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Novellette.
Die Überschwemmung der Weichsel war in diesem Frühling nicht so verheerend gewesen, wie in den letzten Jahren; dennoch sah man jetzt – Mitte Juni – vom Balkon des Schlosses Wolfsheim längs des Horizonts noch eine Anzahl kleiner Gewässer, als grenze der Park des Schlosses an ein Seebecken. Vor allem das Dorf Wolfsheim, das in einer weiten Mulde lag, erschien noch wie von langgestreckten Wasserläufen eingeschlossen. Es hatte sich im Dorfe denn auch wieder allerlei Krankheit eingenistet: sogar Fälle von schwerem, fast immer tötlich verlaufenden Typhus traten auf. Und doch gab sich all das Wasser ringsum so fromm; seine Umrahmung von üppigem Grün und der silberhelle Wiederschein der darüber hingleitenden Wölkchen atmete nur Lindigkeit und träumerischen Frieden.
Darüber hatte die alte Baronin Throneck, die das kleine Rittergut Wolfsheim mit seinem berühmten Parke als Wittum besaß, eben ein paar Äußerungen zu ihrer Schwiegertochter Karla, der Witwe ihres ältesten Sohnes, gethan, als ein kräftiger Knabe mit einem frisch gefärbten Gesicht auf den Balkon stürmte, wo die Damen saßen, und mit der vollen Entrüstung seiner neun Jahre rief:
»Der Sigi will mir schon wieder nicht gehorchen!«
Frau Karla hob mit einem raschen Blick auf die Schwiegermutter die Hand und sagte in tadelndem Tone:
»Liebes Kind!«
Die alte Baronin aber hatte ihren nachsichtigen Tag. So winkte sie den Enkel zu sich und strich ihm, als er keck vor sie hintrat, mit leichter, schmeichelnder Bewegung über sein weißblondes Haar, das nach Pagenart geschnitten, schlicht auf den schon von der Frühlingssonne gebräunten Hals fiel. Dabei fragte sie gütig:
»Was hast Du denn von ihm gewollt?«
»Wir spielten Pferd!« sprudelte der Knabe hervor. »Und nachher sollt' er Hund sein. Da hat er ausgeschlagen und ist weggelaufen.«
»Du weißt, Ivo,« unterbrach Frau Karla seine Anklage, »Tante Helene mag das Spiel nicht! Sie wird es Sigi –«
»Aber Jäger und Hund,« fiel er der Mutter ungeduldig ins Wort, »ist doch das schönste von allen Spielen! Bloß Tante Hella weiß das nicht.« Die Damen wechselten lächelnd einen Blick, dann meinte die Großmutter, der Jäger sei dabei jedenfalls im Vorteil.
Davon wollte Ivo jedoch nichts wissen.
»Der Hund darf ja auf allen Vieren gehen,« verteidigte er sich, »und die Ohren kann er hängen lassen!«
Die Baronin lachte: »Wie macht er das?«
»O, das ist so!« erklärte Ivo, indem er den Kopf auf und niederwarf, und dann sich tief herabbeugte.
»Du machst es ganz vortrefflich!« warf seine Mutter ein. »Du könntest wohl auch einmal den Hund spielen!«
»Ich?« fragte der Knabe mit blitzenden Augen. »Ich bin der Herr! Sigi ist ja bloß mein Vetter und hat keine rechten Eltern.«
Die Baronin wandte sich langsam den Glasthüren des Balkons zu. Als sie im Zimmer niemand bemerkte, fuhr sie unwillig auf:
»Wer setzt Dir denn solches Zeug in den Kopf? Keine rechten Eltern?« Trotzig antwortete Ivo:
»Die alte Dorette hat es erst gestern wieder gesagt! Und der Jean hat dazu gelacht und noch gemeint: am Ende ist es ein Frühlingskind.«
»Ein Frühlingskind?« Frau Karla blickte verwundert auf die Baronin.
»So nennt hier der Volksmund dergleichen Kinder!« erläuterte diese unmutig.
»Und wenn Onkel Ulrich kommt,« fügte Ivo noch hinzu, »so ist der auch immer böse mit ihm, und giebt ihm nicht einmal einen Kuß!«
Die Damen sahen sich von neuem an.
»Was die Leute sich Alles zurecht legen! Und worauf Kinder schon achten!« Die Baronin schüttelte den Kopf.
Der Knabe hörte ihre Bemerkung nicht mehr; er hatte sich dicht ans Geländer gedrückt und schrie mit dem ganzen Aufwand seiner an sich schon kräftigen Lungen:
»Sigi! Sigi! Ich komme auch hinunter! Hast Du die rote Leine mitgenommen?«
Der angerufene, ein wenig jüngere Knabe, der eben über ein Wiesenrondel laufen wollte, hielt an und rief mit einem eigentümlich melodischen Stimmchen:
»Du brauchst gar nicht zu kommen! Tante Hella hat gesagt, wenn Du mich haust, soll ich nicht mit Dir spielen.«
Seine großen, braunen Augen sahen dabei ernst zu dem Balkon empor, und er griff unbewußt mit seinen weißen Händchen an den Kinderwaffen herum – einen Holzschwert und einem ledernen Dolch und einer Chokoladenpistole, die er sich in den Gürtel gesteckt hatte, welcher seinen schwarzen Sammetkittel zusammenhielt.
Beide Damen blickten herab. Und in ihre Mienen trat eine gewisse Kühle, ja, Geringschätzung: bei der Baronin milder und wie von Kummer verschleiert, bei Frau Karla offen ausgeprägt, obwohl der Anblick da unten von holdem Reize war. Sigis Haare, ebenso geschnitten wie die seines Vetters, waren von einem goldigen Blond und lockten sich so stark, daß sie das runde Gesicht des Kindes, das bei süßester Schönheit einen scheuen und verträumten Ausdruck hatte, wie mit lauterem Sonnenschein umschlossen.
Frau Karla, die den Sohn an der Hand festhielt, rief strafenden Tones hinab: »Wenn Du ganz artig sein willst, darf Ivo wieder mit Dir spielen! Du bist der Jüngere und hast zu gehorchen.«
»Ich gehorche ja!« kam es zögernd herauf. »Bloß nicht, wenn er mich schlägt.« Sigi fuhr sich über die linke Schulter. »Es muß ganz rot sein!«
Die Gebärde des Kindes, sein schmerzhaft verzogenes Mündchen sprachen so deutlich von dem Unrecht, welches ihm angethan war, daß selbst Frau Karlas Stimme weicher klang, als sie kurz erwiderte:
»Nun, dann kommt er!«
Sie ließ Ivos Hand los, und er stürmte mit einem Aufjauchzen durch das Balkonzimmer der Treppe zu. Dabei rannte er Tante Hella, die gerade hereintrat, stark an; doch jauchzte er nur noch vergnügter, und war mit ein paar Sätzen schon auf dem Podest der Treppe.
Das junge Mädchen sah ihm einen Augenblick nach, dann schloß sie in ihrer geräuschlosen Weise die Thür und schritt, ihre Stickerei fester zusammenrollend, dem Balkon zu. Eine leichte, scheinbar zur Gewohnheit gewordene Müdigkeit lag über Helenens Wesen, obgleich sie kaum die Mitte der Zwanzig überschritten haben konnte.
Das einfache, dunkle Kleid, woran auch der geringste Aufputz vermieden war, erhöhte den Ernst ihrer blassen, vornehmen, und dabei doch lieblichen Erscheinung.
Als sie auf den Balkon heraustrat, beachteten das weder Mutter noch Schwägerin, da die Damen das muntere Treiben der Kinder auf dem Wiesenrondel verfolgten. Helene ließ sich auf einem Stuhl an der Hausmauer nieder und entrollte ihre Stickerei, die sie bald ganz zu beschäftigen schien. Doch kamen immer wieder Augenblicke, wo auch sie zwischen den Ranken des Balkongitters hindurch auf die Kinder sah. Als Sigi einmal lang hin stürzte, war es sogar, als wolle sie sich erheben; doch sie unterließ es, wie der Knabe sofort wieder aufsprang und sich mit seinem stillen Lachen die Erde abschüttelte.
Ivo langweilte es aber wohl, stets auf demselben Platz zu spielen, so jagte er, nun getreulich von Sigi gefolgt, in eine der Alleen hinein, die den Park durchschnitten.
Die Baronin lehnte sich in ihren Armstuhl zurück und sagte mit einen Seufzer zu Karla: »Wenn sein Vater unsern Ivo so noch hätte sehen können! Der war auch von kleinan die Lebhaftigkeit selbst. – Wie oft kamt Ihr Jüngeren ihn damals verklagen!« wandte sie sich an Helene.
Diese nickte, während sie starr nach der Richtung sah, wohin sich die Kinder entfernt hatten.
Nach einer Weile fragte sie:
»Fahrt Ihr heute noch aus?«
Die Mutter blickte nach Karla hinüber; als diese keine zustimmende Bewegung machte, verneinte sie.
»Da kann ich wohl den Landauer nehmen?« fragte Helene von neuem.
»Gewiß!«
Die Baronin kehrte sich nach ihr um.
»Doch wozu?«
»Ich habe mir heute eine ganze Menge alter Wäsche und Kleidungsstücke zusammengelegt! Und Du wolltest mir auch Kartoffeln und Mehl mitgeben lassen? Dann sitzt man in der Droschke so beengt!«
Die Baronin wandte sich, die Stirn runzelnd, dem Parke zu:
»Ich fange schon wieder an, mich vor diesen unaufhörlichen Fahrten nach Wolfsheim zu fürchten!«
»Unaufhörlich?« wiederholte die Tochter sanft. »Jetzt nur alle vierzehn Tage einmal!«
»Es herrschen dort aber wieder Krankheiten!« erklärte die Mutter ungehalten. »Doktor Wettrich that sogar besorgt.«
»Du hast mich doch in all' den Jahren hinfahren lassen!« erwiderte sie wie zur Entschuldigung. »Ich fürchte mich nicht!«
»D könntest jedoch wirklich einmal,« mischte sich Frau Karla ins Gespräch, »an den Kleidern etwas mitbringen! Wenn wir auch nicht für uns besorgt wären – wir haben aber an die Kinder zu denken!«
»Ja, ja!« stimmte die Baronin zu. »Inspektor Wogram oder der Eleve würden Alles ebenso gut – wahrscheinlich noch umsichtiger verteilen.«
»Es ist meine einzige Freude!« antwortete Helene schlicht, indem sie vor sich niederblickte.
Die Baronin hob die Schultern, Frau Karla zog mit einem markanten Lächeln die Augenbrauen in die Höhe.
Helene bemerkte Beides nicht.
»Ich betrete auch nur ausnahmsweise ein Krankenzimmer,« fuhr sie fort, »und wechsele bei meiner Rückkehr stets die Kleider, wie ich es Dir versprochen habe.«
Sie sah zur Mutter auf.
»Da Du nicht hören willst,« entgegnete diese, – »ich kann nur warnen. Dann fahre aber gleich, damit Du nicht in die Abendkühle kommst.«
Helene erhob sich, küßte der Mutter die Hand und verschwand mit einem kurzen Gruße nach Frau Karla hin in der Thür.
»O, diese Marotten!« seufzte die Baronin, indem sie gleichfalls aufstand. »Die Quälereien mit ihr endigen nicht! Und ist es Dir nicht auch, als ob sie immer sensibler würde?«
»Das Gethue mit dem Kinde nimmt allerdings wieder zu!« erwiderte Karla in Gedanken.
Die Baronin nickte besorgt, dann sagte sie aufbrechend: »Ich will noch den Monatsbericht an Ulrich schließen.«
»Graf Ehrenhof sprach vorgestern davon, vielleicht heut wieder heranzukommen.« Karla blickte bei den Worten in die Weite.
Die Baronin hob das Haupt ein wenig, verließ aber schweigend den Balkon.
* * *
Es war wieder ein Mittwoch. Da pflegte Graf Ehrenhof nun regelmäßig seinen Spazierritt bis Schloß Wolfsheim auszudehnen. Die Baronin Karla hatte ihn auch in den Hof einreiten sehen, und ein Gefühl lebhaften Wohlgefallens an dem stattlichen Mann und Reiter von Rasse nicht unterdrücken können. Ihr Herz klopfte sogar rasch, als sie jetzt Tritte auf dem Flur näher kommen hörte und meinte, der Diener werde die Thür des Salons zur Anmeldung öffnen. Die Tritte verloren sich aber nach dem rechten Flügel des Schlosses, wo die alte Baronin mit der Tochter wohnte.
Was konnte der Graf bei der Baronin wollen? Das Herz Karlas hörte nicht auf, rascher zu schlagen, doch ließ sie sich in ihrem Schaukelstuhl nieder und nahm einen Band des Novellenschatzes Von Paul Heyse und Hermann Kurz bzw. Ludwig Laistner herausgegebene Sammlungen: Deutscher Novellenschatz / Neuer deutscher Novellenschatz / Novellenschatz des Auslandes (1871-1887, insgesamt 62 Bde). aus der kleinen, seitwärts stehenden Etagère. Hatte sie die aufgeschlagene Seite herunter gelesen, so begann sie sie unwillkürlich von neuem: ihr ganzer Sinn ging in Träumerei und Lauschen auf. –
Graf Ehrenhof hatte sich aber nicht bei der Baronin, sondern bei dem Fräulein von Throneck melden lassen.
Mit einer Verwunderung, in die sich beinahe Schreck mischte, weil der Graf sie hatte allein sprechen wollen, empfing Helene ihn. Doch schon seine ersten Worte nach der Begrüßung beruhigten sie darüber, daß es sich nicht etwa um ein Unglück handele, da er mit Wärme von ihren Samariterwerken in den umliegenden Ortschaften zu sprechen begann.
Helene hörte ihn befangen, mit geneigtem Kopfe zu, bis sie sich plötzlich aufrichtete und bat:
»O, nicht weiter, Graf! Warum machen Sie von ganz selbstverständlichen Dingen ein solches Aufheben? Es ist mir persönlich eine so unsagbare Freunde, die Not da und dort ein wenig mildern zu können, daß ich eher den Leuten, die meine Hülfe annehmen, danken möchte, als von irgend Jemand darüber ein Wort des Lobes hören.«
»Von irgend Jemand,« hob der Graf hervor, »da könnte ich Ihnen nur Recht geben! Doch von mir, von dem Freunde Ihres Hauses dürften Sie sich wohl eine Anerkennung gefallen lassen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Selbst der alte Shakespeare,« fuhr Ehrenhof zuredend fort, »giebt dem schon Ausdruck, wenn er, ich denke, Hermione »Das Wintermärchen.« sagen läßt, daß eine gute That, die ungepriesen stirbt, tausend andere würge, die sie zeugen könnte.«
»Da mag es sich um Heldenthaten handeln,« erwiderte Helene mit einem schwachen Lächeln, »aber nicht um die Verteilung von ein paar alten Kleidern und Lebensmitteln! Das bringt wirklich Jeder fertig, auch ohne besonderes Lob!«
Sie sah ihm freundlich in die Augen, auf einmal aber errötend an ihm vorüber. Er ließ seine Blicke so durchdringend auf ihr ruhen, und wieder wie neulich schon mit der Frage darin, der heißen Frage, die ein Andrer vor langer Zeit auch gethan hatte. Damals hatte sie Antwort geben dürfen – heute? Während sie in leichter Verwirrung stumm blieb, wandte der Graf ein:
»Sie sagen, Jeder brächte das fertig? Warum thut es die Baronin Karla nicht?«
»Weil ich es eben thue!«
Sie lächelte von neuem. »Auch hat Karla die ganze Oberaufsicht im Hause übernommen, hat dabei für Ivo zu sorgen.«
»Wie Sie für Sigi!«
»Ach, Sigi!«
Sie blickte wieder zu Boden.
»Wenn er auch immer zart bleibt,« fuhr Ehrenhof fort, »nun gedeiht er prächtig!«
»Sogar Sie haben das bemerkt?« Helene sah rasch und freudig zu ihm auf.
Ihre Blicke begegneten sich.
»Was soll das ›sogar‹ bedeuten?« fragte der Graf. »Halten Sie mich für einen gefühlsarmen Menschen, der auf ein so anmutiges Kind nicht achte? – Ganz abgesehen davon, daß er Ihr Liebling ist, Baronesse Helene!« schloß er leise.
Sie atmete schwer, dann sagte sie hastig:
»Ja, Sigi wird jetzt sichtlich kräftiger. Wir freuen uns Alle an ihm!«
»Auch Baronin Karla?«
»Gewiß! Warum sollte sie nicht?« Ihre Augen bekamen einen ängstlichen Ausdruck.
»Die Mutter eines Knaben,« antwortete der Graf schärfer, »der zwar gesund ist, doch eher häßlich als hübsch, dürfte selten einem so viel, reizenderen Kinde gerecht werden!«
Ein holder Zug trat selbstvergessen in Helenens Antlitz hervor und erfüllte es ganz mit Lieblichkeit. Des Grafen Blicke hingen an ihr wie gebannt. Er schien jetzt nicht sprechen zu können. Wohl eine Minute eines ihm mehr und mehr das Herz bestürmenden Glückes ging hin, bevor er sich aufraffte und voll tiefer Empfindung sagte:
»Ich liebe Sigi kaum weniger als Sie! So weiß ich auch, daß Sie sich nie von ihm trennen würden, um der armen Waise die Mutterliebe zu erhalten. Dürfen wir ihm aber nicht« – er legte seine bebende Hand auf die ihrige – »darf er uns nicht Beiden gehören? Helene! wir wollen ihm Vater und Mutter sein!«
Rasch entzog sie ihm die Hand und rief erbleichend:
»Herr Graf, ich will, ich darf Sie nicht verstehen! Seien Sie gütig und schonen Sie mich!«
»So völlig gleichgültig bin ich Ihnen?« versetzte Graf Ehrenhof traurig. »Wohl! Sie haben mir niemals die kleinste Ermunterung gegönnt! So sichtlich flohen Sie mich – ich hatte keine Spur von Berechtigung zu Ihnen zu sprechen, wie ich es eben gethan habe. Doch ich mußte so einmal sprechen! Immer und überall sah ich Sie vor mir in Ihrer Schwermut und es war mir dann, als vermöchte eine große Liebe Sie wieder zu uns zurückzuführen. Vergeben Sie die Erinnerung! Aber ich weiß ja, wie alle Welt es weiß, daß Ihr Vetter Rudolf Ihnen sehr lieb gewesen ist. Doch es werden acht Jahre, daß er tot ist – und alle Trauer muß endlich ein Ende haben. Ich fordere keine erste Liebe – ich möchte nur zu Ihnen stehen, im höchsten Sinne Ihr Freund sein dürfen!«
»Graf« – –
Sie zagte aber fortzufahren und wandte sich ab.
»Mir ist es so,« setzte er bekümmert hinzu, »als wären Sie hier nicht an Platze, als hätte man nicht die Verehrung für Sie, die Ihre Herzenstreue berechtigt ist zu fordern. Ich habe von der Baronin Karla, wie von Ihrer verehrten Mutter Äußerungen über Sie gehört, die mir klar zu beweisen schienen, daß man Sie hier nicht wie ein Glück betrachtet – eher als eine Last.«
Sie sah ihn schmerzlich an, ohne aber auch darauf eine Antwort zu geben.
»Ja, ich kann es nicht anders nennen!« betonte er nochmals. »Auf Schloß Ehrenhof wären Sie die unumschränkte Herrin!«
Als da durch ihren Körper eine Erschütterung flog, und in ihren Blick etwas trat, was nach Dank, beinahe nach Hingebung aussah, rief der Graf flehend: »Helene! Sie wären meine angebetete Herrin!«
Helene hatte ihre Fassung wieder gewonnen und sagte ruhig, obwohl mit dunkler Stimme: »Ich kann nicht vergessen – werde es nie und nimmer!«
»Warum wollen Sie mir gleich die letzte Hoffnung nehmen?« fragte Ehrenhof vorwurfsvoll. »Auch ich vergesse nicht mehr! Seit Jahren ist diese Liebe trotz Ihrer Abwehr mein höchster Besitz. Und nun Sie wissen, wie es um mich steht – vielleicht gewöhnen Sie sich mit der Zeit« –
»Nein, Herr Graf!« unterbrach sie ihn fest. »Ich möchte Sie sogar bitten, Ihre Besuche einzustellen, oder sie doch auf das Notwendige zu beschränken. Nichts weiß ich gewiß, ich bin Niemandes Vertraute hier, dennoch habe ich seit einiger Zeit das Gefühl – da ich für die Meinigen ja gar nicht in Betracht komme, als würde Ihren Besuchen eine andere Bedeutung untergelegt. Sie werden nicht weiter forschen? Wollen Sie mir aber von Herzen wohl, so erfüllen Sie meinen Wunsch!« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Ehrenhof nahm sie nicht. Gereizt und herbe entgegnete er:
»Alles hat eine Grenze! Sie auch nicht mehr sehen, mich nicht wie bisher wenigstens zuweilen in Ihrer Nähe wissen, und von Ihnen hören zu dürfen – das ist ein grausames Verlangen!«
Als er die Aufregung sah, die scheinbar hülflose Qual, der sich Helene hingab, fuhr er mit größerer Milde fort:
»Für alle Armen haben Sie Mitleid – ich bin nun einer von den Ärmsten! – Doch ich will Sie erlösen und gehen! Nehmen Sie aber Ihren Wunsch zurück! Haben Sie denn so viele Freunde, daß Sie« –
Helene hob den Kopf und sah ihn nun so innig dankbar an, daß er verstummend Ihre Hand ergriff und sie mit Küssen bedeckte. Sie wehrte nicht; in ihre Blicke trat ein Leuchten und sie erwiderte: »Sie wollen mich erlösen – ich werde Sie erlösen! Daß es mir nicht leicht fällt, werden Sie dann ermessen. Ich sehe aber keine Rettung sonst: es ist auch mein einziger Freund, dem ich das Opfer bringe – er darf mich nicht undankbar nennen! Sigi ist mein Kind!«
Der Graf starrte sie an, als ob er nicht begriffe; dann erhob er sich jäh, und preßte mit einem Schmerzenslaut die Hand auf die Augen.
Eine ganze Weile war es still im Zimmer, bis Helene ebenfalls aufstand und mit einer gewissen Bitterkeit sagte: »Nun fühlen auch Sie, wie sich da niemals etwas ändern kann! Sie, der Sie im großen Leben stehen, können nur eine Frau zu sich emporheben, auf die jeder mit Ehrfurcht blickt. Eine Bescholtene – wozu aber noch Weiteres? Und wüßten nur Sie von dem Makel – es genügte!«
Um Ehrenhofs Augen, nun seine geschlossenen Lippen lag ein tief schmerzlicher Zug, dennoch gab er einfach zu: »Ja! dann ist Alles vorbei!«
»Vorbei – seit ewig langen Jahren!« flüsterte Helene vor sich hin.
Es arbeitete im Gesicht des Grafen; plötzlich sagte er mit vor Erregung tonloser Stimme: »Ich habe nun kein Recht mehr zu fragen mir brennt aber eine Frage auf dem Herzen!«
Sie blickte ihn ruhig an. »Fragen Sie! ich habe Sie meinen Freund genannt, und meine Schuld kennen Sie! Was Ihre Teilnahme noch weiter anregen könnte, das Alles ist an mir – an uns gesündigt worden.«
»Der Vater von Sigi ist Rudolf?« stieß Graf Ehrenhof heraus.
»Sigis Vater ist Rudolf!« wiederholte sie langsam. »Er war ein ganzer Mann, wie Sie, Graf! doch er war arm und hatte noch viele Geschwister. Darum wollten meine Brüder nichts von unserer Liebe wissen, ja, Ulrich verfolgte ihn sogar mit Haß. Rudolf mußte aus dem Hanse. Da überkam uns der Wahnsinn! wir meinten, Mann und Frau könnten sie nicht trennen. – Den letzten Morgen, an dem Rudolf gehen sollte – in der Frühe, hat Ulrich ihn aus meinem Zimmer treten sehen. Wozu es da zwischen ihnen gekommen ist, niemand hat es erfahren – wohl zu einem Duell! Rudolf wurde mit einer Schußwunde, sterbend im Park gefunden, doch hatte er dem Gärtner noch gesagt, daß er sich selbst das Leben genommen habe. Tot wurde er uns ins Schloß gebracht – wie sie Chriemhild den Gatten brachten: so habe ich den Knaben Siegfried genannt.«
Der Graf blickte unverwandt auf sie, als präge er sich jeden Zug ihres Gesichtes ein.
»Wünschen Sie noch etwas zu wissen?« fragte sie nach einer Pause, worin sie in Gedanken verloren dasaß. »Als Sigi geboren war – in Schlangenbad, und ich ihn nicht von mir ließ, trat Ulrich auf meine Seite vielleicht als Sühne dafür, daß er die Familienehre so vorschnell gerächt hatte, und hat es durchzusetzen gewußt, daß Sigi für das Kind verstorbener Verwandten gilt – von den Lehnsvettern, die in Sachsen ansäßig sind.« –
In diesem Augenblick faßte draußen ein Händchen nach der Thürklinke empor, und drückte sie mit einiger Mühe herunter. Die Thür schob sich schwerfällig auf. Sigi flog mit einem fröhlichen »Tante Hella« herein und barg den Kopf in den Falten ihres Kleides.
Helene und der Graf sahen sich stumm an.
Er reichte ihr die Hand, fuhr über das goldige Gelock des Knaben und wandte sich zum Gehen.
»Leben Sie wohl, Graf!«
Helene hatte die Worte in großer Bewegtheit gesprochen.
Graf Ehrenhof vermochte nur, noch einmal zurückzugrüßen. Da riß sich Sigi von der Tante los, lief ihm nach und tirilierte mit seinem hellen Stimmchen: »Lieber Graf, leb' wohl!«
Fassungslos hob ihn der Graf zu sich empor und rief, indem er ihn küßte: »Kind, Kind, was hast Du mir angethan! –«
Dann setzte er den Knaben hastig nieder und schied.
Sigi blieb, nun kleinlaut geworden, auf derselben Stelle stehen, während er mit ängstlichen Augen auf Tante Hella sah. Und sie eilte mit stürzenden Thränen und ausgebreiteten Armen auf ihn zu und schluchzte, ihn an sich pressend:
»Armes Frühlingskind! Und doch ließe ich Dich nicht für die ganze Welt!«
* * *
Um die Mitternacht eines heißen Tages gegen Ende des August erdröhnte plötzlich der Pfortenring an dem alten, früheren Schloßthor von Wolfsheim, das sich jetzt nur noch für Leichenzüge öffnete. Hatte der Flügel eines Nachtvogels den Ring gestreift, oder beim Vorüberschreiten der Tod selbst ihn berührt – die schwer Typhuskranke, die im Schlosse lag, mußte den schillernden Ton gehört haben: sie fuhr im Bette auf und sah mit wirren Blicken um sich. Als aber nichts weiter laut wurde, das Nachtlämpchen still fortbrannte und selbst die Dorette schlief, schloß auch sie wieder die Augen und sank mit einem röchelnden Seufzer in die Kissen zurück. Doch das Röcheln verstärkte sich, Dorette erwachte und bog sich erschrocken über die Sterbende. Noch ein Atemzug, der plötzlich absetzte – dann war sie erlöst.
Dorette eilte über den Flur nach dem Schlafzimmer der alten Baronin, die sich dort auf die Chaise longue gelegt hatte. Bevor sich noch die Thür ganz geöffnet, stand die Baronin schon mitten im Zimmer und wehrte durch einen kurzen Wink der Hand jede Mitteilung wie die Begleitung ab.
Festen Schrittes trat sie an die Tote heran.
Die Mutter mußte mit der Tochter noch allerlei zu rechten haben: zuweilen bewegten sich ihre Lippen. Dann drückte sie ihr die Augen zu, legte ihre Hände über der Brust in einander und verließ sie, ohne sich mehr umzuwenden. Nicht eine zärtliche Bewegung hatte sie für ihr Schmerzenskind übrig gehabt. – Helenens seliger Schlummer blieb darum aber wohl nicht weniger süß. –
Das Leichenbegängnis hatte stattgefunden: schon am dritten Tage bei Anbruch der Nacht. Auf den ausdrücklichen Wunsch der Arztes und der Baronin hatten sich als Leidtragende nur die nächsten Bekannten des Hauses dazu eingefunden; und selbst von diesen folgten nur ein paar Herren dem Sarge, Niemand von den Damen. – Statt ihrer, was Keiner hatte wehren können, waren aber Scharen von Leuten aus den benachbarten Ortschaften gekommen und hatten sich längs der Pappel-Allée aufgestellt, die zur Erbgruft der Familie Throneck führte. Trotz dieser bunten Menge von Weibern, Männern und Kindern herrschte während der ganzen Feier Totenstille, nur hier und da von einem schmerzlichen Geflüster unterbrochen. Wußten doch alle gut, was sie an der Heimgegangenen verloren hatten, und daß sich die so jung Gestorbene ihre Todeskrankheit bei der Pflege einer Greisin im Dorfe Wolfsheim geholt habe. –
Der rechte Flügel des Schlosses war von der Baronin verlassen worden, und sie hatte Zimmer in der Nähe ihrer Schwiegertochter bezogen. Selbst Sigi, den man nun ganz der alten Dorette übergeben, wurde mit ihr ein Zimmer auf dem linken Flügel angewiesen. Waren ihn die Geheimnisse dieses Flügels zu neu – der künstlerisch mit Wandmalereien, mit Nischen und Statuen ausgestattete Flur, die große Doppeltreppe und die Flucht der reich eingerichteten Zimmer, oder lag es an etwas Anderem, Sigi verließ sein Bereich kaum, und man sah ihn nur selten und dann in den entfernteren Teilen des Parkes unter den Augen von Dorette spielen. Immer allein; sogar Ivo schien den früheren Spielgefährten vergessen zu haben, da es neuerdings gestattet worden, daß die beiden Knaben des Oberinspektors ihm Gesellschaft leisten durften. –
Der große Balkon auf der Gartenfront des Schlosses war nach wie vor der Lieblingsaufenthalt der Baronin. So saß sie auch heute schon in ihrer von Wandschirmen wohlgeschützten Ecke und wartete, daß Frau Karla erschiene. Diese pflegte aber ihre Mittagsruhe stets lange auszudehnen: mitunter so lange, daß irgend ein Vorwand gesucht werden mußte, um sie herüberzulocken. Heute bedurfte es einer solchen List nicht; mit vom Schlummer rosigen Wangen und hellen Augen, die sich um so lichter von ihrer Trauertoilette abhoben, rauschte sie bald durch die Balkonthür und nahm mit einer lächelnden Verneigung gegen die Schwiegermutter in ihrer gewohnten stolzen Haltung auf einem Armsessel Platz.
Die Baronin war ernst; doch mehr ärgerlich gereizt als bekümmert. So hatte sie den Gruß der Schwiegertochter kaum erwidert und begann sofort im Tone mißmutiger Klage:
»Eben habe ich einen Brief von Ulrich erhalten. Die Papiere Sigis sind wieder zurückgekommen. Immer noch unvollständig! O Gott, unsere gräßlichen Beamten! Selbst in die winzigste Ritze wollen sie hineingucken. Es soll noch ein Geburtsschein seiner Mutter fehlen. Wie wird sich Ulrich da nur heraushelfen? Ach, dieses Kind! Dies Schreckenskind! Es hat meine Haare grau gemacht und wird sie weiß machen.«
Frau Karla nickte und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen in den Park hinunter, der anfing, sich rot und gelb zu färben.
»Gerade in dieser Anstalt,« fuhr die Baronin fort, »wäre er so gut untergebracht! Wir hätten dann wirklich zehn bis zwölf Jahre Ruhe vor ihm gehabt: Ulrich bestätigt es auch. Ah! Glückt das nicht noch, so muß er also irgendwo in Pension gegeben werden. Das kenne ich aber: da kommen inmerwährend Anfragen und Querelen. Bald wegen der Ferien, oder wegen Kinderkrankheit. Dann lernt er nicht, oder überanstrengt sich gar – man würde den Gedanken an ihn nicht mehr los werden.«
»Ich habe das Kind übrigens lange nicht gesehen,« bemerkte Frau Karla.
»Die Dorette ist eine zuverlässige, und vor allen Dingen taktvolle Person,« versetzte die Baronin mit einer leichten Genugthuung. »Bei ihr genügt ein Wink. Ich sehe das Kind ab und zu; Dorette hat ihm aber schon das ewige Herangelaufe und Küssen abgewöhnt – er bleibt nun manierlich an ihrer Hand und nimmt nur sein Käppi ab. Er soll auch nach niemand verlangen. Nur neulich hat er einmal wunderlicherweise zu weinen angefangen und gefragt, ob denn der liebe Graf nicht wiederkomme?«
»Der Graf!« sagte Frau Karla erstaunt. »Ich habe nie bemerkt, daß er sich mit ihm besonders abgegeben hätte? Weit eher doch mit Ivo?«
»Ich verstehe es auch nicht,« bestätigte die Großmutter. »Vielleicht hat er ihm bisweilen etwas mitgebracht?«
»Die Rückkehr Ehrenhofs wird nun bevorstehen?« meinte Frau Karla.
»Ich denke!« antwortete die Baronin zerstreut. »Die sechs Reisewochen, von denen er sprach, müssen jedenfalls um sein. Unsere Anzeige ist sicher verloren gegangen, sonst hätte er von sich hören lassen. Denn er hatte immer ein gewisses tendré für Hella.«
Da meldete der Diener die Ankunft einer Generalsfamilie aus der Nachbarschaft, die ihren verspäteten Kondolenzbesuch machen wollte.
Mit dem Worte trat in die gleichmütigen Gesichter von beiden Damen ein Zug würdevoller Trauer und selbst die Bewegung der Baronin, wodurch sie ihre Bereitwilligkeit darthat, die Herrschaften zu empfangen, war bereits von einer feierlichen Mattigkeit.
Auf Wunsch der Generalin mußte später auch ihr süßer Sigi erscheinen, der an der Tante so viel verloren hätte. Und so war Sigi auf volle fünf Minuten wieder einmal der Mittelpunkt des Kreises: jetzt aber noch weit stiller und scheuer als sonst.
* * *
Graf Ehrenhof war bald nach der dunkeln Stunde, die ihm Helene Throneck hatte bereiten müssen, auf Reisen gegangen – über Schweden nach Norwegen … Nicht allein hatte er zu reisen gedacht: nun es so ganz anders gekommen war, wollte er aus einer schwermütigen Laune auch allein bleiben, und hatte auf die sechs Wochen, mit Ausnahme dringender Geschäftsangelegenheiten, die Nachsendung jeder Art von Privatbriefen verboten. Von der Einzigen, die ihn noch immer ausschließlich beschäftigte, konnte er nichts erwarten – alles Übrige war ihm völlig gleichgültig erschienen.
Um so furchtbarer wurde er überrascht, als er bei seiner Rückkehr auf dem Stoß von Briefen, der indessen eingelaufen war, die Todesanzeige von Helene obenauf gelegt fand. Nun meinte er erst zu wissen, wie grenzenlos er sie geliebt, und daß er ja während der ganzen Reisezeit eigentlich über nichts gesonnen habe, als wie er eine Wendung fände, daß sie sich trotz alles Trennenden gehören könnten. Durch so viel von dem, was sie schied, hatte er sich schon durchgerungen, in der Ferne war es heller geworden, und zuweilen erschien es ihm bereits wie eine Gewißheit, daß über aller Ehre und allem Ruhm vor der Welt – das Glück des Herzens stehe. Ob er freilich Helenens Widerstand gebrochen hätte? Doch um ihres Kindes willen – was thut da eine Mutter nicht?
Dieses Kind! Der reizende Knabe! – In welchen Sorgen, welcher Angst mußte sie gestorben sein? – Er besann sich auf einmal, daß Sigi trotz der Gegenwart der Mutter schon immer in den Hintergrund gedrängt worden, daß man ihn gleichsam nur geduldet habe! – Wie mochte es ihm jetzt ergehen? und was konnte seine Zukunft sein?
Und da war es ihm plötzlich, als lindere sich sein Schmerz – bei einem Gedanken, einem holden Gedanken. Er blieb eine Weile in sich versunken stehen, bis er laut, fast freudig rief: »Ich kann's! Jetzt ist er nur noch ihr Kind!«
Die Damen auf Schloß Wolfsheim waren aufs angenehmste berührt, als Graf Ehrenhof bei ihnen eintrat. Sie bemühten sich sogar, rasch über die leidigen Beileidsförmlichkeiten fortzukommen, um recht viel von seinen Reiseerlebnissen zu hören. Doch der Graf blieb einsilbig und fragte dann inmitten aus dem Gespräch heraus nach Sigi. Frau Karla suchte auch eine genauere Antwort auf diese Frage durch die scherzhafte Versicherung zu umgehen, daß seine Bonne ihn nun fast noch mehr verwöhne, als es die Art der Tante gewesen sei.
Der Graf wandte sich an die Baronin:
»Meine gnädigste Frau, ich habe eine große Bitte an Sie!«
»Natürlich ist sie gewährt, lieber Graf,« erwiderte diese lächelnd, »wenn die Gewährung nur von mir abhängt.«
»Von Ihnen und vielleicht von Ulrich.« – Ehrenhof sah einen Moment in die Weite, ehe er hinzusetzte: »Geben Sie mir Sigi!«
»Herr Graf!« rief Frau Karla.
Ruhig fuhr er fort:
»Ich will ihn adoptieren!«
Die Blicke der Damen begegneten sich in namenloser Überraschung.
»Ich bin in alles eingeweiht!« schloß er dann ernst, während sich in den Mienen beider Damen geradezu Entsetzen malte.
»Woher?« Die Baronin brachte keinen Ton mehr über die Lippen.
Der Graf sah vor sich nieder. »Ich habe um die Hand Helenens angehalten. Sie wies mich ab und teilte mir offen den Grund mit. Meine Liebe aber ist geblieben und wird ewig bleiben. So bitte ich: gönnen Sie mir den Trost, Sigi zu besitzen.«
Die Baronin hatte sich gefaßt und entgegnete, nun tief erleichtert: »Allerdings hat in dieser Frage Ulrich zu entscheiden. Doch ich zweifle keinen Augenblick, daß er wie ich fühlen wird und Sie dieses Trostes nicht berauben könnte. Für das Glück des lieben Kindes, wie für Ihr Schweigen bürgt uns der Kavalier!«
Sie reichte ihm die Hand.
Der Graf küßte sie und behielt sie: »Nicht wahr, ich darf Sigi gleich mitnehmen? Deshalb bin ich im Brougham Eine leichte vierrädrige Kutsche für zwei Personen. gekommen! Auch habe ich daheim schon alles für ihn herrichten lassen. Er hat jetzt einen Vater, und ich bin nicht mehr einsam.«
Frau Karla erhob sich mit nervöser Hast.
»Ich rufe ihn.«
An der Hand Dorettens trat er zögernd ein: doch wie er den Grafen erkannte, stürzte er mit dem Jubelruf auf ihn zu:
»Lieber Graf, nun bleibst Du bei mir!«