist mir heute an deinem Vater klar geworden,« sagte Leberecht, als er mit seiner Frau am Abende dieses glücklichen Tages, nach viel trüben, heimging. »Gott wolle ihn uns noch lange am Leben lassen. Und wenn ich mich wirklich auf eine Zeitlang von dir trennen müßte, jetzt würde ich's nicht mehr so schwer empfinden,« fügte er hinzu und blieb mit ihr am Ufer stehen; denn sie wandelten dort noch ein paarmal auf und ab durch die klare Winterluft.
»Nichts davon,« bat sie leise und wickelte sich zitternd in ihren Schal. »Trübe mir den Tag nicht; laß ihn ganz schön schließen. Sieh, wie herrlich der Mond über uns steht.«
Er wendete mit ihr um, und am Brunnen machten sie nochmals Halt, um, über den moosigen Rand gebeugt, in seine Tiefe hinabzuschauen. Da lag das Mondlicht in tausend Fünkchen und Strahlen, lang und fein, wie scharfe Klingen auf dem Grunde.
»Siehst du Ritter Jürgens Waffen liegen?« sagte Leberecht. »Zum Greifen täuscht sie der Mond vor. Man bekommt wahrlich Lust, sich da hinunter zu machen und sie heraufzuholen. Du bist heute ein Furchthäschen, Kind; auch dabei zitterst du wieder? Komm ins Haus; vom Söller ist's ebensogut in den Mond schauen. Was? Tränen? Haben wir die Rollen getauscht? Alles ist in Frieden, sieh mich wieder heiter an, meine Herzensfrau.«
Sie jedoch vermochte es nicht. Unaufhörlich glitten die Tropfen über ihre Wangen, während sie still miteinander, vom trauten Dämmerplätzchen aus, in den Mondschein blickten.
»Wenn Gott uns je einen Sohn schenkt, Christine, soll er deines Vaters Namen tragen,« unterbrach Leberecht das lange Schweigen, als die Turmuhr ihre mahnenden zehn Schläge tat.
Sie lächelte ihn an und trocknete ihre Tränen. »Und den deinen, dann kann er's ruhig mit dem Leben aufnehmen,« entgegnete sie und küßte die Hand in der ihrigen.
Nun war er wieder der Alte. Durch die künstliche Eiskruste der jüngsten Wochen brach sein gesunder, männlicher Trotz wieder als heißer Sprudel. Wie überall im Lande, so wagte auch er jetzt noch weit freier mit seiner Meinung hervorzutreten als zu Ende des vergangenen Jahres, und er holte ehrlich nach, was er durch seine krankhafte Selbstzucht fast einen Monat lang versäumt hatte. Wie gut wußte er sich seine Texte dienstbar zu machen. Den Bauernseelen ward das Einschlafen wieder sehr schwer gemacht; denn der junge Domine donnerte mit der Faust auf die Kanzel, wie wenn er das verwurmte Holz kurz und klein schlagen wolle.
Seinen Grund hatte er auch dazu: er murrte wider den Schöpfer, der den Menschenkindern hier draußen, zwischen Deich und Wasser und Moor, alle Tage ein andres Wettergesicht zeigte; alle Winde durcheinander regieren ließ, dem harten Froste höhnisch plätschernden Tauregen entgegenwarf, die Schollen heute fest ineinanderschob und tags darauf die sichere Decke wieder in ein Heer wandernder Schrecknisse auflöste. Zu seinem gesunden Trotze gesellte sich bebende Ungeduld; denn die Mitte des Februars war herangekommen, und seit dem zwanzigsten Januar auch nicht soviel wie ein einziges Zeitungsblatt, geschweige denn ein Brief. Von Volkmar vier Wochen lang keine Nachricht. Und irgend etwas mußte sich doch begeben, geändert haben in der Welt.
»Domine,« sagte ihm nach dem Gottesdienste des vierzehnten Februar Bauer Ahlers in seiner ›drähnigen‹ Weise, »verläden Dingsdag, wie ich nach Scharmbeck zu Markt bin, hat mir Freerk Meyer aus Lesumstotel erzählt: der Marschalk, den sie da hinten an die pol'sche Grenze zu sitzen haben, der hätte mit die Russen gegen die Franschen zusammen angebunnen. Nu sollen sie woll 'n Stücker tausend fransche Köppe auf Stangen gespießt haben, meint Meyer, längs die Grenze!«
»Was für ein Marschall is denn das, Ahlers?« fragte Leberecht ungläubig.
»Boaben in Wusten un' Vieland sollen sie sich das höllisch überlegen,« fuhr Ahlers unbeirrt fort, »Kork hieße der Mann, meint Meyer. Das muß 'n deftigen Kärl sein!«
»Marschall Kork« war Leberecht durchaus nicht lächerlich, und wider Willen fühlte sich Christine in ihres Mannes Ungestüm, diesem Bauernmysterium auf den Grund zu kommen, mit hineingerissen.
Sie war es auch, die, selbst mit heißen Wangen wachliegend, ihren Gatten um Mitternacht aus dem besten Schlafe weckte: »Liebster, ich hab's! Das ist kein andrer, als der preußische General Kork.«
»Natürlich, Kind, der ist's; das hab ich mir schon lange gedacht, aber ich wollte dich nicht stören!«
Frühmorgens stand der Schlitten unter dem Sternhimmel vor der Tür. Gottlob, das Eis hielt seit vorgestern, und Leberecht fuhr in die Stadt.