Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Livia.

Novelle.


I.

Man tanzte gern bei Exzellenz Steinfurt. Dieses Ballfest war immer eins der letzten des Winters, und man meinte dann, seiner Tanzlust noch einmal volles Genüge gönnen zu müssen. Außerdem wurde im »maurischen Saal« getanzt. Die alte Exzellenz war viele Jahre lang preußischer Gesandter in Spanien gewesen, und hatte eine solche Vorliebe für die Bauten der Mauren in Granada und Cordova gefaßt, daß er sich in seiner Wiesbadener Villa, wohin er nach seiner Verabschiedung übergesiedelt war, wenigstens in dem großen Mittelsaal eine Erinnerung an jene Wunderwerke der Baukunst hatte schaffen lassen. Durch die glückliche Nachahmung übereinander getürmter Bogenstellungen, wie sie die Moschee von Cordova zeigt, erhob sich das Stalaktiten-Gewölbe des Saales noch über das zweite Stockwerk der Villa hinaus, wodurch ein ebenso kühn emporstrebender wie phantastischer Raum entstanden war.

Doch die weise Exzellenz hatte ihr Wohlgefallen an diesem Bau nicht bis zum Äußersten der Stildurchführung getrieben. So bestand der Fußboden nicht aus Fliesen oder einer Mosaik, sondern aus einem kostbaren, in maurischen Mustern gehaltenen Parkett – und ringsum im Saal, hinter, wie zwischen seinen Säulen-Reihen, die ganz den Säulen des Löwenhofes der Alhambra nachgebildet waren, gab es haut-pas mit Rücklehnen, deren Polster ein echt arabisches Gewebe aus roter, blauer und goldiger Seide überzog. In Rot, Blau und Gold war auch die Ausschmückung der Wände, wie der beiden hohen, hufeisenförmigen Thüröffnungen des Saales gehalten und sämtliche Arabesken darauf zeigten die Formen der am reichsten entwickelten Ornamente der Alhambra bis zum Friese empor, wo sich eine in das Rankenwerk verwebte kufische Schrift hinzog, die hier aber nicht zu frommer Kniebeuge, sondern zu fröhlichem Reigen aufrief.

Das Orchester, das auf einer Empore über der Hauptthür hinter abgetreppten maurischen Zinnen saß, hatte eben eine Lancier-Quadrille Ein im 18./19. Jh. beliebter zusammengesetzter Tanz, der aus fünf Figuren oder Touren besteht, die jeweils viermal aufgeführt werden, so dass jedes Paar den Hauptteil tanzt. beendigt, und unten im Saal wogten die Tänzer-Paare durch einander, um sich nach ihren Sitzen zu begeben. Nach altem Gebrauch waren dies die zurückstehenden, an den Wänden aufgestellten Divans, während die vorderen von den Herrschaften eingenommen wurden, die dem Tanze nur zuschauten.

Gegenüber dem Orchester hatte sich eine Gruppe von Herren zusammen gefunden, in der es schon während der Quadrille beißende Randglossen zu hören gab, die jetzt aber fast Jeden, der in ihrer Nähe vorüberkam, mit Sticheleien bedachte. Namentlich der alte Graf Chabrillan wußte in kleinen Malicen nebst bösartigen Folgerungen das Mögliche zu leisten und der größte Teil der anwesenden Gesellschaft, die aus der gesamten fine fleur des Weltbades bestand, gab in ihren verschiedenen, auf- wie niedersteigenden Lebensläufen auch reichlichen Anlaß zu Randglossen jeder Art. Beinahe Aller Parole war ja bloßer Lebensgenuß, hier in derberen, da in feinen Formen; und bis zur vollen Sättigung darin wurden oft so wunderliche Wege eingeschlagen, daß es wirklich belohnte, ihnen nachzuspüren, um über menschliche Schwäche von Herzen lachen zu können. Und Jeder lachte so lange mit, bis eines Tages auch über ihn gelacht wurde.

Plötzlich löste sich Graf Chabrillan von der Gruppe seiner Anhänger, nicht ohne sich durch eine prickelnd scharfe Bemerkung über das neueste Abenteuer einer als erotisch bekannten jungen Generalin einen guten Abgang gesichert zu haben, und schritt quer durch den Saal auf eine Dame zu, die sich lebhaft mit mehreren Herren unterhielt.

In beinahe ehrerbietiger Haltung verneigte er sich vor ihr und sagte, während er mit vornehmer Lässigkeit die herumstehenden Herren grüßte, in vorwurfsvollem Tone: »Aber Durchlaucht, auch diesen kühlsten aller Ballsäle meiden Sie nicht einmal! Hat Graf Raimund diese Extravaganz wirklich zugegeben, oder –?«

»Das ›Oder‹ trägt jedenfalls die Schuld an meiner Anwesenheit?« fiel Gräfin Mattenau ihm kühl ins Wort. »Sie sind fast impoli, Graf! Statt sich, wie hier Baron Antitz und Herr von Minnenberg ein klein wenig über die einzige stilvolle Toilette zu freuen, die für den wunderlichen Saal gemacht worden« – sie trat einen Schritt zurück und präsentierte lächelnd ihre weiße, goldgestickte Damastrobe, deren kostbarer Spitzenbesatz von roten und blauen Marabouts gerafft wurde – »statt dessen möchten Sie mich zu Hause eingesperrt wissen! Ich hatte Exzellenz Steinfurt aber dies maurische Kostüm versprochen, und ich pflege zu halten, was ich verspreche!« Die Worte waren in einer gewissen Hast und zerstreuten Unruhe gefallen, während in ihren bleichen Wangen das Blut kam und ging, und ihre Blicke umherirrten.

Graf Chabrillan hatte von dem breiten Halbmond aus Saphiren und Diamanten im schwarzen Haar der Gräfin, der vereint mit der Rivière aus den gleichen Edelsteinen ihr Haupt wie in einen funkelnden Lichtreif einschloß, auf ihre Schultern in ihrer krankhaften Blässe gesehen. Nun erwiderte er noch in derselben väterlich besorgten Weise: »Steinfurt könnte Besseres thun, als sich solche fragwürdige Versprechen geben zu lassen! Überhaupt hätte sich die Polizei gleich beim Bau dieses hundertsten Weltwunders einmischen sollen, und aus sanitätspolizeilichen Rücksichten ihr Veto einlegen müssen! Die Wiesbadener Doktoren werden reich durch dieses ›himmlische Steinmärchen‹, wie es jetzt unser Lokal-Anzeiger den Fremden anpreist: drei Tage nach dem maurischen Fest pflegt eben Alt und Jung an Rheuma fest zu liegen. Ich selbst habe es schon zweimal exekutiert!«

»Und sind doch wieder hier?« warf Herr von Minnenberg hin.

»Weil man hier gewesen sein muß!«

» En tout cas!« stimmte die Gräfin zu. »Gerade diesem Argument vermochte auch Raimund nichts mehr entgegenzusetzen.«

Die Musik begann in langen, durch Sordinen gedämpften Trillerketten das Vorspiel zu einem Walzer. Während die neuen Paare zum Tanze antraten, verließ Gräfin Mattenau die Herren, um ein paar Damen zu begrüßen.

Chabrillan sah ihr nach und bemerkte ernst zum runden kleinen Antitz, der bei ihm stehen geblieben war: »Kleiner, lange behalten wir sie nicht mehr!«

»Ich bitte Sie!« versetzte der Baron erschrocken. »Kommt sie Ihnen schon wieder verändert vor?«

»Sehr!« erwiderte Chabrillan. »Ihr Körper, wie soll ich sagen? scheint sich mehr und mehr zu verflüchtigen! Sehen Sie doch ihren Hals! so durchsichtig zart! Dabei dieses Hervortreten der Schultern! Engelsflügel nennt sie das tiefsinnige Volk. Ah!« Der Graf wandte sich kurz ab, wie wenn ihn der Anblick peinige.

»Und nun wird sie gar tanzen!« rief Antitz.

»Das darf Mattenau nicht zulassen!« entgegnete Chabrillan, indem er sich wieder nach der Gräfin umsah.

»Nicht zulassen?« wiederholte der Baron. »Er selbst scheint mit ihr anzutreten.«

»Nun, Kleiner, dann haben wir nichts mehr zu sagen und uns jedenfalls darum nicht zu kümmern!« Chabrillan steckte den Arm des Barons unter den seinigen. » Madame la princesse waren über meine vorherige Mahnung schon ungnädig genug! Was auch weiter? Ob eine elegante Frau mehr oder weniger auf der Welt ist – es wachsen immer neue! Aber schade ist's doch um sie.«

Gräfin Mattenau war wirklich, nach einigen Präliminarien, da ihr Gatte ebenfalls abgeraten hatte, mit ihm zum Walzer angetreten. Sie zeigte bei ihrer Unruhe sogar Lust, noch ehe die Reihe an sie kam, loszutanzen. Das hinderte der Graf aber: auch führte er sie dann beim Walzer selbst im innersten Kreise der Tanzenden fort und so langsam, als es das Tempo zuließ.

Anfangs schien sie sich ohne Beschwerde dem Vergnügen hinzugeben; bald legte sie sich jedoch ganz auf seinen Arm und er fühlte das starke Klopfen ihres Herzens. In einer rascheren Wendung querte er mit sicherem Geschick den Saal und brachte sie, kaum von anderen Paaren gestreift, an ihren Platz zurück. Schwer atmend sank sie auf den Divan und lehnte ihr Haupt mit geschlossenen Augen an seinen Arm.

»Hatte ich nun Recht, Livi?« fragte er in zärtlicher Sorge.

Da stand die Gräfin aber sofort auf den Füßen und erwiderte, einen kurzen Husten mit dem Taschentuche erstickend: »Es ist schon vorüber! Und es war wunderschön: Du bist und bleibst mein Ideal eines Tänzers. Wir müssen hie und da auch wieder bei uns tanzen! Weißt Du noch, ehe wir heirateten? Jeden Abend tanzten wir doch? Und Papa spielte uns so gern dazu auf! Ich seh' es noch, wie er's kaum erwarten konnte, daß Jean den Flügel öffnete.« Sie setzte sich wieder. »Das ist lange her!«

»Ganze vier Jahre!«

»Damals war ich gesund! Das heißt«, fuhr Livia lebhaft fort, »ich fühlte mich gesunder als heute! Siehst Du, ein Mädchen von neunzehn Jahren ist eine ganz andere Personnage als eine gesetzte Frau von Vierundzwanzig!«

Graf Raimund nickte, scheinbar ernsthaft. »Gewiß! Wenn eine Frau so viel Sorgen hat wie Du, da ist es überhaupt eine Art von Wunder, daß sie sich noch ein Bischen Lebenslust bewahren konnte.«

»Nun scherzest Du wieder!« schmollte sie. »Doch habe ich nicht Sorgen? Schon um mich! Um Dich aber immerfort!«

Graf Raimund richtete sich zu seiner vollen Höhe auf, ein Bild kraftstrotzender, deutscher Schönheit: das starke blonde Haar gekraust, ebenso der mächtige Vollbart – die Brust beinahe zu kräftig entwickelt, während die Taille das jugendlichste Ebenmaß zeigte. Halb seine Augen schließend, deren helles Blau bei der Erregtheit nach dem Tanze dunkel geworden war, versetzte er übermütig: »Ich denke, Sorgen um mich wären vor der Hand unnötig! In dreißig Jahren vielleicht! dann reden wir einmal wieder davon! Gilt der Pakt, Livi?«

Er sah warm und innig zu ihr nieder. Sie schauerte leicht zusammen, und nur ihre brennenden Blicke, die sich verzehrend an die seinigen hingen, gaben ihm Antwort. –

Da fiel es von seitwärts wie ein Schatten; ein Lichtreflex, der auf Graf Mattenau gelegen hatte, erlosch. Die Gräfin wandte sich um und traf auf die fröhlichen Augen der Cousine ihres Gatten, die hinter der nächsten Säule hervorgetreten war, und nun neckisch ihre Tanzkarte emporhielt. Mattenau begriff sogleich und bat lachend: »Tausendmal Vergebung, Georgy! Hier mein Teuerstes wollte durchaus tanzen, und so habe ich auf Dein älteres Recht vergessen. Es ist aber noch Zeit: dort drüben können wir uns auch in die Reihe einschmuggeln!« Damit gab er Fräulein von Schönborn den Arm und walzte gleich darauf mit ihr, als erstes Paar der neuen Kolonne, durch den Saal.

Livia folgte mit starren Augen den Bewegungen des Paares. Georgy Schönborn in ihrer allerdings ein wenig zu massigen, aber so kerngesunden Erscheinung paßte vortrefflich zu ihrem Partner. Von ihrem üppigen goldroten Haar lagen ein paar schwere Locken auf ihrem rosigen Nacken: die eine davon hatte sich gelockert und flog hier und da über die Hand des Grafen hin, die straff seiner Tänzerin Taille umspannte. Nach dieser Locke und dieser Hand mußte die Gräfin immer von neuem blicken. Dabei bemerkte sie auch plötzlich, mit welchem Feuer das Paar tanzte: völlig an den Genuß hingegeben, in diesem Augenblick nichts als sprühendes und mit einander geteiltes Leben! Wie anders, als sie mit ihm getanzt hatte! – Worüber sie nur fortdauernd zu lachen haben? Sie spricht auch unaufhörlich! Quel inconvenance! – Endigt der Tanz nicht? –

Die Gräfin sah zürnenden Blickes zu dem Orchester empor. Und wie wenn der Kapellmeister ihrem Verlangen hätte Folge geben müssen, klopfte er mit dem Bogen auf – und an das Ende des eben begonnenen Teiles schloß sich in wieder gedämpften Trillerketten der Schlußsatz des Walzers.

Nur röter geworden, sonst ganz unberührt von der Anstrengung, kehrten der Graf und Georgy Schönborn, noch Arm in Arm, zu Livia zurück. Sie erhob sich hastig: »Mich friert, ich will nach Hause!«

»Aber Livia!« warf Georgy betroffen ein. »So früh? Da liegt Dein Spitzenmantel, nimm ihn um!« Sie versuchte sie einzuhüllen. »Nun kannst Du doch nicht mehr frieren?«

Die Gräfin widerstrebte ungeduldig. »Der hilft nichts! Ich muß zur Ruhe.«

Mattenau hatte die Gattin still angesehen und sagte mit gutmütiger Neckerei: »Quäle mir meine Durchlaucht nicht, Georgy! Du weißt, sobald sie diesen Ton anschlägt, befiehlt die Prinzessin und wir haben einfach zu gehorchen. Übrigens Scherz bei Seite! Ich bin Dir nur dankbar, Livi! Es ist mir eine wahre Beruhigung, daß wir früh heimkommen.«

Georgy drehte ihre Tanzkarte in Händen: »Noch vier Tänze habe ich besetzt!«

»So kann Dich der Wagen, wenn Du wünschest, abholen!« bemerkte Livia gleichmütig. »Als Dame Patronne wird die Excellenz mit Vergnügen eintreten!« –

Auf der Rückfahrt sprach die Gräfin, die sich fest in ihren Sealskin Ein Pelz aus Robbenfell. gehüllt hatte, kein Wort; als sich aber Mattenau im Salon mit einem Kusse von ihr verabschieden wollte, schüttelte sie den Kopf, warf den Pelz ab und setzte sich auf einen dos-à-dos Ein Möbel mit Rücken an Rücken angeordneten Sitzbänken. vor dem Kamin, in welchem ein starkes Feuer brannte. Von dem eintretenden Kammermädchen ließ sie sich nur den Schmuck abnehmen und befahl, Thee zu bringen. »Doch vielleicht trinkst Du lieber Deinen Niersteiner?« fragte sie den Gatten.

Er bejahte, während er ebenfalls Platz nahm. »Am Ende wärst Du noch gern geblieben?« setzte sie mit einem mißtrauischen Blick hinzu. »Du bist so einsilbig!«

»Nur abgespannt! Chabrillan kann ja niemals genug bekommen. Unser Ritt heut Morgen war zu lang.«

»Deinem Tanzen vorhin ist davon nichts anzumerken gewesen!« Sie trommelte unbewußt auf einem Tischchen, das neben ihr stand. »Was hattet Ihr denn immer zu lachen? Georgina zeigt wenig Chic!«

»Oh!«

»Immerwährend sprach sie zu Dir!«

»Daran«, lachte der Graf, »war ich Schuld!«

»Du?« Livia hob ungläubig die Schultern.

»Ja, ich! Bei dem feurigen Tempo des Walzers fiel mir eine kleine Scene bei einem Erntefeste in Kleschewo ein: Georgy und ich tanzten auch so flott, und lagen plötzlich Beide auf der glatten Tenne! Sie vermochte sich im ersten Augenblick vor Lachen nicht zu erheben, so lachten denn sämtliche Knechte und Mägde ebenfalls los, bis der Onkel mit seinem Aplomb Mit seinem souveränem Auftreten. dazwischen trat.«

Die Gräfin schien dieser natürlichen Aufklärung durchaus keinen Geschmack abzugewinnen, schwieg aber, da gerade ein Diener hereintrat.

Erst als er das Theezeug, wie die Karaffe mit Wein und eine Platte mit allerlei Gebäck auf dem Tischchen neben ihr geordnet hatte und gegangen war, sagte sie: »So sind denn unsere Wintervergnügungen glücklich zu Ende! Das Esserbecksche Diner am Sonnabend – wirst Du hin? Ich keinesfalls!« ö

»Georgy hatte mit dem Fräulein, so viel ich hörte« – –

»Wenn ich refüsiere, kann Georgina doch kaum hingehen? Es ist ein offizielles Diner! Metternichs kommen, Assenbergs, all unsere Spitzen!« Der Graf sah sie verwundert an. Livia begegnete seinen Blicken nicht; sie goß sich Thee ein und trank, wobei sie in die Flammen des Kamins starrte. Ihre Tasse niedersetzend, fragte sie: »Darf ich Dir Wein einschenken?«

»Ich bitte!« Er hob ihr stumm das Glas entgegen, dann leerte er es auf einen Zug. »Warum soll Georgy eigentlich nicht hingehen? Mit mir?«

»Eben mit Dir! Ich halte das bei dieser Gelegenheit nicht für passend.« Eine unbeherrschte Erregung machte selbst den Klang ihrer Stimme vibrieren. »Sonst bliebe ich auch allein! Und ich bin so ungern allein.«

»Nun, dann sage ich selbstverständlich gleichfalls ab!«

»O, Du liebster Mann!« Sie faßte mit beiden Händen nach seiner Hand und streichelte sie zärtlich.

»Wenn Du bei mir bist, was ist mir die ganze Welt? Dann bedarf ich keiner Zerstreuung, nicht eines anderen Gedankens! Du und immer Du! Fort sollen sie alle bleiben, Niemand mein Glück stören. Ich werde immer eifersüchtiger, Raimund! Wenn eine Andere Dich nur anspricht, zittre ich. Woher es kommt? ich forsche nicht darnach. Neulich dachte ich einmal tief in mich hinein und da –« sie barg mit einem Aufschluchzen den Kopf an seiner Brust.

»Um Gotteswillen, Livi!« bat der Graf. »Du sollst Dich ja nicht so gehen lassen! Denke an die ewige Bitte des Medizinalrats – keine Aufregung! Willst Du Dich mit Gewalt kränker machen? Thue ich nicht Alles, Alles, was Du wünschest, was Dich beruhigen kann?«

Die Gräfin sah den Gatten mit einem unsäglichen Flehen an. »So laß Georgina abreisen!«

»Livia!«

»Ich beschwöre Dich!«

»Warum aber? Warum? Und es ist ganz unmöglich!«

»Auch wenn ich neben ihr leide? Ihr Wesen wird mir von Tage zu Tage unsympathischer; ja, kaum ertrage ich noch ihre bloße Erscheinung. Diese Überfülle an ihr degoutiert mich! Dabei ihr ewiges Lachen!«

»Sie ist eben eine heitere und gesunde Person!« entschuldigte sie der Graf. »Allerdings ein wenig derb und nicht immer rücksichtsvoll! Doch Du bist jetzt überreizt: denn wenn Dich Gesundheit an sich schon quälen könnte, wie müßte ich Dich quälen!«

»Dich liebe ich! Auch ist das ganz etwas Anderes!«

»Daß ich nicht wüßte! Gesund bleibt gesund.«

»Beim Mann ist das natürlich, wir Frauen« –

»Herz, besinne Dich!« Der Graf lächelte.

»Ich will es einmal nicht«, rief sie ungestüm, »daß Du fortwährend vergleichen mußt! Ihr strotzendes Leben und bei mir –? – Nein, nein! Auch ich lebe ja und werde an Deiner Seite bleiben. Raimund! Wo, an welchem Orte würd' ich es ertragen ohne Dich? Und käme ich gleich ins Paradies, ich kehrte zurück: wie jenes arme Seelchen, von dem wir einmal lasen. O Gott, wenn sie dann auf Deinen Knieen säße! Ich stürbe zum zweiten Mal.«

»Meine Einzige«, suchte der Graf sie zu beruhigen, »Du bist da und wirst bei mir bleiben! Und liebe ich Dich nicht allein, wie ich Dich von immerher geliebt habe? Wozu also solche marternden Vorstellungen?«

Sie sah ihn schwermütig an. »Irgendwo in meinem armen Kopf müssen die Gedanken stecken! Sie kommen immer wieder und quälen mich unaussprechlich. Jeder ist ein anderer, und doch bleibt das Ganze stets dasselbe: ich und Du. Hassen könnt' ich jeden Dritten, der mir etwas von Dir nimmt! Und sind es auch nur Augenblicke, die sie mit Dir verplaudern. Ich geize schon mit Allem! Darum laß Georgina fort!«

Graf Mattenau erhob sich und ging einmal durch's Zimmer, ehe er in mildem Tone antwortete: »Nimm Vernunft an, Liebste? Wie Du's zu wollen scheinst, auf den Moment, ist es in der That eine Unmöglichkeit. Was würde der Onkel sagen und empfinden? Bei seinem Feingefühl – bei den Verpflichtungen, die er mir auferlegt hat! – Noch keine drei Wochen ist Georgy bei uns; wir haben sie eingeladen, hier zu bleiben, bis wir nach Davos gehen, und nun soll sie von einer Stunde zur anderen heimkehren? Deine jetzige Reizbarkeit wäre doch nur ein Grund mehr, sie hier fest zu halten! Auf Deinen Wunsch haben wir die vielen Beziehungen angeknüpft, allein strengt Dich jetzt aber die Repräsentation doch zu sehr an. Und vertritt sie Dich nicht trotz der Flausen, die sie immer im Kopf hat, ganz leidlich? Ich war von Herzen froh, Dir so viel abgenommen zu sehen! Nun möchtest Du mich aus einer Laune wieder in tausend Verlegenheiten stürzen!«

»Es ist keine Laune!« seufzte die Gräfin.

»Eine Marotte aber gewiß!« entgegnete Mattenau, sich von neuem setzend. »Übrigens thut das Wort nichts zur Sache! – Selbst vor den hiesigen Bekannten, wie sollten wir den Eklat entschuldigen? Und denke Dich in Georgy hinein! Sie fühlt sich so glücklich hier: Jahr für Jahr sitzt sie in dem einsamen Kleschewo und besucht höchstens auf Wochen eine Freundin, oder geht mit dem Onkel nach Karlsbad. Nicht wahr, Du siehst ein –«

»Daß ich mich in Etwas zu fügen habe«, unterbrach sie ihn heftig, »was mich vor der Zeit fortnehmen wird.«

»Livi!« Er ergriff ihre widerstrebenden Hände. »Du stellst mich wieder einmal vor eine Unfaßbarkeit! Auch heute werde ich aber Deinen Willen zu erfüllen suchen, weil ich sehe, daß Du leidest. Die Ursache davon muß jedenfalls aufhören. – Wär' es Dir also recht, wenn wir eher nach Davos gingen? nicht erst im Mai – in etwa zwei bis drei Wochen? Bis dahin könnten die notwendigsten Vorbereitungen beendigt sein.«

»Ich habe gar keine Lust, fortzugehen!« erwiderte Livia mit einem tief müden Ausdruck. »Hier ist es so behaglich und der Frühling kommt.«

»Wenn der Medizinalrat nicht darauf dränge«, entgegnete der Graf, »wie gern redete ich Dir zu, hier in Deiner Ruhe zu bleiben! Du weißt so wie so, Davos gerade mit seinem Höhenklima bleibt mir verdächtig. Dieses raschere Atmen dort, ich kann mir nicht helfen –! – Doch man ist nur ein Laie! Du fühltest Dich im vorigen Jahre darnach auch gestärkt! Wie wär's mit einer früheren Abreise?«

»Wenn es sein muß?«

»Ich sehe und finde keine andere Möglichkeit, Georgy heimzusenden. Wenn wir selbst aber so bald abreisen, dann könnte sie in etwa zehn bis vierzehn Tagen fahren! Das läßt sich verantworten!«

Die Gräfin lächelte. »Und sollte ich mich am Tage unserer projektierten Abreise etwa angegriffen fühlen, wird sie eben verschoben. Du bester, bester aller Männer! – So geht es, und die zehn Tage will ich noch aushalten, besonders, wenn Du versprichst, mich ein wenig zu verwöhnen!«

»Noch mehr?«

»Ja, ja! Du vermagst selbst das Undenkbare! Wie oft meinte ich schon, lieber, herzlicher, einziger als er jetzt ist, kann er nicht mehr sein! Und am nächsten Tage war das Wunder da, all die süße Vergangenheit so übertroffen, daß mein Herz bis zum Zerspringen hämmerte – vor Rausch und Entzücken.« Sie warf sich in seine Arme und küßte ihn mit leidenschaftlicher Inbrunst. –


II.

Gräfin Mattenau hatte sich in einen Schaukelstuhl geschmiegt. Von dem bordeauxroten Seidenkissen, das auf der Rücklehne des Stuhles lag, und der gleichfarbigen Decke, die sie einhüllte, hob sich ihr scharf geschnittenes, längliches Gesicht mit den von breiten Lidern halb bedeckten, schwarzen Augen beinahe wachsgelb ab.

Bereits eine ganze Weile hatte sie regungslos dagesessen, die Blicke auf das bunte Blumenparterre draußen gerichtet, das sich in den warmen Strahlen der Märzsonne wohlig badete. Die gelben und violetten Krokus spreiteten schier sichtlich ihre Blumenkelche aus und durch die Schneeglöckchen und Scillas fuhr bei jedem Windhauch ein wonniger Schauer.

An der anderen Flügelthür des Gartensaales, die offen stand, saß Georgy Schönborn, zwar eine Stickerei im Schoße, doch ohne daran zu arbeiten. Mit leicht geöffneten Lippen trank sie förmlich die belebende Frische und den herben Erdgeruch, der vom Garten hereinströmte. Die Gräfin bemerkte es und damit zugleich, daß sie selbst fröstle: so zog sie die Decke, die allmählich bis auf ihre Füße hinabgeglitten war, wieder herauf. Und sie that es mit einem solchen Ausdruck des Unbehagens, daß Georgy fragte, ob sie die Thür etwa schließen solle?

Livia nickte.

Über das offene, jeden Eindruck wiederspiegelnde Gesicht von Georgy glitt ein Lächeln, ging aber auch ein Zug des Mitleids, als sie die Glasthür geräuschvoll schloß.

Wieder wurde es still im Saal und Georgy nahm endlich die mitgebrachte Arbeit auf. Während sie die Farben einiger Seidentöckchen mit dem schon fertigen Teil der Stickerei verglich, sagte sie auflachend: »Raimund war wieder so komisch!«

Die Gräfin zog die Augenbrauen zusammen. »Wann? Ich denke, er ist nach dem Kurhause gegangen?«

»Er kam noch einmal zurück! Du warst schon oben.«

»Und was hat er da Komisches gethan und gesagt?«

»Er erzählte von den dicken Geheimrats drüben! Mit denen ist gestern der Tilbury umgefallen, und der Mann wäre beinahe erstickt, weil er die Sylphe von Frau nicht abschütteln konnte. Denke Dir nur das Bild! Der Bediente, der Kutscher und ein Bauer haben an ihr gezogen, bis sie sie in die Höhe bekamen. Und Raimund benutzte die Gelegenheit, mich ganz ernstlich zu warnen! Ich wäre auf dem besten Wege, ein ähnlicher Koloß wie die Geheimrätin zu werden!« Sie lachte von neuem hell hinaus.

Livia stimmte nicht in das Lachen ein. »Du besitzest übrigens eine eigene Gabe«, bemerkte sie mit einem Anfluge von Spott, »alle Welt zu erheitern! Raimund erschien noch bei Tische so ernst gestimmt« –

»O, für Den weiß ich immer Rat!« fiel Georgy ihr ins Wort. »Wenn man sich so genau kennt, wie wir Beide! Ich brauche ihn nur an eine von unseren lustigen Kindergeschichten zu erinnern, dann muß er schon lachen. Was haben wir auch Alles zusammen angegeben! Worin der Eine nicht Bescheid wußte, darin wußte es der Andere. Er kam ja in den Sommerferien fast immer zu uns! Was er in der Stadt dann an Tollheiten wieder gelernt hatte, das brachte er mir bei. Oft zum höchsten Schrecken von Mama! besonders bei unsern Reitkünsten. Es war zum Totlachen, wie sie sich ängstigen konnte! Papa natürlich sagte bloß: Unkraut vergeht nicht.«

»Nach Deinen Erinnerungen«, versetzte die Gräfin ironisch, »müßte man geradezu meinen, Raimund habe das heiterste Temperament der Welt«.

»Das hat er auch!«

»Davon habe ich bis jetzt wenig bemerkt!«

»Du!«

»Warum sollte ich das nicht auch bemerken können?«

Georgy zögerte mit der Antwort

»Nun? Du pflegst doch sonst von einer bezaubernden Ungenirtheit zu sein.«

»Sonst!« wiederholte das junge Mädchen gedehnt und ließ ein Töckchen Seide vor den Augen hin und herschwingen. »Wenn Du es aber wünschest? Raimund ist aber auch fabelhaft gutmütig und richtet sich mit Jedem ein. Wo er gar liebt« – –

»Selbst davon weißt Du etwas?« Es begann in den Zügen der Gräfin zu arbeiten.

Georgy sah sich nicht nach ihr um, sondern fuhr gedankenlos fort: »O, wir haben uns auch geliebt! Er war der galanteste Cousin, und von all meinen Freundinnen in der Pension hatte ich sicher stets die ersten Veilchen und Rosen, und gar Obst brachte er immer von Mattenau, in einer Menge und von einer Schönheit, daß mich Alle um den Cousin beneideten. Ja, es galt bei Vielen schon als ausgemacht« – – sie stockte wieder.

Die Blicke Livias wurden stechend, und zwischen ihren seltsam hochgeschwungenen Augenbrauen grub sich eine dunkle Falte in die Stirn.

»Dann freilich sah er Dich!« schloß Georgy mit einem lauten, an Albernheit grenzenden Auflachen, »und Sehen und Lieben war eins.«

»Da wir einmal bei Confidencen sind,« begann Livia nach einer Pause von neuem, »warum hast Du denn eigentlich noch immer nicht geheiratet? Raimund sagte mir – ich denke im vorigen Jahre, Dein Vater habe ihm aus Karlsbad geschrieben – ein böhmischer Herr interessiere sich für Dich?«

»Es war so was!« Georgy ließ wieder das Seidentöckchen tanzen. »Ich mocht' ihn aber nicht: er sollte wohl reich sein, auch von guter Familie, er war aber so dick!«

»Nun, bei Deiner Fülle« –

»Ja, bei ihm war aber Alles bloß aufgeschwemmt! so meinte Papa. Und er hatte ganz braunrote Backen! Ich mußte auch immer lachen, wenn er mich mit seinen schwimmenden Äuglein verliebt anzwinkerte. – Ach nein! man hat ja noch Zeit! Mit kaum zweiundzwanzig Jahren! Wer weiß, was mir noch beschieden ist?« Sie sah nach dem Garten hinunter.

Blitzhaft mußte in Livia wieder der Gedanke an jene Möglichkeit aufgestiegen sein, die sie entsetzte: sie fuhr schwer atmend nach der Brust. Gleich darauf folgte sie aber finster den elastischen Bewegungen Georgys, die sich erhob und an die Flügelthür trat. Wie schwellend und doch straff sich ihr Nacken aus dem Federgekräusel hob! Das leuchtende Haar! Sie wäre eine Schönheit, hätte sie nicht den banalen Zug im Gesicht. Daran aber gewöhnte man sich! Georgy wandte sich nach der Cousine um. –

»Raimund ist zurück! er spricht eifrig mit dem Gärtner.«

»Wahrscheinlich wegen der Bosketts!« erwiderte Livia zerstreut. »Es sollen noch Blutbuchen hinein!«

»Ja, dann werden sie sich machen!« rief Georgy, von neuem hinausblickend. »Ich liebe Blutbuchen furchtbar! In Kleschewo stehen ein paar auf dem Rasen hinter dem Schloß: ganz alte Bäume! Wenn die Sonne durch das braunrote Laub scheint – es ist geradezu romantisch! Da saßen Raimund und ich immer am liebsten! Besonders, wenn wir traurig waren.«

»Traurig konntet Ihr auch sein?«

»Ich, bis über den Kopf, wenn er einmal früher als ich abfahren mußte, oder eins von unsern Tieren gestorben war und wir über das Begräbnis beratschlagten! Dabei kann man doch nicht lachen? Papa sagt auch immer: wer nicht recht traurig sein kann, kann nicht recht lustig sein. – Und gar als Mama noch lebte! Die war fast wie Du! Wenn wir zu ihr gingen, erinnerte die Gouvernante schon immer: Doucement, Mademoiselle et Monsieur! Ganz still und ohne eine Miene zu verziehen haben wir dann bei ihr sitzen müssen und Bilder besehen. Nachher freilich ging es immer am tollsten zu!« Sie sah ganz seitwärts durch die Thür. »Raimund scheint mit dem Gärtner noch in den Hof zu gehen!«

Längere Zeit blieb es wieder still im Zimmer. Georgy hatte sich von neuem gesetzt und ihre Stickerei vorgenommen, während die Gräfin sie fortdauernd beobachtete. – Endlich sagte Livia, der die Stille peinlich zu werden schien: »Du solltest ein wenig spielen oder singen!«

Das junge Mädchen sprang sofort auf und warf die Arbeit wie erlöst zusammen. »Ach ja! Was spiel' ich aber?«

Während sie tänzelnd nach dem Flügel ging und dann unter ihren Noten suchte, besann sie sich eines Anderen. »Nein, ich bin heute gut bei Stimme und werde lieber singen! Ein paar von den letzten Brahmsschen Liedern, für die mein Lehrer so schwärmt! Die habe ich bei Euch noch gar nicht vorgenommen.« Sie präludierte in zwei, drei raschen Gängen über die ganze Klaviatur und begann darauf das Lingg-Brahmssche Lied »Immer leiser wird mein Schlummer.«

Ihre große, wohlgebildete Altstimme distonierte zuweilen bei den Einsätzen, sonst klang jeder Ton voll und rein durch den Raum. Livia, die sich wieder in den Stuhl zurückgelehnt hatte, erschien im Beginn interesselos, wurde aber bald aufmerksam und lauschte angestrengt auf jedes Wort:

Oft im Traum hör' ich Dich rufen
Draus vor meiner Thür,
Niemand wacht und öffnet Dir,
Ich erwach' und weine bitterlich!

Ja, ich werde sterben müssen,
Eine Andere wird Dich küssen,
Wenn ich bleich und kalt,
Eh' die Maienlüfte weh'n,
Eh' die Drossel singt im Wald. –
Willst Du mich noch einmal seh'n,
Komm, o komme bald!

Georgy hatte der dumpfen Schwermut des Anfangs, wie der tief rührenden Klage der zweiten Strophe keinen üblen Ausdruck gegeben, da sie trotz ihrer Oberflächlichkeit für sentimentalen Gesang eine besondere Neigung und Virtuosität besaß. – Graf Mattenau war während dieser letzten Strophe in die Thür des Saales getreten. Er hatte schon draußen bei der schwermütigen Melodie ein instinktives Mißbehagen empfunden. Dies Gefühl steigerte sich natürlich, als er Livia im Zimmer fand, und mit einem Blick den Eindruck gewahrte, den das Lied auf sie machte. Dennoch wagte er Georgy nicht zu unterbrechen, um die Peinlichkeit der Situation nicht zu vermehren.

Als sich Georgy, nach Beendigung des Liedes, aber mit ganz glücklichen Augen umkehrte und rief: »Es ist doch reizend!«, eilte er auf die Gattin zu, eine Zärtlichkeit und Entschuldigung auf den Lippen. Doch Livia warf die Decke von sich, zischte ihm entgegen: »Im eigenen Hause! Hältst Du auch das noch für erträglich?« und verließ zorngerötet und Verachtung im Blicke den Saal.

Mattenau folgte ihr, indem er im Vorbeigehen die Cousine anherrschte:

»Wie war es möglich? Du bist die Gedankenlosigkeit selbst!«

Georgy sah ihm mit einem schüchternen Lächeln nach, nahm dann das Notenheft und begann kopfschüttelnd den Text des Liedes zu lesen. Als sie an die zweite Strophe kam, begriff sie natürlich, woran sie gerührt hatte. Sie sah wohl eine Minute lang in das Heft, ehe sie sich langsam erhob und vor sich hin murmelte:

»Ob sie wirklich schon sterben muß?«

Einen Augenblick stand sie noch in Gedanken, dann flog sie in einer Pirouette nach der nächsten Thür zum Garten. –


III.

Der Medizinalrat, Dr. Wettrich, hatte seinen täglichen Besuch bei der Gräfin Mattenau bereits gemacht, und sie heut sogar verhältnismäßig wohl, mindestens frischer als in den letzten Tagen gefunden; um so mehr war er betroffen, als ein gräflicher Diener ihn gegen Mittag zu Ihrer Durchlaucht beschied. Aus welchem Grunde vermochte Jaques nicht zu sagen. –

Mit einer Frage im Blick trat Dr. Wettrich in das Boudoir der Gräfin. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, ohne ihm aber wie sonst die Hand von ihrer Chaise-longue aus entgegen zu strecken. Ganz in einen flockigen, ambrafarbigen Shawl gehüllt, schien sie zu frieren!

»Sie sehen noch verwundert aus, daß ich schon wieder bitten ließ!« begann sie scherzend, während der Medizinalrat auf ihre Bewegung hin in einem Armstuhl ihr gegenüber Platz nahm und Hut und Handschuhe auf einen Puff neben sich legte. »Doch als Sie vorher hier waren, verließ uns mein Mann keinen Augenblick, und so konnte ich meinen Wunsch nicht vorbringen.«

»Welchen Wunsch, Durchlaucht?«

»Sie allein zu sprechen! Der Graf ist jetzt lesen gegangen, und vor jeder sonstigen Störung habe ich uns gesichert.« Sie sah nach der Portière, die in ihre Garderobe führte, und bat Dr. Wettrich die Thür dahinter auch zu schließen.

Als er sich erwartungsvoll von neuem niederließ, ging die Gräfin sofort auf ihr Ziel los, indem sie scheinbar mit voller Ruhe fragte: »Wie lange habe ich noch zu leben?« Nur in ihren Blicken stand etwas Undurchdringliches.

»Meine gnädigste Gräfin« –

»Aber bitte keine Winkelzüge, Herr Medizinalrat!« rief sie hart und mit heiserer Stimme. »Einmal bedarf ich ihrer nicht: Noblesse oblige! Eine Prinzessin Hardegg muß Alles hören können, was sie angeht, pflegte schon mein Vater uns Kinder zu lehren! Außerdem aber will ich meinen Zustand genau kennen! Au pis aller habe ich noch verschiedene Anordnungen zu treffen!«

Dr. Wettrich wiegte den Kopf, ohne die Gräfin aus den Augen zu lassen. Blick grub sich dabei in Blick. Endlich antwortete er mit gleichmütiger Gemessenheit: »Warum wollten Sie die nötigen Anordnungen nicht treffen? Für alle Fälle! Ein Menschenleben ist eben kein rares Ding: die Natur schafft uns, sie vernichtet uns, ohne sich darum erst befragen zu lassen. Eine so lange Leidende wie Sie, Durchlaucht, hat also doppelten Grund, auf ihrer Hut zu sein. Weiter bedeutet es nichts! Wie viele Siebziger habe ich schon in einer Stunde der Depression ihr Testament machen sehen, und schließlich humpelten sie noch munter in die Achtzig hinein.«

»Von mir erwarten Sie das nicht?« rief sie bitter.

Der Medizinalrat hob die Schultern. »Der Natur ist nichts unmöglich! Allerdings« –

»Nun?«

»Ich wollte bloß die Einschränkung machen, auch die Natur ist modern geworden, und Wunder zu thun, hat sie ziemlich verlernt.«

»So könnte mich nur noch ein Wunder retten?«

»Davon sprachen wir nicht!« lenkte Dr. Wettrich ab. »Es handelte sich einfach, um die Möglichkeit, ob Sie achtzig Jahre« – –

»Ah, genug des traurigen Scherzes!« unterbrach Livia ihn. »Ich habe mich auch längst mit Allem vertraut gemacht, zu jeder Stunde muß ich bereit sein. Mitunter lockt es nur wieder ins Leben hinaus! Ich bin noch so jung! Da ergreift mich etwas – je ne sais quoi? – eine förmliche Gier, es den Anderen gleich zu thun!«

»Gerade einer solchen Gier«, warf Wettrich ein, »dürfte fortan nie mehr nachgegeben werden. Erinnern sich Durchlaucht an die beiden schweren Tage nach dem Fest bei Excellenz Steinfurt! Es giebt auch da eine noblesse oblige! Wir Menschen haben einmal die Verpflichtung, unseres Körpers zu achten, und wenn nötig, ihn zu schonen.«

»Ich schone ihn bald fünfundzwanzig Jahre!«

»Bis auf die gefährlichen Tage und Stunden, wo Sie es nicht thun.«

»Immer der alte, selbe Kreis!« versetzte die Gräfin dumpf. – »Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet? Werde ich Davos erreichen?«

»Ich hoff' es!«

Livia richtete sich rasch empor. »Sie hoffen es nur? Warum lassen Sie mich dann noch fort?«

»Sie wünschten es so lebhaft, dorthin zu gehen! Die Anregung der Reise. Schaden kann sie nicht bringen« –

»Nicht mehr bringen?« fiel sie ihm ins Wort.

»Wenn Sie genau sein wollen, nicht mehr!« Der Medizinalrat sah sie fest an.

Die Starrheit ihrer Züge löste sich unter seinem Blick, und sie ließ sich wieder in die Polster fallen. »Wie höre ich auf einmal Mama! Man wollte sie im letzten Augenblick auch noch an die Riviera bringen: sie folgte aber nicht und blieb. Mit Entsetzen schilderte sie uns den Tod, wie sie ihn dort gesehen hatte: in einem vulgären Gastzimmer, alles Leben, alle Geräusche der Welt um sich, dabei aber doch ängstlich gemieden und in Allem und Jedem auf Übelwollen stoßend! Nein, nein, ich reise nicht!« Wie von einem aufsteigenden Gedanken beunruhigt, schloß sie jedoch: »Oder vielmehr, ich reise! andere Luft thut mir immer gut. Aber bald zurück!« Sie sah den Medizinalrat plötzlich aufmerksam an. »Haben Sie mir noch nicht Alles gesagt? In Ihren Augen liegt heute etwas, was mich beängstigt, sie sind kalt.«

»Nur Ihre Erregung kann dergleichen zu sehen glauben!« versetzte Dr. Wettrich mit Ruhe. »Besinnen Sie sich, Durchlaucht! Wenn Sie meiner warmen Teilnahme noch nicht sicher wären, so« –

»Gewiß! gewiß!« rief die Gräfin, ihm die Hand reichend. »Und der Arzt muß ja stets vergeben! wann ist ein Kranker – er selbst? – Nun aber endlich volle Offenheit! ich will damit vorangehen, daß Sie meinen Willen respektieren. Schon als Sie mich zum erstenmal untersuchten – Sie wissen, im vorigen Herbst – wir waren eben gekommen und ich hatte hier wieder stärker zu husten begonnen! da konstatierten Sie Katarrh der beiden Lungenspitzen. Mein Mann war noch erfreut, daß es nichts weiter wäre! Ich wußte sofort, was das bedeutete: von Mamas Sterbebette her. Sicher – Sie erwähnten davon natürlich nichts – gab es auch schon Cavernen in der Lunge, Tuberkelbazillen und so weiter. Darüber ist ein halbes Jahr vergangen: ich magere immer mehr ab, die Tuberkulose geht also ihren Gang vorwärts, ganz wie bei Mama. Darum weiß ich so genau, Herr Medizinalrat, daß es nicht mehr lange dauern kann. Aber wie lange, das will ich wissen!« Sie sah ihn gleichsam drohend an.

»So genau, wie Sie das wissen möchten«, entgegnete der Arzt gepeinigt, »könnte es Niemand voraussagen. Wenn Sie meine Verhaltungsmaßregeln strikte befolgten, vor Allem keine tiefere Erregung an sich herankommen ließen« –

Die Gräfin wollte auflachen, hüstelte aber nur.

»Und wenn mich schon seit Wochen schon Alles erregt, ja, martert! jeder Ton, jedes Wort – bloße Gesichter, die ich um mich dulden muß?«

Dr. Wettrich hob stumm die Schultern.

»Ich habe nicht gelernt, mich in meinen Empfindungen zu beherrschen. Zu Hause geschah Alles, noch ehe ich's recht gewünscht hatte: jetzt ist keine Zeit mehr, Neues zu lernen.«

»Auch dann nicht,« fragte Wettrich in finsterem Ernst, »wenn jede wirkliche Erregung die letzte sein kann?«

»Auch dann nicht!« erwiderte Livia resigniert. »So lange noch ein Atemzug in mir ist, muß ich Leben um mich sehen. Ich weiß wohl, Sie möchten mich in mein Zimmer sperren, oder gar ins Bett? Das wär' für mich aber schon der Tod.«

Der Medizinalrat erhob sich.

»Sie können mir also nicht die Wahrheit sagen?« fragte die Gräfin nochmals kurz.

Dr. Wettrich schüttelte den Kopf.

»Sie wollen es nicht! Und doch, ich versichere Sie bei meinem Höchsten, bei meiner Liebe zu Raimund, ich würde ruhiger. Das ist einmal meine Art! Wüßte ich gewiß, daß ich bis zum Ende des Monats aushielte« –

Wettrich machte eine hoffnungsvolle Bewegung.

»Oder bis in den April, in den Mai hinein? Wie Ihre Hand nun am Stuhle klebt! Heben Sie sie doch, um mich zu renkouragieren! Aber nein! Ich habe erfahren, was ich erfahren wollte.«

»Nichts haben Sie erfahren, Durchlaucht!« brach Wettrich heftig los. »Wenn Sie nicht endlich meinen Vorschriften nachkommen, so kann ich für nichts stehen – für keinen Tag! Blutungen wie die nach dem maurischen Feste dürfen sich nicht wiederholen.«

In die Augen Livias trat ein Lächeln. »So eifrig können Sie werden! und um meinetwillen? Haben Sie Dank, lieber Medizinalrat! – Zur Belohnung will ich mich nun auch wirklich aufraffen, und Ihnen zu folgen versuchen. Recht schwer wird es mir fallen.«

»Aber unmöglich ist es nicht! wenn Sie an den Herrn Grafen denken?«

»Ach, Raimund!« Sie fuhr zusammen. Dann winkte sie freundlich zum Lebewohl.


IV.

Sobald der Medizinalrat das Zimmer verlassen hatte, kehrte sich Livia ganz der Wand zu. Eine Weile folgte sie mit unruhigen Blicken dem Palmenmuster auf der blauen Seidentapete und fuhr auch einmal unbewußt mit der Hand das Muster entlang, dann schloß sie die Augen. –

So stand es schon mit ihr? Ihre Seelenstärke war nicht erheuchelt, sie fühlte sich bereit – – doch so bald? so bald? Wohl war längst Alles geordnet! es war nur ein Vorwand für den Arzt gewesen, daß noch etwas zu erledigen wäre. – Ihr Tod ließ auch nirgendwo eine Lücke! Nur Raimund! Er liebte sie wahr, das hatte sie durch zahllose Beweise erfahren, sie wußte er würde leiden, unsäglich leiden. Ob er sie jemals vergessen konnte?

Nein, nein! Aber … –

Wenn sie ihn zu einem Versprechen zwang? Doch er hatte immer jeden Zwang aus dem Grabe heraus für nichtig erklärt! – So nicht! wie aber? wie? Besitzen durfte ihn Keine mehr! und am wenigsten diese Rote!

Ein bloßer Irrtum, ein Trug von Mama, daß sie hatte glauben können, die Freundin, von der sie meinte, gerade diese würde einst ihre Stelle einnehmen, um so mehr zu lieben! Dann war Papa nie geliebt worden. Liebe muß für alle Ewigkeit besitzen; nicht für heute nur, auch über den Sternen noch! –

Sie hatte diese Liebeskraft wie Raimund! Auch in ihm fieberte es, wenn er fern von ihr war. Und nun mußte sie gehen! Fortan war Qual und Sehnsucht sein ganzes Dasein! – Oder – konnte ein Ende der Sehnsucht kommen? Ein Ende seiner Liebe? Könnte er sich wirklich von neuem –? Dann erst begann ihr Leiden recht! Einen solchen Schmerz mußte sie fühlen durch Gruft und Sarg.

Livia empfand ein Stechen in der Brust, daß sie nicht länger zu liegen vermochte, und taumelnd nach einem Fenster schritt. Hier hob sie die Hände bis zum nächsten Riegel empor, umklammerte ihn und drückte den Kopf auf die Arme. –

Einige Tage folgten, in denen ihre Stimmung fortdauernd aus einem Extrem ins andere überschlug; oft wurde sie von Rastlosigkeit verzehrt, dann jedoch kamen wieder lange Stunden, wo sie dumpf vor sich hinbrütete. Selbst wenn der Gatte, der sie kaum verließ, in seiner liebevollen Weise ihr zusprach, schüttelte sie nur den Kopf, oder sah ihn mit einer dunklen Frage im Blick an, die ihn mit Bangen erfüllen mußte. Wiederholt hatte er schon gefordert, diese Frage oder den Wunsch auszusprechen: dann war in ihre Blicke Verzweiflung getreten, doch zu sprechen vermochte sie nicht.

Eines Abends jedoch, den ganzen Tag hatte sie wieder in dieser trostlosen Schwermut hingedämmert, – ließ sie dem Gatten sagen, daß sie sich nun kräftiger fühle und ihn bäte, heraufzukommen.

Mit einem freudigen Ausdruck in seinen treuherzigen Augen trat Graf Raimund gleich darauf ein, und wurde von ihr nach ihrem Lieblingsplatz am Kamin geführt. In einer zärtlichen Bewegung zog sie ihn zu sich nieder und fragte mit weicher, schmeichelnder Stimme:

»Ist Dir der Tag nicht lang geworden? So ganz ohne mich! Wo bist Du gewesen? Mit wem hast Du gesprochen? Ich will wieder Alles wissen, jeden Deiner Gedanken«.

»Ah, da könntest Du nur Freude an mir haben!« erwiederte der Graf lächelnd. »Als ich nach unserer angenehmen Frühstücksplauderei« –

»War sie bloß angenehm?«

»Reizend! reizend!«

Livia nickte nur, da sie ein paar Eispillen nahm.

»Als ich da gegen Elf zurückkehrte und nicht mehr vorgelassen wurde, dachte ich lange an Dich.«

»Und schmerzlich?«

»Meine arme Livi!« Er preßte ihre schmale, trockne Hand.

»Und dann?« fragte sie. »Dann gingst Du aus? Allein?«

»Ja! Wie sonst ins Kurhaus. Georgy machte schon ein paar Abschiedsvisiten«.

Kaum ein rascherer Atemzug hob die Brust der Gräfin, aus ihren Blicken sprach aber helle Befriedigung. Graf Raimund schien darauf nicht zu achten. »Ich besah ein paar Journale und las den ›Figaro‹«, fuhr er fort, »Dann setzte ich mich zu Chabrillan und Amtitz, die vor dem Kurhause saßen. Und die Sonne, glaube mir, brannte schon, wie um jetzige Zeit in Mentone! Natürlich zerhackte Chabrillan wieder ein paar Leute, die Amtitz dann säuberlich zusammenflickte: besondere Neuigkeiten erzählten sie nicht«.

»Und beim Diner?« forschte Livia. »Hast Du mich dabei auch vermißt? Oder wurdest Du von Deiner Georgina zu geistreich unterhalten?«

»Du fängst an, in Chabrillans Fußtapfen zu treten! Und doch, wenn ich wahr sein soll, war es die einzige erträgliche Stunde des Tages, die ich ohne Dich –«

»Raimund!«

»Aber Herzlieb!« entgegnete er vorwurfsvoll. »Darin begreife ich Dich absolut nicht. Mein brüderlicher Verkehr mit Georgy, der auf einer beinahe lebenslänglichen Gewohnheit beruht, wie kann Dir der nur zu einer Bemerkung Anlaß geben? Und Du quälst Dich wie mich, selbst Georgy!«

»Hat sie darüber geklagt?« fragte die Gräfin rasch.

»Nein! Sie empfindet aber natürlich Deine Kälte zu ihr! Irgend welche sonstigen Anspielungen, glaube ich, würde sie gar nicht verstehen. Dazu fühlt sie zu naiv.«

»Wenn Du nur nicht irrst!« rief Livia gereizt.

»Wir Frauen pflegen uns besser zu kennen! Gerade die ruhige Sicherheit ihres Verkehrs mit Dir giebt mir zu denken! Sie mahnt mich immerfort daran, daß sie geduldig ihre Zeit – – ah! nicht aussprechen, was so traurig wäre, daß es mich noch einmal sterben ließe«.

»Meine einzig Geliebte – –«

»Bin ich das noch?« Sie sah ihn flehend an. »Wirst Du leiden, wenn ich nicht mehr da bin?«

Der Graf wollte sprechen, doch Livia fuhr überstürzt fort:

»Ich will immer in Deinem Herzen bleiben! Es geht nicht gut, wenn Du mich daraus verstößst! Ich weiß es genau, das würde ich fühlen, wo meine Seele auch ist. Und ob sie im Paradiese wäre, für mich bliebe es fortan die Hölle! Das wirst Du mir nicht anthun wollen! Den letzten Wunsch einer Sterbenden kannst Du nicht mißachten! Dazu bist Du zu edel, nicht wahr, Raimund? Ich habe mich nicht getäuscht, als ich Dich von Allen wählte trotz des Kampfes mit den Eltern. Immer einzig Du – bis sie nachgaben und wir uns gehörten. Das wird mir aber viel zu kurze Zeit gewesen sein! Ich werde dann Deine Küsse noch nicht entbehren können, nicht Deine Augen. Bewahre sie mir rein, daß ich noch Deine Liebe darin sehe, wenn wir wieder vereint sind. Du fändest auch keine Ruhe, wenn Du mich täuschen wolltest: meine Blicke bleiben hier und werden Dich Tag und Nacht fragen, ob Du Treue hältst«.

Das Letzte hatte sie schon in fiebernder Hast und kaum verständlich vor sich hingemurmelt, nun barg sie erschöpft den Kopf an seiner Brust.

Raimund drückte voll innigen Mitleids den Mund auf ihr Haar. Sie regte sich nicht, als hielte sein Kuß sie im Bann; bis sie mit einem schmerzlichen Aufschrei die Arme um seinen Hals warf und an den geliebten Lippen hing, als könne keine Macht der Erde sie mehr davon losreißen.

Sie gab sich einer so völligen Fassungslosigkeit hin, daß in Raimund die Furcht aufstieg, irgend einer Katastrophe entgegen zu treiben. So löste er sorglich ihre Arme und richtete sie mehr auf, während er sie leise beschwor:

»Meine Herzensfrau, womit peinigst Du Dich? Fühlst Du denn nicht, wie Du Dich an unserer Liebe versündigst? Wenn mir das Schreckliche auferlegt werden sollte, Dich zu verlieren, erscheint es Dir denn wirklich denkbar, daß nicht Jahre und Jahre vergehen müßten, bevor ich mich nur wieder ins Leben fände? Um wie viel weniger könnte mir aber der Gedanke kommen, noch irgend ein Glück zu suchen!«

»Was sind Jahre?« klagte Livia eigensinnig. »Im Fluge gehen sie dahin, und dann kommt doch neues Leben über Dich, und damit neue Liebe. Ich liege im Grabe!«

»Zerreiße uns nicht das Herz!« bat Raimund. »Wir wollten uns nie einen Zwang auferlegen, und dennoch muß ich nun fast annehmen, es könnte Dich ruhiger machen, wenn ich Dir verspräche« – –

Er verstummte und blickte sie durchdringend an.

Sie hielt dem Blicke nicht Stand. Einmal noch regte sich in ihr die Scham: sie fühlte deutlich, wie selbstsüchtig sie sei. Vornehmer, menschlicher sogar war es, ihn frei zu geben!

Gewiß! – Doch gab es nicht eine Liebe nur? Was aufhören konnte, war nie Liebe gewesen! Ihr Herz forderte also nur, was sein Recht war, und ihr schon an sich gehörte für alle Ewigkeit.

»Ja!« rief sie, »es würde mich jetzt glücklich machen und still, wenn Du mir versprechen würdest – – aus freien Stücken aber, Raimund!«

Nun sah sie ihn erst an. Des Grafen Blicke waren unwillkürlich finster geworden und er wandte sich halb ab.

Mit einem Herzklopfen, das sich in Hüsteln Luft machen mußte, verfolgte Livia seine Mienen, und wußte denn auch im Voraus, daß sie noch nicht gesiegt hätte – daß er Einwände erheben würde.

Indem er sich ihr wieder zuwandte, sagte er in unverhohlener Bitterkeit:

»So sind wir also auch dort angekommen, wo wir Andere nur mit Grauen haben hinkommen sehen! Wie verurteiltest Du gleich mir die Testamentsklauseln der Tante Mercedes! Es empörte Dich schon, daß Hektor Schönborn von seiner Frau verlangen konnte« – –

»Das lag anders!« unterbrach sie ihn hastig. »Sie Alle thaten es mit kaltem Herzen, ich liebe! Was will ich denn? Nichts, als mir das bewahren, was ich besitze! Und da kannst Du wirklich noch zögern? Ich bettle ja!«

»Betteln erniedrigt immer!« wehrte der Graf nochmals ab. »Und nicht nur die liebe Bettlerin! Dein plötzliches Mißtrauen schmerzt mich: was ist in den letzten Tagen über Dich gekommen?«

»Der Tod«, schrie Livia auf, indem sie sich voll Schauder an ihn drückte. »Ich weiß nun, daß er bald kommt!«

Mattenau war heftig erschrocken.

»Woher willst Du wissen« – –

»Ich fühl' es! Darum sei barmherzig!«

Ehe der Graf antworten konnte, wurde an die Thür geklopft und ein Diener fragte im Auftrage Georgy Schönborns an, ob sie sich den Herrschaften empfehlen dürfte, sie wolle schon jetzt zu Excellenz fahren.

»Immer sie!« murmelte Livia, die sich in die Ecke des Sofas zurückgelehnt hatte.

»Wir lassen natürlich bitten!« Der Graf winkte dem Diener.

Georgy, in großer Gesellschaftstoilette, trat sofort ein und ging, ihrer Miene augenscheinlich nur mühsam ein gewisses Bedauern abringend, auf die Cousine zu:

»Es ist mit Dir doch nicht etwa schlimmer geworden? Ah nein: Du siehst eigentlich prächtig aus! Mit so rosig roten Backen – sie sind wie gemalt – kann ich der guten Excellenz nicht aufwarten. Hast Du noch einen Auftrag?«

Die Gräfin verneinte kurz.

»Ich fahre ein wenig früher«, plauderte Georgy unbeirrt fort, während sie einen ihrer langen beigefarbenen Handschuhe aufzog, »damit ich schon unter dem excellenzlichen Fittig stecke, bevor Andere kommen. Es ist gar nicht Recht, daß Ihr mich allein gehen laßt! – Gehört übrigens der maurische Saal«, wandte sie sich an Mattenau, »auch zu den Räumen, die bei einer kleineren Gesellschaft geöffnet werden?«

»Nein!« versetzte der Graf zerstreut.

»Wie schade!«

»Warum?« fragte Mattenau anteilsvoller.

»Ich habe ihn einmal ins Herz geschlossen!« antwortete Georgy mit einem komischem Seufzer.

»Es ist so hübsch kühl darin und tanzt sich! Und all die wunderbaren Farben! Du mußt das doch auch finden?«

»Gewiß!«

»Nichts weiter? Bloß gewiß?«

»Was soll ich denn noch weiter finden?«

»Daß er ein so entzückender Saal ist, wie man ihn sich nicht einmal träumen kann. Und ich werde, da Du nicht da bist, Excellenz bitten, mich nochmals hineinzuführen.«

Mattenau lächelte. »Im Finstern wirst Du wenig« –

»O«, fiel sie ihm ins Wort, »die Gaskrone anzustecken, ist doch eine Kleinigkeit! Excellenz wird sich wahrscheinlich so über meinen Wunsch freuen, daß er noch rasch ein Orchester zusammentrommeln läßt! Ganz wie neulich: ach, der reizende Abend! – Ist das nicht schon der Wagen?«

Sie horchte. »Ja! Adieu denn!« –

Bereits im Fortgehen begriffen, kehrte sie wieder um, versank vor Livia in einen tiefen Courknicks und fragte sie schalkhaft ceremoniös:

»Gestatten Durchlaucht, daß ich Dero Gemahl noch etwas ins Ohr sage?«

Ohne Livias Antwort abzuwarten, ergriff sie die Hand des Grafen, zog ihn ein paar Schritte ins Zimmer hinein und rief ihm, indem sie sich auf die Fußspitzen stellte, laut ins Ohr:

»Der maurische Saal wird nicht beleuchtet, auch kein Orchester zusammengetrommelt, wer würde hier mit mir tanzen, wenn Du nicht für mich sorgst?«

Sie drückte ihm die Hand und schritt rasch der Thür zu.

Livia empfand mit Groll und scharf, daß sich nach diesem Zwischenfall für heute kaum mehr die Stimmung einstellen würde, um das vorige Gespräch fortzusetzen, so nahm sie des Gatten Arm und ließ sich von ihm ins Schlafzimmer führen.


V.

An den folgenden Tagen hatte Livia ein solches Ruhebedürfnis, daß sie selten das Bett verließ, und that sie es, dann zwangen sie der vermehrte Hustenreiz und eine sich steigernde Atemnot, es bald wieder aufzusuchen. Von der Reise nach Davos fiel kein Wort mehr, doch über die Abreise der Cousine wachte sie gleichsam: immer wieder sprach sie davon, hatte Aufträge für den Onkel und schien den nächsten Freitag, der dafür angesetzt war, kaum erwarten zu können.

Sogar Georgy fiel das endlich auf; doch schob sie es auf den nervösen Zustand der Kranken und ließ sich, da sie die Cousine höchstens einmal am Tage sah, darum ihre gewohnte heitere Laune nicht trüben. Und um so weniger, weil sie genau wußte, wie wohlthätig sie damit auf Raimund einwirke. Wenn er noch so verdüstert zu ihr herunter kam, ja, mitunter fassungslos erschien, immer hatte sie ihn nach kurzer Zeit von seinem Kummer abgelenkt, oder seine Sorge doch gemildert, und dafür dankte er ihr wohl, wenn auch nicht mit Worten. –

Livia hatte diese Einwirkung, gleich von der Ankunft der Cousine an aufs unwilligste empfunden: sie dürstete jetzt nach immer neuen Liebesbeweisen des Gatten und forderte, wie sie sich in Empfindsamkeiten nicht genug thun konnte, auch von ihm eine fortdauernde Beachtung und ein stetes Eingehen auf ihre Stimmungen als selbstverständlich. Es empörte sie also geradezu, wenn Georgy da durch ihre harmlose Munterkeit immer wie ein frischer Luftzug auf Raimund wirkte und ihn gewissermaßen ihrer Macht entzog. – Jetzt vollends in diesen schweren letzten Tagen suchte sie schon beim Eintritt des Gatten in seinen Blicken zu lesen, ob er auch ganz bei ihr wäre. Mit geheimer Freude las sie Furcht oder Weh darin, während sie der Nachglanz irgend einer zerstreuenden Unterhaltung von vornherein gereizt machte. Es ging mit ihr zum Sterben, da durfte auch in ihm nichts als Todesnot sein! –

Auf ihren Wunsch hatten sie heute zusammen kommuniziert. Der alte Mainzer Domherr, ein Verwandter von ihr, der ihnen das Sakrament gespendet, hatte sich dabei nach seiner salbungsvollen Art noch in einer längeren Rede ergangen, so war Livia nach seiner Abfahrt aufs höchste erschöpft eingeschlummert. Als sie erwachte und Niemand im Zimmer sah, streckte sie schon mechanisch die Hand aus, um die elektrische Klingel in Bewegung zu setzen, that es dann aber nicht, sondern rückte sich nur ein wenig in den Kissen hinauf. Der Gedanke war plötzlich wieder da, der sie nun schon seit zwei Nächten verfolgte, und aus dem heraus sie auch darauf bestanden hatte, daß Raimund mit ihr kommuniziere. Wenn er ihr keine feste Bürgschaft geben konnte, so halfen sie sich auf andere Weise und ebenso um seinetwillen, wie für ihre Ruhe! –

Mit einem unheimlichen Geflacker in den Augen sah sie vor sich hin. Er liebte sie, warum sollte er also nicht darein willigen? Fühlte sie sich doch stark genug dazu! Alles eher, als ihn zu verlieren!

Auch um ihren Mund vertiefte sich ein Zug von grausamem Eigenwillen, der seltsam von dem Ausdruck des Triumphes abstach, welcher nun aus ihren Blicken und Gebärden brach. Ein Triumph, der sich bald wie Wahnsinn anließ, da sie wiederholt in die Hände klatschte. Nach und nach wurde sie ruhiger, und als sie dann zu hören glaubte, daß Jemand an die Thür käme und lausche, rief sie laut:

»Raimund!«

Er war es.

Die herzliche Besorgnis in seinen Mienen und die Liebesworte, womit er sie begrüßte, erschienen ihr wie Vorboten, daß sich ihre sehnsüchtige Hoffnung erfüllen würde. So dankte sie ihm wieder einmal innig für sein treues Ausharren bei ihr, lächelte dann aber und fuhr fort:

»Doch genug davon, sonst wirst Du mir zu eitel! Setz' Dich! Bitte, nicht so weit, hier, ganz nahe zu mir! Ich will Deine Hand halten! Da merke ich gleich, ob Du mir zustimmen, oder mich aufs tötlichste kränken willst! Ja, ja! Das wirst Du aber nicht? Du wirst Dich ergeben, wie Du es so oft gethan hast! Aus Loyalität sagtest Du wohl: weil ich einmal eine Prinzessin wäre! Die arme Prinzessin!«

Ihr unbewußt rannen ein paar Thränen über ihre hohlen Wangen.

Sie jammerte den Grafen unsäglich und er küßte ihre Hand wieder und wieder.

Da begann sie leise von neuem:

»Ich hab' es wohl gefühlt, Du möchtest nicht mehr darauf zurückkommen, woran ich neulich rührte – an dem Abend, als Georgina zu Excellenz fuhr. Vorgestern lenktest Du schon davon ab, gestern wieder, ich muß aber klar sehen, Raimund! So kann ich nicht sterben!«

Wie ein Aufschrei hatten die letzten Worte geklungen.

Der Blick des Grafen wurde dunkel, doch fand er sich in das Unabwendbare.

»Worin mußt Du klar sehen?« fragte er ruhig.

»Ob Du mein bleibst für alle Ewigkeit?«

»Das soll heißen, ob ich nie eine Andere an Deine Stelle setzen könnte?«

Sie nickte atemlos.

Der Graf sah sie still an.

»Was uns heute möglich oder unmöglich ist, würden wir vielleicht –«

»So weiß ich Alles!« unterbrach sie ihn ungestüm, »Du würdest es können.«

Sie fuhr mit der Hand nach der Brust und sank in die Kissen zurück. Völlig leichenhaft lag sie da: nur durch ihre langen Wimpern flog einmal ein Beben.

Stumm und starr blieb der Graf: es war, als müsse dieses plötzliche Bild des Todes erst wieder von ihm lassen, bevor er zu sprechen vermochte.

Endlich beugte er sich zu ihr herab: »Du warst einmal so stolz, Livi! muß ich Dich daran mahnen? Wenn ich Dir auch verspräche, was Du willst, könnte Dich das in Wahrheit beruhigen? Du weißt allzu gut, was ein erzwungener Eid für mich bedeutet! – Statt daß wir in Weihe und mit großer Seele nur uns gehören, so lange das uns beschieden ist, und der Zukunft lassen, was der Zukunft gehört, quälst Du uns mit einer Frage, die, wie ich jetzt empfinde, niemals an mich herantreten könnte.«

Livia faßte wieder nach seiner Hand.

»Jetzt! – Nachtrauern wirst Du mir aber, wenn ich Dich jetzt auch quäle?«

»Du bleibst immer bei mir!« rief der Graf gepreßt.

»Immer! Einen andern Wunsch habe ich nicht!« Sie stützte sich auf den Ellbogen. »Das wird ein langes Leid für Dich! und ich kann nicht bei Dir sein, und hülfe Dir so gern. – Wenn ich es aber doch könnte?«

Raimund sah sie gespannt an.

»Was ist Sterben?« schloß sie mit flehendem Blick. »Ein Nichts, wenn wir vereint gehen! Komm mit mir!«

Der Graf erblaßte und rief herbe:

»Was ich Alles schon von Dir gehört habe, es wäre wirklich nicht undenkbar, daß Du selbst das natürlich fändest?«

»Warum sollte das undenkbar sein?« fragte sie in einer Weise, als spräche sie von dem Einfachsten der Welt. »Hast Du mir im Winter nicht häufig Ähnliches vorgelesen? und von kleinen Leuten Handwerkern, Nähterinnen und dergleichen? Sie vermochten sich nicht zu trennen und starben darum vereint! Und das sollten wir nicht können? An Deiner Hand wäre ich jeden Augenblick dazu bereit! Freilich bedeutete es für mich wenig! ob heute oder morgen, was weiter? Für Dich –«

»Es ist nun der Phantasterei genug!« fiel der Graf ihr schroff ins Wort.

»Das erscheint Dir phantastisch?« fragte sie noch immer in derselben Art. »Ich habe mich gewundert, daß wir nicht längst darauf gekommen sind! – Ein wenig Mut, weiter nichts! Wir haben kommuniziert, sind rein von Sünde: daß wir uns nicht trennen können und ein wenig früher vor den Herrn treten, wird er uns um unserer großen Liebe willen vergeben. Raimund! Könntest Du mich wirklich noch allein gehen lassen? – Auch wenn ich mich fürchtete?«

Ein Zittern schüttelte den mächtigen Mann, und Livia glaubte in seinen Blicken schon zu lesen, daß sie ihn mit sich fortreißen würde; da sprang er aber auf und entgegnete in heftiger Bewegung:

»Das ist barer Wahnwitz! Was möchtest Du aus mir, aus uns machen? Livia! Mir ist fast, als hätte die Krankheit Deine Liebe vergiftet! – Wie soll ich die Worte wählen, um Dich nicht zu hart« – –

»Lassen wir es fallen!« unterbrach sie ihn, sich scheinbar ergebend. »Ich habe es nun voll begriffen! Du willst nicht – oder Du kannst nicht.« Ihre Lippen zuckten spöttisch. »Es war also Wahnwitz. – Die Liebe eines Mannes! Ah!«

Der Graf wollte sprechen, doch sie winkte ihm zu schweigen. »Wozu sich weiter erregen? wir kämen doch nicht zu einander! – Abgethan! – Ich möchte auch wieder schlafen!« Sie ließ sich zurückfallen und schloß die Augen.

Der Graf trat zögernd ans Bett; da sie aber in ihrer angenommenen Regungslosigkeit verharrte, wandte er sich zum Gehen. Nun öffnete sie die Augen wieder und sah ihm nach, bis die Thür hinter ihm zugegangen war. Da schluchzte sie krampfhaft auf. Als sie ihr Taschentuch vom Munde nahm, war es stark gefärbt von hellem, schaumigem Blute.

Livia sah es ohne eine besondere Empfindung. Zufällig war aber das Monogramm des Tuches weiß geblieben und nur die Fürstenkrone ein roter Fleck geworden: das bemerkte sie und auf einmal fiel ihr die Warnung des Medizinalrates ein, Blutungen dürften sich nicht wiederholen. Nun war es doch geschehen! Und diese Wärme in der Brust, die sich immer mehr ausbreitete, war sie schon das Ende? Das schwere Atmen! – Sie lag wieder eine Weile da, ohne sich zu bewegen. Eine so grenzenlose Schwäche bemächtigte sich ihrer, daß sie deutlich empfand, jetzt würde auch sie zu nichts den Mut finden. Doch ohne alles Zuthun ging es ja seinen unabänderlichen Gang! –

Sie sah sich im Zimmer um, als müsse er da sein. Aber er war ja hinunter gegangen! Zu ihr, zu ihr, der er bald ganz gehören sollte!

Jäh versuchte sie, sich aufzurichten, doch ein starker Schmerz bei der Bewegung hinderte sie daran. Nur in ihren Augen lohte es fort. – Ein neuer Gedanke schien sie zu beschäftigen und bald so ausschließlich, daß sie sich immer schlafend stellte, wenn das Kammermädchen oder der Graf kamen, um nach ihr zu sehen.

Als Graf Raimund sich aber, bevor er selbst schlafen ging, noch einmal über sie beugte, schlug sie die Augen auf und sah ihn seltsam an – wie voll Reue, erschien es ihm. Das rührte ihn weit mehr, als es Worte der Abbitte vermocht hätten; er warf sich auf das Kissen nieder, das vor dem Armstuhl am Bette lag und rief in freudiger Aufwallung:

»Nun hast Du wieder Deine hellen Augen!

So ist wohl auch Alles überwunden, was Dich gequält hat? Da bist Du selbst wieder! – Wir dürfen nun auf eine gute Nacht und einen noch lichteren Morgen hoffen!«

»Du lieber Prophet!« Ihr Blick blieb rätselhaft und ihre Lippen preßten sich auf einander.

»Oder irre ich mich?« fragte Raimund besorgt. »Leidest Du doch noch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr! Ich weiß endlich, was mir obliegt! – Und bist Du nicht bei mir, und hast verziehen?«

»O, sprich nicht davon!«

»Laß mich sprechen!« bat Livia. »Eine so schwer Kranke wie ich muß die gute Stunde nutzen. Nicht wahr, Du hast mir aus dem Herzen heraus vergeben?«

Er nickte.

»Alles, was ich Dir je angethan habe: nicht ich, meine unzähmbare Liebe! Sie ist stärker als ich.«

»Ja, Du bist nichts als Liebe und ich nur Dank!«

Er drückte den Kopf an ihre Schulter.

Ihre Blicke ruhten stechend auf ihm. Mit zitternder Stimme, aber in leichtem Tone fuhr sie fort:

»Ich bin unersättlich! Selbst Ablaß für die Zukunft will ich haben! – Was ich Dir auch noch an Leid anthun könnte, Du wirst immer denken: sie liebte unendlich, schon unirdisch, möchte ich sagen. Ich komme mir vor, als gehörte ich schon der anderen –«

»Livi!« Er richtete sich empor. »Nun hast Du mich wieder vergessen«.

»O nein! Du bist ich – und ich Du. Raimund, Vergebung bis zum Letzten!«

»Bis zum Letzten!« wiederholte er nachgiebig.

»Um was Du Alles sorgst! – Jetzt ist es aber Schlafenszeit!«

Er erhob sich und ging nach der Thür zur Garderobe.

»Was willst Du?« fragte Livia. »Johanne habe ich erlaubt, auszugehen. Heute ist Mittfasten!«

»Wen soll ich Dir dann rufen? Friederike?«

»Niemand! ich danke Dir. Gegen Eins will Johanne heimkehren, das genügt. Bis dahin bedarf ich nichts als Schlaf. Lösche auch das Lämpchen, der Mond scheint ja hell!«

»Meine Thür laß' ich aber offen!«

»Wie fürsorglich Du bist!« Sie ergriff seine Hände und drückte, bevor er es wehren konnte, ein paar brennende Küsse darauf. »Und nun tausend gute Nacht!«

Sie küßten sich lange und heiß wie sonst; dann verließ sie der Graf, indem er von der Schwelle seines Schlafzimmers aus noch einmal zurückgrüßte. Livia hatte mit den Blicken die geliebte Gestalt gleichsam umfaßt und durch einen Wink Raimunds Lebewohl erwidert; nun schlang sie die Hände über dem Kopfe in einander und starrte auf die ein wenig offen gelassene Thür. –

Wohl eine Stunde verging: nur wenn die Standuhr nach Verlauf einer Viertelstunde wieder anschlug, hob Livia den Kopf und horchte. Der Lichtschimmer bei Raimund war bald erloschen, nun glaubte sie auch die Atemzüge des Schlummernden zu vernehmen. Friedlich wie immer.

Plötzlich raschelte die Seide der Bettbezüge stärker: Livia verließ mit einem raschen, leisen Schwunge das Bett. Sie blieb einen Augenblick lauschend stehen, dann schlüpfte sie in die Pelzschuhe und hüllte sich in ihren Schlafrock. Seine Schnüre knüpfte sie nur leicht; ebenso strich sie das halb gelöste Haar ganz lose zurück. Immer wieder lauschend, schlich sie in Absätzen nach dem Schlafzimmer des Gatten. Als sie am Stellspiegel vorüberkam und unwillkürlich einen Blick hineinwarf, graute es ihr vor sich selbst. Wie ein Gespenst! Nein, wie ein Raubtier. Der Blick! –

Sie schlich weiter, indem sie die Schleppe des Schlafrockes mehr hob: schlangenhaft hatte sie sich ihr nachgeringelt.

An der Thür sah sie zurück, wie wenn sie sich überzeugen wollte, daß Niemand im Zimmer sei; dann trat sie festen Schrittes über die Schwelle. Trotz Rouleaux und Stores erschien der große Raum hell; doch in den Ecken lagerte Dämmerung. So unterschied sie auch erst, als sie das Zimmer ganz durchmessen hatte, Raimunds Gestalt. Er schlief augenscheinlich tief. Sie blickte lange auf ihn nieder, die Hände wie im Gebete vor sich hingefaltet; dann war es, als ob sie erst nach Atem ränge, ehe sie langsam nach einem Schranke ging, der seitwärts vom Bett des Grafen ganz im Dunkel stand. Sie tastete daran hin: der Schlüssel fehlte. Einen Moment hielt sie in ihrem Thun inne; flüsternd kam es über ihre Lippen:

»Es soll nicht sein!«

Bald aber raffte sie sich auf, ging an das Bett zurück und hob mit sicherem Griff vom Nachttischchen einen kleinen Schlüsselbund in die Höhe. Es gab nur einen gellen Ton, worauf dieselbe Stille war wie vorher. Raimund regte sich nicht, so glitt sie gleich einem Schatten nach dem Schranke zurück. Ohne Geräusch ging die Thür. Livia bückte sich und sah in die Fächer. Im dritten stand der Kasten, den sie suchte. Sie zog ihn heraus, der Deckel sprang auf und vor ihr blinkten matt die Läufe zweier Pistolen.

Ohne zu zögern, wie etwas Gewohntes, nahm sie eine davon. Sie hielt sie vor sich in die Höhe: ihre Blicke erloschen nach und nach, und die Oberlippe hob sich, daß ihre weißen, spitzen Zähne völlig sichtbar wurden. In dem Dämmer war es, als hätte ihr Gesicht sich in einem Totenkopf verwandelt. Es regte sich dann aber wieder darin und Livia wankte bis an des Gatten Bett. Ein Mondstrahl war am Store vorbei ins Zimmer gedrungen und lag silberglänzend auf dem Haar des Grafen.

Livia achtete nicht darauf. Noch einmal zum Himmel emporblickend, setzte sie, ohne daß ihre Hand bebte, den Lauf der Pistole an die Schläfe Raimunds und drückte los. Der Graf hob den Arm und seinen Mund verzog ein krampfhaftes Lächeln, dann streckte er sich im Todeskampf.

Livia entglitt die Pistole, die lautlos in dem dicken Teppich versank. Mit einem irren Zuge in den Augen hatte ihr Livia nachgesehen, bis ihre scheuen Blicke auch die Leiche des Gatten streiften. Es erschien nichts anders, als eine Minute vorher: die paar Blutstropfen an der Schläfe Raimunds waren nicht zu bemerken. Und doch war es geschehen! Und sie wartete nun auf das, was darnach geschehen mußte, was stets der Schluß ihrer Gedanken gewesen war – dann tot zu sein, wie er. Mit Entsetzen fühlte sie aber, daß ihre Kräfte nun eher wüchsen und mehr Stärke in ihr war, als seit Wochen.

Da kamen Tritte rasch den Flur entlang. Livia erschrak, sprang an die Thür des Zimmers, die nach dem Flur hinausführte und schob den Riegel vor. Ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt und versucht, die Thür zu öffnen: als sie nicht nachgab, ertönte ein leiser Fluch und der Schlüssel wurde vorsichtig herausgenommen. Livia gab keinen Laut von sich, bis nach einer Weile die Tritte wieder hörbar wurden, nun aber, indem sie sich entfernten.

So war Jean doch unsicher geworden, was er gehört hätte! Noch blieb sie allein! Aber Johanne? Er mußte auf Eins gehen!

Sie stürzte nach ihrem Zimmer und schloß auch die Thür zur Garderobe ab, durch die das Kammermädchen kommen mußte. Die Eile hatte sie erschöpft; sie lehnte sich schwer an das Thürgerüst. Weshalb aber dies Einschließen? Verborgen bleiben! Wie war das möglich? Warum auch? Sie gingen nur vereint!

Jetzt wieder schleichend und zuweilen ganz innehaltend, als fürchte sie etwas, erreichte sie doch endlich wieder sein Bett. Der Mondstrahl war herabgegangen und beleuchtete nun gespenstisch die Hand des Grafen, die, zur Faust geballt, über die Bettkante niederhing. Livia mußte immerfort nach der Hand sehen, bis sie sie ergriff und sie auf das Bett ins Dunkel legte; sie fühlte die Kälte der Hand nicht, kaum ihre Schwere, nichts war in ihr, als ein wirres Hin und Her von Gedanken.

Ob sie die Lampe aus ihrem Zimmer holen sollte? … Sie nickte, blieb aber stehen, als könne ihr Fuß nicht von der Stelle. Eine Mörderin war sie, eine Mörderin!

Wer vermochte sie zu begnadigen? Aber Raimund war gar nicht tot, sonst konnte sie doch nicht leben! Sehen, ihn sehen! Tastend ging sie nach ihrem Zimmer, zündete die Nachtlampe an und kehrte, sie dicht vor sich hinhaltend, zurück; ihre Blicke flogen ihr voraus, Bangen und Grauen war in ihnen. Aber der Tote lag so friedlich da, die Augen sanft geschlossen.

Livia setzte das Lämpchen auf den Nachttisch, dem Bette die Seite mit dem schützenden weißen Schirm zugewandt; und das fein geprägte Bild darauf – eine heiße Romeo- und Julia-Scene, die der Tote oft belächelt hatte, blickte ernsthaft auf ihn.

Blumen, die er so liebte! fuhr es Livia durch den Kopf. Blumen!

Sie nahm das Lämpchen wieder auf und ging, nur an den Einfall hingegeben, ins Boudoir, dann bis auf den Flur hinaus und brach und riß sich wahllos einen ganzen Arm voll gerade blühender Blumen, von Palmenblättern und allerlei Gezweig ab, womit sie strahlenden Gesichtes zu dem Toten zurückkehrte. Einen Kranz von gelben Tulpen und Myrtenzweigen legte sie auch sorgsam um sein Haupt.

Dann mußte sie aber die Freude an ihrem Werk verloren haben, den Rest streute sie regellos über das Bett hin. Der hin- und herzitternde Schatten vom Blatt einer Fächerpalme glitt über das Antlitz des Grafen, und es war, als bewegten sich seine Lider. Livia starrte fassungslos auf das Schattenspiel, bis sie sich mit einem Schrei über die Leiche warf. Allmählich umfing sie eine tiefe Ohnmacht, aus der sie auch nicht erwachte, als ihr Körper hilflos auf den Teppich zurücksank. –

In ganz mechanischer Weise hatte sie die Thür zur Garderobe, als sie mit den Blumen hindurchging, von neuem geschlossen; so vermochte Johanne bei ihrer Heimkehr nicht einzutreten, hatte darum aber keinerlei Arg, da die Gräfin sich häufig einschloß. Erst in der Morgenfrühe, besonders nach einer Rücksprache mit Jean, wurde Johanne ängstlich und pochte erst leise, dann lauter an die Thür von Livias Schlafzimmer. Als sich nichts darin regte und ebenso wenig beim Grafen, klopfte Jean an dessen Thür.

Davon erwachte Livia. Müde und verträumt blickte sie um sich, dann fielen ihr die Augen wieder zu. –

Aber es stach sie im Kopfe – und der starke Blumenduft! Sie öffnete von neuem die Augen und sah zwei Hyacinthen neben sich liegen. Die waren doch sonst nur im Flur? …

Wer klopfte? …

Sie richtete sich auf und ihre Blicke fielen auf den Gatten, dessen Züge bereits scharf geworden waren und sich mit Leichenblässe überzogen hatten.

Stumpf sah sie weg, hob nur fröstelnd die Schultern und rutschte auf den Knieen nach der Thür, wo es geklopft hatte. Plötzlich aber brach es wie ein Blitz aus ihren Augen, sie wußte wieder Alles und stand auch mit demselben Atemzuge wieder auf den Füßen.

Nach der Thür gewandt, fragte sie kurz:

»Sind Sie es, Jean? Oder Johanne?«

Als sich Beide meldeten, und Johanne von ihrer Besorgnis zu sprechen anfing, unterbrach sie sie rasch:

»Mir ist nichts! Ich werde bald klingeln!«

Bald! Und dann? – Sie lebte noch immer! Was wurde nun? und was beginnen? Was? Aber sie konnte ja nur so lange leben, bis er gebettet war, bis der Sarg geschlossen und Niemand mehr an ihn heran konnte! Auch die Rote nicht.

Wieder hob sich ihre Oberlippe und die Zähne glänzten so hell, als irre ein Lächeln an ihnen hin. – Das war es! Um der Roten willen hatte sie es thun müssen, und das rechtfertigte sie: warum hatte Die nach ihm verlangt! Nicht sie, Die war seine Mörderin! Und die Rote durfte ihn nicht mehr sehen, sonst mußte er ja von neuem bluten! –

Ein Sarg aber, ein Sarg! –

Mit verwilderten Blicken sah sie durchs Zimmer, dann huschte sie nach der Thür, riegelte sie auf und trat in den Flur hinaus. Jean und Johanne, die eben erst gegangen waren und noch an der Treppe standen, kehrten zurück. Mit heiserem Ton und in einer geheimnisvollen Art befahl Livia dem Kammerdiener:

»Eilen Sie sich! Noch immer ist der Sarg nicht da! Sie sollen ihn gleich bringen! Gleich! Ich will es. Ehe die Andere kommt! Blumen haben wir, Alles schon, bloß der Sarg fehlt.«

Sie wies nach der Treppe. »Was warten Sie noch?«

Johanne war an der Gräfin vorbei ins Zimmer getreten und rief schrill:

»Mein Gott, der Herr Graf! Er ist tot!«

»Der Graf?« Jean drängte sich gleichfalls ins Zimmer.

Livia blieb mit einem blöden Ausdruck im Gesicht noch an der Thür stehen, bis sie auf einmal den Beiden folgte und sich wie abwehrend vor dem Bette aufstellte.

Jean stürzte nach dem Arzt, verständigte dabei aber erst die übrige Dienerschaft von dem, was geschehen war. Das Wirtschaftsfräulein, ein paar der Mädchen und der alte Kutscher traten ebenfalls bis ins Zimmer des Grafen, während die Übrigen von der Thür aus den Einblick zu gewinnen suchten.

Da kam es hastig den Flur entlang und die Stimme Georgys ertönte: »Sie ist tot?«

Mit den Worten trat Georgy auch schon ein.

In demselben Augenblick ging mit Livia eine jähe Veränderung vor sich: Die bange, wahnsinnige Scheu, von der sie noch eben erfüllt schien, war verschwunden, mit dem ganzen Stolze der Fürstin trat sie ein paar Schritte vorwärts und rief:

»Was will dieses Weib hier? Nicht seinen Sarg darf sie berühren!«

»Was ist geschehen?« fragte Georgy bestürzt. »Raimund tot? Laß mich zu ihm!«

Livia streckte gebieterisch die Hand aus:

»Fort mit ihr! Treibt sie hinaus!«

Schreiend hatte sie ihr die Worte entgegen geschleudert und stand mit wogender Brust und Funkeln in den Augen furienhaft vor ihr. Plötzlich aber wankte sie, ihre Hände griffen vor sich in die Luft und sie sank röchelnd zusammen.

Als man ihr Haupt emporrichtete, brach ein Blutstrom aus dem Munde und endigte barmherzig ihr Leben.


 << zurück weiter >>