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Erster Teil.

» Insula perdita, gramine vestita,
Natans in aequore maris –
«

( Aulus Serenus.)


Erstes Kapitel.

Auf dem eingedeichten Binnenflusse hin glitt das dunkle Torfschiff. Hohe, herbstliche Bäume mit kräftigem Unterholze säumten die Uferwiesen; hier und da schob sich eine moorige Zunge hinein mit ganzen Strecken säuselnden Schilfes, in dem die Rohrdommel hauste und Wildente und Bekassine sich scheu verbargen. Rote und gelbe Blätter schaukelten, zu dichten Massen vereint, auf der Flut, zogen mit dem Schiffe und legten sich an Bauer Arends Ruderstaken. Vor der Sonne her blies der frische Ostwind und trieb das nächtliche Gewölk auseinander. Ringsum kein andrer Laut, als das leise Abtröpfeln des Wassers vom Ruderstaken, den der Bauer stehend handhabte.

Man schrieb den elften Oktober des Jahres achtzehnhundertundzwölf, und es war um die sonntägliche Frühdämmerung.

Sobald der Wind aufsprang, band der Bauer im lila Wollkamisol das schwarze Segelchen am kurzen Maste los. Dann setzte er sich mit untergeschlagenen Armen gemächlich zum Steuer und paffte seinen Tabak – übelriechendes Eigengewächs mit feingeschnittenem Kalmus vermengt. Sein scharfer Blick folgte der dürren, schlotterig uniformierten Gestalt des französischen Douaniers, der dort drüben auf der Deichkappe lustwandelte und immer kleiner und undeutlicher ward. Hinter der dichten Qualmwolke seiner Pfeife grinste das schmale Gesicht des Torfbauern höhnisch:

»Hä! Paß du man upp – du Düvelsbroaen! Di will wi beluuren!« Er lachte heimlich in sich hinein, spie in der Richtung des verschwindenden Douaniers aus und knotete verstohlen die grobe Faust in der Hosentasche. Offenkundig zu drohen, das wagte er nicht. Wer wagte überhaupt etwas Offenkundiges heutzutage? »Halt's Maul und mach' den Buckel krumm!« Das war die Losung der französischen Bürger in deutschen Landen, und der kluge Bauer wußte sein Buch.

Aber den Schluck gebrannten Wassers, mit dem der gemeine Mann sich in dieser schweren Zeit Herz und Magen warm halten mußte, den hatte er dem vermaledeiten Franzosenkerl dort hinten glücklich unter der Spürnase durchgepaschert. Ein handliches Fäßchen war's, und dazu noch starker, schottischer Whisky. Jan Rickwegs, der Zimmermann droben aus der rauhen Wurster Seemarsch, hatte es mit sechs ferneren Fäßchen von Helgoland geholt und schlau nach Bremen hineingeschmuggelt. Arend, der Wührdener Bauer, war Hehler und zugleich Teilhaber am Gewinn gewesen.

Jetzt saß der »unbedarvte« junge »Domine« Claudius aus dem Halberstädtischen unbewußt auf der Schmuggelware. Sein geistlicher Langschoß und der Kragenmantel hingen harmlos und schützend zu Boden, über den Haufen von Tauenden, Torfbrocken und alter Segelleinwand, der den Feuerkern des Branntweins in sich versteckte.

Der junge Domine war auch einer von den Stillen im Lande nach Bauer Arends Meinung. Kaum geregt hatte er sich, seit er vor der Stadt in dunkler Frühe mit Sack und Pack ins Torfschiff gestiegen war.

Er ging, auf unbestimmte Monate, als Hilfsprediger zur Vertretung des erkrankten Geistlichen nach Sankt Jürgen. Heute sollte er dort zum erstenmal von der Kanzel herab zur Gemeinde reden, und noch hatte er seinen Predigttext nicht gefunden.

Im fahlen Zwielicht saß er über sein Neues Testament gebeugt, suchte, blätterte und las. Zornig und leidenschaftlich wetterleuchtete es in dem kräftigschönen, unbärtigen Jünglingsgesichte, so daß des Bauern Beiwort »still« zu einem krassen Hohne auf diesen regungslos Dasitzenden ward.

Freie Textwahl heute für alle loyalen, priesterlichen Diener Seiner erhabenen Kaiserlichen Majestät: Napoleon Bonaparte des Gottgleichen! Freie Textwahl, um ihm ein Hohelied des Preises dafür anzustimmen, daß er über vernichtete Wohnstätten, durch menschenleere Gassen in das brennende Moskau triumphierenden Einzug gehalten hatte! Ein Te deum laudamus zur Verherrlichung des Menschengötzen, vor dem die Völker des Erdballs zitterten!

Leberecht Claudius zog unter der Bibel die neuesten Departementszeitungen hervor, die er sich gestern abend in Bremen gekauft und mitgenommen hatte. Immer zwei Spalten: eine französische und eine mangelhaft stilisierte deutsche nebeneinander. Das Ganze ein feiles Lügenblatt, zwischen dessen Zeilen der Patriot voll Scham und Schmerz und – ach – meist vergeblich nach der schlechten und rechten Wahrheit forschte. Wie winzig ihre Körnchen im Schlamm, und wie schwer, sie aus ihm herauszufinden.

Da stand's zu lesen: Dreiviertel der stolzen Zarenstadt an der Moskwa von ruchlosen Händen in Schutt und Asche gelegt. Ruchlos? Nein, das war nicht das Wort dafür. Ein wahnsinniger Akt der Notwehr des Gouverneurs Rostopschin; Notwehr wider den unheimlichen und unbezwinglichen Attila und seine große Armee, von der man Wunderdinge fabelte. Dreißigtausend »Russen«, arme Verwundete, in den Spitälern verbrannt; Greise, Weiber, Kinder eilten hungernd und schutzlos den »edlen Feinden« entgegen. Und in all dem unsäglichen Jammer plünderten und raubten die Kohorten dieser edlen Feinde: welsche Fanatiker des Ruhmes, zähneknirschende deutsche Brüder, kriechende Söldlinge, deren Nationen sich ihrer schämten. Die Rotte der Mordbrenner war besser als sie! – Und diese siegreiche Armee hüllte sich in die gestohlenen Pelze und fühlte sich wohl darin. Da war die schamlose Blasphemie schwarz auf weiß: »Das Klima dieser Stadt ist wegen seiner Heilsamkeit berühmt;« da die hohle, hochtrabende Phrase: »Frankreich scheint bestimmt, jederzeit den Wall des zivilisierten Europas zu bilden.«

Am Fuße dieses Lügenblattes flehentliche Bitten bekümmerter Eltern im Stadt- und Landgebiet an ihre fernen Söhne: heimlich Entflohene und Seeleute, seit langen Jahren auf unbekannten Meeren fahrend – »sich fördersamst einzufinden, um der Konskription Genüge zu leisten und schimpfliche Strafen von den sorgenvollen Ihrigen abzuwenden.«

Der Lesende knitterte ergrimmt die Zeitungen in einen Ball zusammen; den warf er über Bord weit von sich.

Der Deich begann schon, sich gegen die große Kanalschleuse hin abzuflachen. Zwischen den kahlen Ästen der hohen Rüstern und Eschen am Ufersaum schimmerte der Himmel bereits rosig, und dieser Rosenschimmer übergoß auch die auf den Knien des jungen Predigers aufgeschlagenen Seiten der Apokalypse.

»Das Textwort!« Der Wind warf die Blätter des heiligen Buches durcheinander. Leberecht ließ ihn ungestört sein spielendes Wesen treiben und sann und grübelte umsonst.

Vor wenig Tagen erst, als das feierliche Tedeum und der Dankgottesdienst im Reiche angeordnet worden waren, hatte er sich daheim, einem Amtsbruder gegenüber, arg den Mund verbrannt mit seiner deutschen Entrüstung. Dem Amtsbruder erschien die deutsche Haut unbequem, und er steckte schon mit halbem Leibe und Sinne in der ersprießlicheren, französischen, wiewohl er sich bei gefahrlosen Anlässen gern noch auf den heimlichen Patrioten ausspielte. Jetzt aber hatte er sich, bei Gelegenheit der freien Textwahl zum elften Oktober, nicht entblödet, »des Menschen Sohn unter den sieben güldenen Leuchtern« der Offenbarung mit dem korsikanischen Erzfeinde zu verwechseln.

»Und hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharf zweischneidig Schwert und sein Angesicht leuchtete als die helle Sonne.

Und da ich ihn sahe, fiel ich zu seinen Füßen als ein Toter. Und er legete seine rechte Hand auf mich und sprach: Fürchte dich nicht; ich bin der Erste und der Letzte.«

»Pfui über dich!« – Leberechts Stirn brannte vor Scham. Er stützte sie in die Linke und blätterte mit der Rechten weiter, immer in der Offenbarung Johannis des Evangelisten. Beim sechsten Kapitel hielt er inne, las von den apokalyptischen Reitern; und vor sich sah er nur das »fahle Pferd, und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgete ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden –«

»Die Bestien in der brennenden Stadt Moskau! Nein – nein! – weiter!«

Im neunten Kapitel: »Und die Heuschrecken sind gleich den Rossen, die zum Krieg bereitet sind, und auf ihren Häuptern wie Kronen, dem Golde gleich, und ihre Antlitze gleich der Menschen Antlitz. – Und hatten über sich einen König, einen Engel aus dem Abgrund, des Namen heißt auf Ebräisch Abbadon –«

Leberecht Claudius schloß die Bibel und schob sie von sich. Seine Hände waren eiskalt geworden. Er wickelte sie in den Kragen seines weiten Reisemantels, schauerte in sich zusammen und ließ sein Antlitz auf die Brust sinken: »Gott – mein Gott! – Ich kann ja nicht predigen!«

»Schicket euch in die Zeit!« – Wie eine himmlische Erleuchtung auf sein Stoßgebet kam ihm des Paulus Mahnung an die Römer. Ja, das war der Text, dessen er bedurfte, und daß er ihn der fremden Gemeinde nicht knechtisch auslegen würde, dafür bürgte sein freigetragenes Haupt und sein furchtloses Herz.

Straff richtete er sich in die Höhe, schlug den Mantelkragen von der Brust zurück und nahm den Hut vom Kopfe, dessen starkes, kurzgeschnittenes Haar sich eigenwillig um eine große Stirn bäumte. Unter der Stirn blickte ein feuriges Augenpaar fest und kühn in den bläulich-klaren Himmel, an dem das junge Morgenrot immer lichter emporwuchs, um der Sonne den Siegespfad zu bereiten.

»'n fixen Kärl, use junge Domine, 'n rischen Kärl!« dachte der Torfbauer am Steuer mit wohlgefälligem Schmunzeln. Er nahm sich's ernstlich in den Sinn, heute einmal wieder mit den anderen Heilsbedürftigen auf Sankt Jürgen in die Kirche zu gehen, um zu hören, ob der Domine auch »auslegen« konnte. Seit Jahr und Tag hatte er sich aller Frömmigkeit enthalten. Was sollte er mit Predigt und Sakrament jetzt, bei dieser ungerechten Weltregierung? Wozu als Nachtmahlsgast an Gottes Tisch treten, wenn Gott so jammervoll kärglich gab?

Auf dem Mundstück seiner schwarzgerauchten Stummelpfeife biß er erbittert die Zähne zusammen und drückte das Feuer aus. Hier war die große Schleuse, und das Torfschiff mußte zum Kanal, jenseits des Deiches, übergezogen werden.

Der junge Domine erwies sich durchaus nicht als hochmütig oder spitzfingerig, obgleich er eine weiße Hand aus dem schwarzen Rockärmel streckte. Wacker griff er mit Arend gemeinsam das Werk an, und im Umsehen hatten sie ihr Schiff aus dem schlängelnden Flusse in den schnurgeraden Kanal gebracht, der als unabsehbare Linie zum Ziel der Fahrt leitete. Sie waren im Sankt Jürgensland, und nach dem engbegrenzten Dahinsegeln zwischen Deichen und Bäumen tat sich vor Leberechts überraschten Augen eine fremde Welt auf, die ihn dennoch anheimelte und in seine Jugend zurückversetzte, wie durch Zauber. Wiesen und Moore weit und breit unter Wasser; am verzitternden Horizonte entlang Dächer und Deiche, Busch und Mühlenflügel, schemenhaft, als wär's ein Blendwerk der Kimmung, und inmitten des silberglitzernden Wasserspiegels ein grünes Inselchen, von dem ein weißer, stumpfer Kirchturm aufragte. Hinter dem Inselchen, es in Feuer badend, ein unaussprechlich herrliches, leuchtendes Morgenrot.

Leberecht erhob sich von seinem Sitze und blickte, gegen den Mast gelehnt, zwischen Entzücken und Rührung, in diese lautlose und strahlende Unendlichkeit des überschwemmten Flachlandes hinaus.

»Jugendzeit! – Da bist du, Strongyle, – da bist du, Aulus Serenus! – ja wahrlich, Aulus Serenus!« sagte er vor sich hin. Seine Augen wurden groß und begeistert; er bog beide Hände über der Stirn zusammen und versenkte sich in das blendende Rundbild. » Insula perdita – gramine vestita,« fuhr er halblaut fort, » natans in aequore maris.«

Er setzte sich wieder und zog aus seiner Brusttasche ein ganz vergilbtes und stark zerlesenes Pergamentbändchen, in dessen winzige Schrift er sich alsbald vertiefte. Es war ein uraltes und sehr seltenes Exemplar der lieblich-elegischen Opuscula ruralia des Aulus Serenus: Leberechts Liebling unter den lateinischen Dichtern der Alten.

» Insula perdita – gramine vestita.‹ Wie oft hatte er die prächtige Schilderung des flammenumgebenen, äolischen Inselvulkans Strongyle schon gelesen seit seinen Sekundanertagen. Ja, die fein geschriebene, deutsche Übertragung in seiner eigenen korrekten Schülerhandschrift lag noch unversehrt zwischen den rauhen Blättern des kleinen Buches. Er überlas und empfand sie wie nie zuvor, während er jetzt auf sein leuchtendes Inselchen Sankt Jürgen in der Wasserwüste zusteuerte;

»Eiland, verlorenes, grün überkleidet,
Schwimmend auf spiegelndem Meere:
Weh deinem Tempel und weh seinen Dienern,
Götterverstoßnen Empörern!

Priesterlos zittre im Ozean, Eiland,
Feuer den Schoß dir durchbreche –
Ewig, o Strongyle, soll dich umlodern,
Jovis, des Zürnenden, Flamme!«

Wie das zutraf! Gehörte nicht er selbst, Leberecht Claudius, unter die abgewichenen Empörer aus der christlichen Priesterschar? Er, der sich heute gegen die Verordnungen seiner Oberen auflehnte, gegen Festpredigt und Lobpreisung eines verhaßten Bedrückers? Und flammte nicht dort um das nordische Eiland der Himmel in Glut, so wie sie vor grauen Zeiten schon das ewig verdammte Strongyle im blauen, sizilischen Meere umlodert hatte?

Was frommten die Bilder und Gleichnisse? Schmerzhaft kehrte dem Phantasten die dunkle Wirklichkeit zurück. »Schicket euch in die Zeit«: – ach, daß Gott erbarm! Denn, daß es böse Zeit war, wie Paulus weiterhin den Ephesern predigte, diese Wahrheit durfte, unter des Korsen eisernem Zepter, kein Mund ungestraft verkünden. An Tür und Wand horchten die Späher und schlichen in den dämmerigen Winkeln. In Schulen und Häusern ward das Mißtrauen gegen den Nebenmenschen gelehrt – notgedrungen. Konnte die Zeit noch ärger werden? »Beim Himmel, es muß ein Ende damit haben!«

Da strich plötzlich über Leberechts Haupte ein Schwarm Wildenten dahin mit starkem Geschnatter. Das erfüllte förmlich die weite, stille Gegend. Allmählich begann sie aufzuwachen und sich zu regen. Glorreich trat die Sonne am östlichen Wasserrande aus den Toren der Morgenröte hervor, und nun erklang vom fernen Sankt Jürgen rein und klar das erste, sonntägliche Glockenläuten.

»Schon?« fragte Leberecht erstaunt und zog die Uhr. Es war eben sechs vorbei. Der Bauer nickte, holte Stein und Stahl aus der Tasche und schlug sich Feuer für seine erloschene Pfeife.

»Er is woll nich aus unsre Gegend, was, Domine? Sieht Er: da rundum wohnt Seine Gemeinde, in Niederende un' Vierhaus un' Wührden un' Moorhausen un' Oberende. Die müssen alle zu Schiff nach Sßan Jürdens, ack'rat als wie ich un' Er. Zu Fuß geht das nich, außer wenn wir festes Eis haben.«

Leberecht gab keine Antwort. Schweigend, mit gefalteten Händen, saß er und schaute der Insel entgegen, seinem Patmos, in dessen sichere Öde er aus der drangvollen Welt flüchtete. In großen Umrissen stand die Predigt, die er heute zu halten gedachte, vor seinen geistigen Augen, und der sonnige Morgenfriede löste Zorn und Bitterkeit gelind von seiner Seele. Dankbar ließ ihn diese wasserumflutete Welt für sich aufatmen, über die das erbarmungslose Stachelrad einer grausamen Zeit noch nicht hinweggerollt zu sein schien. Er segnete seinen Entschluß, sich vom brennenden Boden der städtischen Kanzel fortgemeldet zu haben auf den verlorenen und verschmähten Inselposten im Torfmoore, ehe sein unbändiger Feuerkopf ihn, in nächster Nähe seiner vorgesetzten Behörde, mißliebig oder wohl gar unmöglich gemacht haben würde. Er war kein reicher Mann und stand elternlos, allein in der Welt. Ohne Amt hatte er kein Brot.

Nun waren sie am Ziel. Wie klein diese Scholle im Wasser. Auf einem Hügelchen die alte Kirche, massig und fest gefügt, den Jahrhunderten zum Trotz; außer ihr nur noch Pastorei und Küsterhaus zwischen Gartengesträuch und knorrigen Weidenbäumen lauschig versteckt. Rote und weiße Malven schimmerten von hohen Stöcken herüber, und Rauchwölkchen stiegen kerzengerade von den beiden Hausdächern in die Luft. Nahe am Ufer stand im Goldglanz der Morgensonne eine mädchenhafte Gestalt neben dem Ziehbrunnen und spähte dem herankommenden Schiffe entgegen. Einen Arm schlang sie um die Hebestange des Brunnens, mit der andern Hand schützte sie ihr Kleid vor dem tauigen Grase.

Die Gesichtszüge des Mädchens vermochte Leberecht nicht zu unterscheiden; sie standen als schwarze Silhouette gegen das blendende Licht, aber der Umriß des zarten Ovals und der hohen Flechtenkrone zog ihn an.

»Das is Mamsell Christine, Domine Torbeeken seine Älteste,« sagte Arend, lüftete seine Pelzkappe, und das wartende Mädchen ließ die Brunnenstange los, um grüßend zurück zu winken.

»'n mojes Frauenzimmer un' sinnig,« fuhr der Bauer fort. »Just nich extra niederträchtig gegen Unsereinen, aber gut mit Worten, un betut sich nich mit den elendigen Franzosenkerls, wie das die Stadtdeerns so ums Maul haben. Was mein Schwager is, Ahlers, bei uns in Wührden, der hat d'r zwei auf Besuch: leichte Fittiche, Domine. Da is der spattlahme Douanier, der Lacroix, hinten un' vorn. Er hat 'n ja gesehen, Domine. – Mamsell Christine is auch geruhiger, als ihr Bruder. Den hat Domine weit weg von der Stadt geschickt, auf Schulen nach Dorum in Land Wursten. Da sollen sie ihn Moris belernen. Man – die Wurster sin' untergärig, Domine, die puffen zu Höchten, wenn d'r kein Mensch dran denkt. Ich weiß das von Jan Rickwegs – Jan Grön schimpfen sie'n. Kennt Er Jan Rickwegs zufällig, Domine?«

Leberecht verneinte: »Weshalb fragt Ihr danach?«

»Och – nichs nich, Domine. Ich meinte bloß, weil Er vorhin die fransche Zeitung über Bord geschmissen hat, wie 'nen faulen Apfel. Darum meinte ich man bloß so –«

Jetzt teilte das Schiff die flüsternden Schilfstauden der kleinen Bucht und lief das sumpfige Ufer an. Leichten Schrittes kam die Mädchengestalt vom Brunnen herbei. Nun sie sich näherte, die Sonne im Rücken, sah Leberecht, wie jung und feingefärbt ihr Antlitz war, so daß die rotbraunen Haare dunkel davon abstachen.

Es durchkreuzte ihm den Sinn, daß sie jenem Gottesboten gleichen müsse, der vor Jahrhunderten dem Evangelisten auf Patmos die Offenbarung seines Herrn und Meisters entgegenbrachte. So berührte auch ihn, in seiner selbstgewählten Verbannung, dieser erste Gruß wie ein schöner Trost, und er fragte sich unwillkürlich, welche Offenbarung ihm Gott durch die friedliche Botin bescheren werde.

Sie hieß ihn, im Namen des leidenden Vaters, mit schüchterner Miene und warmer Hand willkommen.

»Ich habe Sie hier erwartet, Herr Pastor, um Sie von den Eltern zu bitten, daß Sie doch vor der Kirche einen Imbiß mit uns nehmen möchten,« sagte sie. »Und ohnedies wollte ich Sie gern um etwas fragen.«

»Vielen Dank für die gefällige Einladung, verehrte Demoiselle, allein ich kann mich derselben nicht bedienen,« lehnte Leberecht ab. »Erst unterwegs bin ich mit meiner heutigen Predigt völlig ins reine gekommen und bedarf deshalb jedes Augenblicks bis zum Gottesdienst, um mich vorzubereiten und zu memorieren.«

»Wie leid wird das dem Vater sein! Er weiß sich vor Ungeduld auf Sie nicht mehr zu lassen. So essen Sie dann um zwölf das Mittagsbrot mit uns, nicht wahr?«

»Von Herzen gern, liebe Demoiselle. Wie ist mir's: hatten Sie nicht eben noch eine Frage an mich tun wollen? Ich bitte darum,« sagte er und folgte in ihrer Begleitung dem Torfbauern, der, das schmächtige Gepäck schulternd, zur abseits liegenden Küsterei voranschritt.

»Nur wegen des Tedeums, das man uns für heute befohlen hat, möchte ich Bescheid haben,« erwiderte sie. »Der Vater meint, es müsse den Eingang bilden, aber das stehe bei Ihnen. Wann soll ich es spielen? Ich bin des Vaters Organist.«

Ihm fiel es auf, daß sie dies Thema in knappem und hartem Tone beredete, wenngleich ihre Stimme ruhig und beherrscht blieb. Aus forschenden Augen blickte er ihr gerade ins Gesicht; sie errötete heftig, wandte sich von ihm ab und hob warnend die Hand.

»Schweige! schweige!« sprach ihre Gebärde.

Wie ein drückender Eisenreif fiel es urplötzlich von seiner Seele ab: er fühlte sich verstanden.

»Rede ich mit einem deutschen Mädchen?« fragte er hastig und gedämpft, indem er sich nahe zu ihr hinneigte. Sie flüsterte ihr: »ja! ja!« mit dem Ausdrucke tiefer Empfindung zurück, hart an seinem Ohre, und ohne daß sie's wußten und wollten, reichten sie sich, im Schutze des Buschwerks, mit festem Druck die Hände. Sie jedoch zog ihre Hand ängstlich aus der seinigen und verbarg sie unter dem schwarzen Taffetschürzchen.

»O, Vorsicht! Auch hier; auch auf der Kanzel,« mahnte sie. »Vater hat gewiß recht, wenn er sagt, daß wir nur unter der Erde sicher geborgen sind! Ich muß nun gehen. Bis nach der Kirche denn, Herr Pastor. Und was wegen dem Tedeum? Daß ich's nur nicht wieder vergesse.«

»Spielen Sie es zum Schluß der Predigt, vor dem Vaterunser,« entschied er. »Vielleicht begegnen sich beim Lobgesang unsre Gedanken, Demoiselle.«

Unmerklich runzelte sie die Brauen, und ihre Mundwinkel zogen sich ein wenig abwärts. »Darf man dir wirklich vertrauen?« schienen ihre Blicke zu fragen, während ihre Lippen ein zaghaftes: »auf Wiedersehen!« formten. Er jedoch schaute sie mit einem so aufrichtigen und freimütigen Lächeln an, daß sie ihre Hand wieder in seine legen mußte, die er ihr abermals bot: »Wir sind gesinnt, beieinander zu stahn,« sagte er ernst mit Simon Dachs Worten.

Indem kam, von der nahen Pastorei her, der Ruf einer hohen, ungeduldigen Frauenstimme: »Stinchen! Stinchen! – Christine! – Wo steckst du, Kind?«

»Da bin ich, Mutter! Verzeihen Sie nur!«

Eilends sprang sie davon, huschte über den Gartenweg, zwischen den blühenden Stockrosen hin, und Leberecht sah sie hinter der grünen Haustür verschwinden.

Unter dem letzten Nachhallen der festlichen Glockenklänge betrat er das Küsterhaus – sein neues Heim.


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