Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Novelle.
Die Kälte schien noch immer zu steigen. Der letzte angenehme Tag war der 27te December geblieben, an welchem die Compagnie der Premier-Lieutenants Werneck vom Hohenzollern'schen Füsilier-Regiment, auf mächtige Leiterwagen gesetzt, mit einem Eclaireur-Commando der 9ten Husaren an der Spitze, die lustige Fahrt nach St. Léger und Croisilles bis in die Nähe von Arras gemacht hatte. Es war kein hoch strategischer, aber auch kein unwichtiger Auftrag gewesen, mit welchem Werneck in die dämmernde Morgenfrühe entlassen worden war: man wollte sich darüber Gewißheit verschaffen, ob General Faidherbe seine Ruhequartiere hinter der Scarpe etwa aufgegeben und bereits im Vorrücken wäre. Darum sollte auch bei einer feindlicherseits stattgefundenen Besetzung jener Orte ein Angriff gemacht und derselbe so lange fortgesetzt werden, bis der Gegner seine Streitkräfte gezeigt hätte. Angesichts der ungewöhnlichen Art und Weise der Beförderung war von Anfang an ein besonderer frischer Zug durch die Truppe gegangen; natürlich hatte sich dieser nicht bis zum Lauten gesteigert, aus jedem Auge aber, jeder Bewegung war gleichsam ein Blitzen hervorgebrochen, welches die lebhafte Spannung Aller verrieth.
Doch Faidherbe saß ruhig in den alten Quartieren, nur ein rothhosiger auf Urlaub in die Heimath gekommener Reconvalescent wurde entdeckt und für seinen Schrecken aus einer der requirirten Flaschen Rothweins erquickt; weitere Heldenthaten gab es diesmal nicht zu verrichten. Nachdem eine Contribution von daheim fehlendem Brot auferlegt und eine Anzahl Waffen zerstört war, trat man unbelästigt die Rückfahrt an. Dennoch war Werneck – wenigstens mit sich – nicht unzufrieden; hatte er doch dem Drängen seines Feldwebels widerstanden, der die prachtvolle, in einem Saal der Mairie gefundene Fahne der Croisiller Schützengilde als Trophäe angesehen, und durchaus mitnehmen wollte. Gar zu unblutig wäre dieselbe errungen worden: eine kriegerische Trophäe, um welche nicht Blut, nicht viel Blut geflossen – was bedeutete die!
Er sollte noch genug von dem »besonderen Safte« fließen sehen – der Premier Werneck von der Landwehr; augenblicklich war jedoch langersehnte Ruhe in Achiet le Grand, zu dessen Commandanten er am Morgen nach jener Fahrt ernannt worden. Als solcher kamen ihm nie gekannte Ehren zu und er sah anfangs mit jovialem Erstaunen auf das stramme Präsentiren aller Posten: zu welcher gewichtigen Persönlichkeit er sich aufgeschwungen hatte! Andere Dinge, besonders die mit der Commandantur verbundenen Ortsgeschäfte zeigten sich bald auch weniger wünschenswerth: Dienst bleibt aber Dienst. So gab er bereitwillig jedem Dörfler, der seinen Weizen gemahlen haben wollte (selbstverständlich unter der steten Rubrik für die Einquartierung backen zu müssen), den bezüglichen Erlaubnißschein, da die Windmühlen der Umgegend deutscherseits mit Beschlag belegt waren; jeder Alten (Junge kamen nicht), welche irgend eines Geschäftes in Gomiécourt oder Bapaume wegen die Posten zu passiren wünschte, stellte er eine Art von Paß aus; alle Klagen der Truppen über Quartiere oder Reclamationen der Quartiergeber fanden vor seinem Forum ihre Erledigung – kurz den Tag über drängte ein Bittsteller den andern. Seiner wohlwollenden Natur nach suchte er aber selbst mit persönlichem Zurücktreten Allen gerecht zu werden. Dadurch errang er sich bei den Ortsangehörigen bald eine gewisse Hochachtung, die sich bis zu freundlichem Entgegenkommen steigerte, als denselben auf seinen Vorschlag erlaubt wurde, sich bei der wachsenden Kälte aus den zufällig in Achiet le Grand in großen Massen lagernden Kohlen-Vorräthen der Rothschild'schen Eisenbahngesellschaft nach Bedarf oder Belieben Kohlen heimzubringen. Welche Wanderung da begann! von Hoch und Gering, Arm wie Reich. In Wagen, Karren, Schürzen, Töpfen, sogar in den Armen trug man sich die kostbare Last heim: und aller Mienen hatten einen frohen Ausdruck, tausend heitere Zurufe erschallten wieder, ja gerade aus den geschwärztesten Gesichtern lachten die glücklichsten Augen.
Werneck lag bei einem Epicier im Quartier, der ein kleines freundliches Haus beinahe in der Mitte des Dorfes besaß. Die für die Zeit der Besetzung ihm gehörigen Räume bestanden in einem großen Durchgangszimmer, welches ganz mit Waaren gefüllt war, die in Tonnen oder Kisten herumstanden – und in einem Cabinet, welches dem ungemüthlichen Vorraum gegenüber ein wahres Kleinod von Traulichkeit genannt werden konnte. Der Thür vis-à-vis der mit gefälliger Stuckarbeit verzierte Kamin mit dem unvermeidlichen eingelassenen Spiegel und der noch unvermeidlicheren Pendule im Rococogeschmack, seitwärts das Himmelbett, neben dem Fenstertisch ein hoher Lorbeer, einzelne vergilbte Kupferstiche Chodowieckis an den Wänden und diese letzteren selbst wie die Vorhänge, der Betthimmel, alle Polsterstühle mit derselben innig feinen Cretonne bezogen, die hier auf blaßgrauem Grunde ein Gehänge von Veilchensträußen zeigte. Das Feuer im Kamin durfte den Tag über natürlich nicht ausgehen; so beschäftigten sich beide Burschen, besonders der unermüdliche Pferdebursche Schuhmacher, fortdauernd mit dem Unterhalten desselben.
Eben war dieser wieder im Fortgehen, nachdem er vorher mit dem freundlichsten Schmunzeln (jeder gute Bursche weiß ja genau, was seinem Herrn Freude macht) demselben einen Brief übergeben hatte. Die kleinen, zierlichen Buchstaben auf dem Couvert gehörten sicherlich einer Frauenhand an, kamen dabei aus Trier, der Vaterstadt seines Herrn – und hatten ihm schon manches Fünfgroschenstück eingetragen – kein Wunder also, daß er sie nicht weniger eifrig erwartete, als der glückliche Adressat selbst. Diesmal waren sie früher als sonst eingetroffen; Karl Schuhmacher dachte großes Vergnügen zu machen, doch war es nur ein Ausruf des Erstaunens gewesen, der ihn belohnt hatte, und als er sich nun beim Schließen der Thür noch einmal umkehrte, meinte er auf dem Gesichte seines Premiers sogar eher einen gewissen Schreck, als die sonstige Freude zu sehen. Das machte ihn ganz nachdenklich und hätte ihn, wäre er daheim gewesen, sicher wieder zu seiner höchsten Strafe angetrieben – beim Staubwischen nämlich das Bild einer bestimmten Dame nicht zu berücksichtigen, da sie dergleichen, nachdem sie den Herrn geärgert, nicht verdiente.
Wirklich verbrochen? Es mußte sich auch anders ansehen lassen. Wernecks Mienen wechselten wiederholt im Ausdruck. Der anfangs in der That sorgenvolle Zug wich nach und nach einem übermüthigen, beinahe triumphirenden, der dann freilich von Neuem einer tiefen, sich bis in die Stirn erstreckenden Falte zum Opfer fiel. Dabei bemächtigte sich seiner eine nervöse Unruhe, welche in dem fortdauernden Aufstehen, ja selbst in der bloßen Art des vor sich Hinbrütens hervortrat – der Commandant von Achiet le Grand war jedenfalls um seine ganze Unbefangenheit gekommen.
Die Lampe brannte längst, der zuletzt aufgeworfene Holzstumpf war bereits wieder im Verglühen, trotzdem schien es auch jetzt noch eines gewissen Entschlusses zu bedürfen, daß Werneck sein Schreibgeräth aus dem Koffer nahm. Als dies endlich geschehen, wollte es mit der Anrede nicht glücken, und als diese dastand (auch das Wörtchen »arm« war darin enthalten!) fand sich der rechte Anfang nicht.
Aus diesem Dilemma erlöste ihn die Frage seines Wirthes, wie viel Flaschen Burgunders heraufzubringen wären. Der Lieutenant überschlug die Zahl der Theilnehmer an dem bevorstehenden Neujahrspicknick, zu welchem er den Tischwein beizusteuern hatte, bestimmte dann die Anzahl der Flaschen und erkundigte sich, während er den Betrag gleich berichtigte, in seiner freundlichen Weise nach dem Ergehen der Gattin des Krämers, die, seit der einzige Sohn bei Spicheren gefallen, in völligem Tiefsinn hinlebte Es war noch Alles beim Alten: mit schmerzlichem Tone dankte der Mann für die Theilnahme, dann ging er so leise, wie er gekommen.
Wernecks Gedanken waren auf Anderes gerichtet worden, es mußte außerdem Zeit sein, sich für den Abend anzuziehen, daher legte er die Schreibmappe, obwohl ihn das Sträußchen darauf gleichsam mahnend ansah, in den Koffer zurück. Schuhmacher brachte auch bald die Kleider und half in seiner gewohnten Weise durch Zureichen; so langte Werneck als einer der Ersten im Stabsquartier der Offiziere der siebenten Compagnie an. Diese hatten das größte Zimmer und die beste Küche im Ort inne, darum war für das kleine Fest von ihnen der Raum, die Suppe und eine mächtige, am Spieß gebratene Pute zu stellen gewesen.
Selbst dieses große und eigentlich leere Zimmer erschien dem Eintretenden gemüthlich: schon das Lodern des Kaminfeuers im Gegensatz zu der Kälte draußen begrüßte Jeden anheimelnd, doch nicht weniger die breite gedeckte Tafel mit den acht Couverts, ihrem blinkenden Krystall und den schmucken Vasen, in denen sich frisch gemachte Sträuße von Tannengrün und Zweigen der Stacheleiche anmuthig erhoben. Auf einem Seitentische stand die Batterie Burgunders, die Werneck geliefert, auf dem andern die Ananas-Bowle einer dritten Compagnie.
Bevor es noch Acht geschlagen, waren Alle zur Stelle. Sobald Werneck dann, als dem Aeltesten, von einem der Burschen gemeldet worden war, daß gegessen werden könne, gab er das Zeichen zum Beginn der Tafel. Man wählte sich seine Plätze, und alsbald wogte ein lautes, fröhliches Erzählen von Anekdoten oder bloßen Erinnerungen hin und her, dessen ungeachtet natürlich Allem und Jedem, von den Sardines à l'huile bis zum Nachtisch aus dem Obst und Käse der Normandie herab, vollste Gerechtigkeit widerfuhr.
Nachdem Werneck den Toast seinem Könige, der Heimath und den Lieben dort – allem Höchsten in Eins gebracht, wobei er einen Augenblick lang auf dem purpurnen Grunde des Glases Etwas zu suchen und zu finden schien, jagte ein Toast den andern. Man wurde endlich sehr munter: bis ein Hornist der 7. Compagnie das Signal »Gewehr in Ruhe« ins Zimmer blies, weil das alte Jahr geschieden. Nun sprangen Alle jubelnd auf, und Jeder wünschte dem Andern mit Herz und Mund und Hand, daß auch das neue Jahr wie 1870 ende.
Werneck, der zuletzt einer der Ausgelassensten gewesen, und seinen stilleren Nachbar Lohr (gleichfalls einen Landwehr-Offizier) viel geneckt hatte, nahm – als man ein wenig später allgemein aufbrach – dessen Arm. Unter dem scherzhaften Vorgeben, Lohr nach Hause bringen zu müssen, trennten sich die Beiden bald von den Uebrigen.
Die Kälte hatte für kurze Zeit nachgelassen, ein leichter Westwind strich nur erfrischend über die heißen Stirnen. Beide empfanden das angenehm und schwiegen, bis sie an die Gasse kamen, die nach Gomiécourt führt, an deren äußerstem Ende Lohr im Quartier lag. Hier stand derselbe still und wollte, nachdem er sich für die Begleitung bedankt hatte, nun allein weitergehen; doch Werneck schüttelte den Kopf und schritt vorwärts.
Plötzlich blieb er aber selbst stehen, und als Lohr, welcher auf dem glatten Wege zurückgeblieben war, herankam, ergriff er dessen Hände und sagte auflachend: »Sieh mich an, so sieht ein Vater in spe aus!«
Das Lachen klang nicht natürlich, eher verlegen und halb erzwungen.
Lohr blickte verwundert auf: »Wenn ich das verstehen soll, mußt Du schon deutlicher werden.«
»Ein Wort genügte – ein Name!«
»Ein Name?«
Das erste Mondviertel stand unter Gewölk, dennoch sah Werneck in dem Schneelicht, wie Lohr jäh erblaßte. Seine Augen allein brannten und frugen.
Und Werneck nickte einmal vor sich hin, dann fiel das schwere Wort, das doch so süß klang: »Rose!«
»Warum sagst Du mir das?« stieß Lohr, der zurückgetreten war, mühsam heraus.
»Habe ich Dir nicht immer Alles gesagt!« entgegnete Werneck. »Du kennst meine Schwäche – es mußte vom Herzen! Und bist Du nicht ihr Freund, wie der meinige? Mir ist der Gedanke so wundersam, bald möchte ich aufjauchzen, bald ist mir das Weinen nahe – nur um sie, um sie! Denke an ihre Mutter, diese aufgeregte, heftige Frau! Was mag sie von der zu leiden haben, und ich kann nicht zu ihr!«
Unwillkürlich hob Lohr die Schultern.
Sie gingen weiter. Der Mond leuchtete einmal klar über ihren Weg hin, dann flog er wieder mit den Wolken.
»Was ist mir schon durch den Kopf gegangen!« fuhr Werneck heftig fort, »doch Urlaub ohne Verwundung oder Krankheit gäbe es ja nicht; oder sollte ich mich dem Obersten vertrauen? Ich wollte blos heirathen und zurückkehren.«
»Ich wage da keinen Rath zu geben.«
»Du bist wieder so kalt und weißt doch, wie ich das hasse!«
»Bedenke, wie mir zu Muth ist, Hans! Verlange – aber ich bin ja nicht kalt! Du fühlst ebenso gut, daß es auch dabei noch viel zu überlegen gäbe: gesprochen ist bald, das Nachher« – –
»Gewiß! Ich habe nicht blos an mich zu denken, auch an sie, an ihre Familie – sogar an die meinige. Und in solchem Fall! Ach, Hellmuth, schon hundertmal habe ich heute denken müssen, wie spottwenig dieser ganze Erdenbettel werth sein kann, wenn das süßeste Vergessen, das von der Natur selbst in uns gelegte, unbezwingliche Fordern – solche Frucht, nur so bittre Frucht trägt. Aber der Einzelne kann nichts gegen die Weltsatzung und sie mag auch im Rechte sein, ich streite nicht darum – so traurig ist es nur! Doch vergieb mir, und gute Nacht! Wir wollen nun darüber schlafen, was Gescheidtes fänden wir heute doch nicht mehr: mein Burgunder war zu gut! Ich will Dir morgen eine Flasche zur Erinnerung schicken.«
»Hans!«
Soße winkte nur nochmals und blieb im Gehen. Durch die Nacht hallte Schritt bei Schritt, bis sie vom lauten Pfeifen des Liedes:
Wir saßen still am Fenster,
Das Licht war ausgebrannt!
übertönt wurden. Es war das Wernecks Leiblied, mit dem er aufstand und schlafen ging.
Am Morgen des nächsten Tages trafen Wernecks Hauptmann und einige Offiziere, die verwundet in Amiens gelegen, wieder beim Regiment ein. Das wollte Werneck gleichsam als Fingerzeig einer höheren Macht erscheinen und er beschloß, sich bei seiner Meldung dem Obersten anzuvertrauen. Bevor diese Meldung aber stattfinden konnte, kam der Divisions-Befehl, daß sich die Truppen sofort bei Puizieux zu sammeln hätten, da Faidherbe wahrscheinlich einen Verstoß machen würde. So rückten die Truppen aus. Nachdem sie in Puizieux bis zum späten Nachmittag geblieben, wurden die alten Quartiere wieder bezogen, nur die Compagnie, bei der Werneck stand, hatte noch bis Gomiécourt zu marschiren, um dort Vorposten aufzustellen.
Erst in der Nacht – es war wieder kälter geworden und die Sterne standen funkelnd klar am Himmel – rückte man in Gomiécourt ein. Das Dorf war ein echtes Dorf der Picardie: alle Gehöfte weit und unregelmäßig aus einander gelegen, jedes einzelne von einer lebenden Dornhecke und einem kleinen Walde von Obstbäumen umgeben, dabei nach der feindlichen Seite zu noch kleine Terrain-Erhebungen und eine Front, welche genügend zu bewachen kaum die ganze Compagnie hingereicht hätte. Da der größere Theil der Leute aber ruhen sollte, mußten die zu Posten bestimmten Mannschaften, um nur eine annähernde Sicherung zu gewähren, so vortheilhaft als möglich aufgestellt werden.
Das kostete dem Hauptmann sowie Werneck viel Gänge in's Vorterrain, es wurde fast Mitternacht, bevor sie sich der wohlverdienten Ruhe überlassen konnten. Vor Erschöpfung schliefen sie trotz des kalten, mit Ziegelsteinen gepflasterten Raumes sofort ein, wurden jedoch (wie immer) bald wieder durch die Ordonnanz geweckt, die den Befehl für den folgenden Tag überbrachte. Ein weiter Marsch stand in Aussicht, da das Bataillon der Abtheilung des Prinzen Albrecht, welche gegen Cambrai recognoscirte, zugetheilt worden war.
Schon gegen Fünf weckte die Reveille von Neuem, eine Stunde später rückte die Compagnie nach Achiet le Grand zurück, um sich mit den drei übrigen zu vereinigen. Diese waren bereits angetreten, mit dem Eintreffen der Compagnie marschirte das Bataillon ab.
Werneck war vierundzwanzig Stunden lang nicht aus dem Dienst gekommen, Gefechte standen außerdem bevor oder hatten vielmehr schon begonnen, wie der Kanonendonner bezeugte, der aus der Arraser Gegend herüberdröhnte, für den Augenblick erschien also jede Möglichkeit zum Fortgehen geschwunden. Im Grunde genommen dankte er dem Geschick dafür – das Bekenntniß seiner Schuld dem fremden Vorgesetzten gegenüber wäre ihm sehr schwer gefallen – daß ihm augenblicklich keinerlei Demüthigungen bevorständen, andrerseits peinigte ihn allerdings der Gedanke an Rose, doch besaß er leichten Sinn genug, um sich nicht besonders zu grämen. Mit erhobenem Kopf (nach seiner gewöhnlichen Art), das Bild strotzender Kraft und Frische, nur von einem Zuge tiefinneren Wohlwollens gemildert, schritt er vor der Compagnie her und Niemand hätte bei ihm auch nur einen Gedanken der Unzufriedenheit mit sich vermuthet.
Der Kanonendonner wurde stärker: die begleitende Cavallerie, das Bataillon machten Halt und beide Führer erwogen, ob man nicht umkehren sollte, da bei Bapaume eine volle Schlacht zu entbrennen schien. Die Ordre lautete aber bestimmt, auch wäre ein etwa nothwendiges Zurückholen durch einen Ordonnanz-Offizier so leicht zu vermitteln gewesen; nach kurzem Rendezvous ging der Vormarsch weiter. Und noch lange weiter, bis in die Nacht hinein: steter Geschützdonner im Rücken, ein grimmer Nordwest spitz von der Seite. Der Weg wurde immer glätter, dicke Eisstücke ballten sich unter den Sohlen, kein fester Tritt mehr – endlich blos noch ein allgemeines Schwanken. Wie verweht schien die Straße, nachtschwarz alle Ferne, der Mond blickte durch Nebel, und noch immer nicht das zum Nachtlager bestimmte Dorf, immer wieder mit einem Seufzer an Gehöften vorüber ins scheinbar Leere hinaus. So ging es bis gegen Elf: aufgeschrieen hatte es hier und da, halb im Fluch, halb vor Schmerz – zuletzt schien das Ganze Nichts als ein vielköpfiges, gezähmtes Ungeheuer, das sich, ohne mehr aufblicken zu mögen, in dumpfer Gefühllosigkeit vorwärts wand. Schließlich blieben zwei Compagnien, darunter die frühere Werneck'sche, in einem Ort an der Straße halten, die beiden anderen mit der Cavallerie mußten noch einige Kilometer weiter bis Epéhy.
Bei einer dieser letzteren stand Lohr. Auch er hatte natürlich unter den Anstrengungen des Tages gelitten, jedoch war er vielleicht derjenige vom ganzen Bataillon, dem das Schwere am leichtesten gefallen. Schon seit der Neujahrsnacht hatte ihn alles Aeußere wenig berührt; wie mechanisch wurde die Pflicht gethan, im Herzen, mit jedem Gedanken blieb er in der Heimath. Immer von Neuem mußte er erwägen, wodurch Roses Leid gemildert werden, was es erschweren könnte. Oft vergaß er auch gänzlich das Geschehene und lebte nur in der Vergangenheit, wo er sich stets mit der heimlich Geliebten vereint sah: von ihren ersten kindlichen Spielen auf der Gerolsteiner Ruine an, bis Beider Eltern kurz hinter einander nach Trier versetzt worden. Wernecks Bekenntniß hatte selbst das scheinbar Verwundene aufgeweckt: all die elenden Stunden, in denen er seine Liebe niedergerungen, waren wieder da, als wären sie eben erst vergangen.
Dieser fortdauernde innere Kampf hatte Lohr doch endlich so geistig erschöpft, daß er, in Epéhy angekommen, auch nur wie alle Uebrigen ein Bedürfniß, das nach Ruhe, nach ein paar Stunden Schlafes hatte. Er aß eine Kleinigkeit, dann warf er sich auf das im Putzzimmer seines Wirthes für ihn und einen Kameraden hergerichtete Strohlager (nur für den Compagnie-Führer war ein Bett in eine Ecke gestellt worden) und schlief bereits, während er noch dem Aufflammen des Kaminfeuers zu folgen schien.
Der Morgen weckte noch zeitiger als sonst, da für den neuen Schlachttag alle irgend verfügbaren Kräfte in die Gegend von Bapaume zusammengezogen wurden. So mußte auch dieses abcommandirte Bataillon den gestrigen Marsch zurückmachen, und zwar in so beschleunigter Weise, daß die beiden in dem Ort vor Epéhy gebliebenen Compagnien die von Epéhy nicht einmal abwarteten, sondern mit andern Truppen früher aufbrachen.
Dadurch marschirten diese letztern Compagnien für sich allein in dem immer strahlender heraufsteigenden Wintermorgen. Leicht umschleiert und in voller Majestät leuchtete die Sonne nieder. Nach allen Seiten hin weiße, glitzernde Aecker oder Wiesen, da und dort ein Häuflein Bäume im Rauhfrost, oft wie von Mistelnestern überdeckt oder epheubehangen. Heiser tönte wohl eine Kirchenglocke, und noch heiserer war ein Etwas von Dröhnen in den Lüften, das die Marschirenden dennoch sofort erkannt hatten. Es schien nur durch irgend ein Hinderniß eigenthümlich gedämpft zu werden. Als einige Ortschaften passirt waren, sah man das Hinderniß klarer vor sich: eine lang hingedehnte Hügelkette, die, mit Wald und Dörfern gekrönt, jede Aussicht nach der Bapaumer Gegend verbarg.
Man kam jedoch bald näher, da der ganze Trupp in einer gewissen Hast vorwärts strebte – den Kameraden nach, um, wenn irgendwo Hilfe von Nöthen, zur Stelle zu sein – und je näher man kam, um so deutlicher wurde das Gedröhne. Hatten sich am Morgen die dumpfen Schüsse oder Salven noch von einander abgelöst, jetzt gegen Mittag rollte ein ununterbrochener Donner.
Den höchsten Punkt der Hügelkette erreichte man am Ausgange eines Dorfes, in welchem sich, wie an Schlachttagen, in der Regel kein Bewohner blicken ließ. Der Führer der Compagnie befahl ein kurzes Rendezvous, um sich über den weiteren Marsch zu orientiren, da hier Kreuzwege abzweigten, und der in dichten Pulverrauch gehüllte Horizont nicht erkennen ließ, in welcher Richtung Bapaume liege.
Während der Führer nach dem nächsten Gehöft ritt, ging Lohr ein Stück auf einem der Wege vorwärts. Da stand neben einer alten, knorrigen Eiche ein Crucifix: seltsam mild erschienen die Züge des Heilandes unter dem Kranze von Immergrün und Ebereschenbeeren. Viele der Beeren waren bereits herabgefallen und lagen wie Blutstropfen im Schnee. Lohr sah unverwandt zu dem Steinbild auf und fühlte plötzlich, wie dieser große Stille doch überall am Platze sei. Traurige giebt es eben nicht bloß in Kirchen oder Friedhöfen, gerade auf einsamen Wegen, in den Kammern ist ihr rechtes Heim. Und solches übergroße Leiden, das Phantasie wie Gefühl immer wieder gefangen nimmt, tröstet so wundersam und hebt über das eigene Leid fort. Auch Lohr schied mit einem dankbaren Blick von der Stelle: war es ihm doch, als sei der Druck leichter geworden, der seit der Neujahrsnacht auf ihm gelegen hatte.
Der Trupp setzte sich, von einem Bauer geführt, bald wieder in Bewegung. Dieser Franzmann sah trotz seines kaum beneidenswerthen augenblicklichen Berufes ganz jovial aus und warf nur zuweilen einen mißtrauischen Blick auf den Revolver des Führers. Nach einer Stunde etwa war sein Amt gethan und er trollte seelenvergnügt, den einzelnen Zurufen, welche ihm beim Passiren des Trupps entgegen schallten, in derselben scherzhaften Weise begegnend, wieder seinem Dorfe auf der Höhe zu. Natürlich hatte er diese Zurufe mehr durch die begleitenden Gesten errathen, und wurde jedenfalls nur bei der Lebhaftigkeit der seinigen überhaupt verstanden.
Eine bereits näher einschlagende Granate trübte dieses harmlose Hin und Wider: das Bäuerlein nahm ungenirt Reißaus, bei dem Trupp faßte Jeder sein Gewehr fester und alle Glieder schlossen energisch auf. Der Granaten wurden bald mehr: man vermochte nun auch ihre aufsteigenden Wölkchen zu erkennen und sah und hörte ihren Niedersturz, diesen in der Nähe so furchtbaren Doppelkrach, an den sich wohl kein Menschenohr gewöhnt. Schon zischten auch Chassepot-Kugeln, hier – da, einen Baum splitternd: doch jenen Lauten gegenüber ja ein bloßes Nichts – dem Schwirren der Sommerfliegen gleich wider Blitz und Donnerschlag.
Die Chaussee, welche eine Zeit lang in der Niederung geblieben, stieg zu einer kleinen Anhöhe empor: auf derselben angekommen, übersah man das ganze Schlachtfeld. Dicht voran und scheinbar mit Bapaume schon zusammenhängend, lagen Gehöfte an der Straße, welche von Artillerie und den beiden andern Compagnien des Bataillons besetzt waren. Um zu denselben zu gelangen, wurden einige hundert Schritte im Laufschritt zurückgelegt, da der Feind, welcher die Ankunft neuer Truppen bemerkt haben mußte, einige Salven abgab. Glücklicherweise schoß er zu hoch, so eilte der Trupp wie unter einem bleiernen Ehrenbaldachin unversehrt dahin, bis er sich in der Deckung der Häuser als Soutien der vorgegangenen Kameraden aufstellen konnte.
Lohr erfuhr, daß die Werneck'sche Compagnie dem Feinde am nächsten stehe, und die Ferme von St. Aubin, welche sie jetzt besetzt hatte, erst nach heftiger Gegenwehr und vielen Verlusten genommen habe. Daß Werneck persönlich verwundet sei, hatte Niemand gehört. Etwas wie Ahnung trieb Lohr ungeachtet immer nach vorn zu den Posten, sobald wieder Verwundete herübergetragen wurden. Einer von diesen behauptete denn auch, der Premier sei kurz vor ihm gefallen, was ein Anderer freilich wieder bestritt, da derselbe nur auf dem Eise des Hofes gestürzt sei, sich jedoch sofort wieder erhoben habe.
Während Lohr nun, zwischen Hoffen und Fürchten schwankend, an einem Zaune zurückging, fühlte er plötzlich einen starken Schlag auf den Arm. Als er nach der Stelle faßte, färbte sich der Handschuh roth. Schmerz empfand er anfangs nicht, doch ging er natürlich nach dem Zimmer in der Mühle, wo sich ein Lazarethgehilfe der von den Aerzten aus der Ferne Herübergesandten annahm. Dieser zwar nur bescheidene Diener der Heilkunde legte ihm jedoch einen ganz regelrechten Verband an und ersuchte ihn dringend, im Zimmer zu bleiben, damit der Frost nicht in die Wunde schlüge. Als nun aber der Befehl für seine Compagnie kam, jene in der Ferne für die Nacht abzulösen, folgte er dennoch den Seinigen. Ehrgefühl, Freude an der Gefahr, Gedanken an Werneck – Alles vereint trieb ihn zum Mitgehen.
Wieder mußte der Uebergang im Laufschritt an Zäune entlang genommen werden: die Franzosen, welche nur zwölf bis fünfzehn hundert Schritte entfernt standen, unterhielten trotz der anbrechenden Nacht noch eine Art von Schnellfeuer, welches selbst dann und wann von Granaten, die aber sämmtlich zu weit gingen, verstärkt wurde.
Glücklich in der Ferme angekommen, verging die erste Stunde mit dem Ablösen der Posten, dem Einlogiren der Soutiens, weiterem Einbrechen von Scharten in die Lehmwände der Ställe (weil der Befehl – im Fall eines Angriffs – auf äußerstes Halten gelautet), kurz mit all dem zeitraubenden und doch so nothwendigen Thun, wenn es blutigen Ernst, nicht bloßem Manöverspiel gilt.
Lohr hatte seinen Pflichten mit einem bangen Gefühl der Sorge obgelegen, da ihm Schuhmacher, der seinen Herrn nicht verlassen, bald nach dem Eintreffen von dessen schwerer Verwundung und dem fortdauernden Verlangen desselben, ihn zu sehen, benachrichtigt hatte.
Endlich war Alles gethan und Lohr beurlaubte sich bei seinem Compagnieführer, um bis ins nächste Gehöft zu gehen, wo der Freund liegen sollte. Der Weg dahin war wie mit Todten übersäet, die sich bei dem Halblicht ungestaltet, scheinbar so übergroß aus dem Schnee emporhoben. Lohr streifte ihre Züge nur mit den Blicken: doch glaubte er immer zu wissen, wer von ihnen erschossen, wer erstochen wäre. Jene gleichsam feierlich schlummernd, diese verzerrt in jeder Miene, stets die Fäuste geballt oder noch wie drohend gegen den Himmel gerichtet. All der Tod ringsum hatte ihn auf Augenblicke von seinen Gedanken abgezogen: er war sogar stehen geblieben, um in die Nacht hinaus zu horchen, von wo es mit dem Schrei von Raben wie ein Wimmern gekommen war. Sollten noch mehr Verwundete draußen liegen? in dieser Kälte? Doch ihm hatte ja der Compagnieführer eben gesagt, daß er Keinen mehr holen lassen könne, weil auf die Träger geschossen würde. Da lag auch das Gehöft vor ihm und Schuhmacher stand schon im Thore.
Durch welche Zerstörung mußte er ihm folgen! Auf dem engen Hofe lag es voll Waffen und fortgeworfener Tornister, im Wohnhause waren die Fenster eingeschlagen, Blut und Scherben auf den Fliesen, überall Spuren von Schüssen oder grausigerem Handgemenge. Während sie die Küche passirten, lachte sie ein alter Mann, der neben einem todten Kinde hockte, einmal blöde an, wandte sich aber in glücklichem Vergessen bald wieder lauschend seinem Lieblinge zu, dessen Kopf halb in den Kohlen des Kamins lag. Ein Unnennbares von Weh durchzitterte Lohr: sein Herz wurde nichts als eine stumme Frage nach der Nöthigung, dem Warum dieser Schrecken. Darnach hatte aber schon jeder Sterbende gefragt, und war keiner Antwort gewürdigt worden.
Als sie über die Schwelle des kleinen Raumes traten, in welchem Schuhmacher seinen Herrn gebettet, weil die Scheiben des Fensterchens zufällig ganz geblieben, vermochte Lohr eine Geberde des Erschreckens nicht zu unterdrücken. Allzu tief waren bereits Linien, Spuren des Zerfalles gleichsam, in das Antlitz des Freundes geprägt – hier schien nur noch ein Ausgang bevorzustehen: oder täuschte der Schein des Lichtstumpfes?
Werneck, der Lohrs plötzliches Zurücktreten bemerkt hatte, nickte schwerfällig: einen Augenblick war es dann sogar, als huschte das alte Lächeln über seine Züge und schenkte denselben noch ein Mal ihre Frische und Schönheit. Dabei rief er in aufgeregter Weise: »Endlich! wie habe ich mich nach Dir gesehnt! Nun ist aber Alles gut – Alles gut.« Eine Pause entstand.
Lohr vermochte vor Ergriffensein kein Wort der Rechtfertigung vorzubringen; er behielt nur die Hand des Freundes, welche ihm dieser entgegengestreckt hatte, in der seinigen.
»Schuhmacher!« begann Werneck hastig von Neuem, »Sie halten draußen Wache; Keiner soll mehr kommen, auch nicht der Doctor! Den lassen Sie nicht herein!« Auf Lohr sehend fuhr er fort: »Er hat mir offen gesagt, sagen müssen, daß nicht mehr zu helfen ist; wenn er aber kommt und nachsehen will und herumfühlt – werden die Schmerzen noch größer!«
Schuhmacher, der auf weitere Befehle zu warten schien, wohl aber nur in dem Ahnen zögerte, zum letztenmal in die Augen seines guten Herrn zu sehen, verließ auf einen erneuten Wink desselben die Kammer.
Die Freunde waren allein. Dennoch schloß Werneck die Augen, als bedürfte er vorerst der Sammlung. Nur der krampfhafte Druck seiner Hand bezeugte, daß er noch lebte.
Da mochte er jedoch mit sich einig geworden sein, wenigstens sagte er nun, indem er Lohrs Blicke sichtlich wird: »Du hast mich warten lassen! Ich weiß!« wehrte er dessen Entschuldigung ab. »Jetzt ist meine Zeit aber knapp geworden, vergieb, wenn ich mir alle Vorreden schenke. Nimm an später, wenn ich nicht mehr bin und es zum Erfüllen kommt – ich hätte gebeten mit jeder Bitte, die das Herz, ein folterndes Gewissen findet! Nun ist für Nichts davon mehr Zeit: die klugen Doctoren haben sich schon gewundert, da nebenan – ich hörte es wohl, daß noch kein Delirium eingetreten sei! Als ob das anfangen könnte, bevor ich Dich gesprochen! – Du mußt helfen, sonst kann ich nicht sterben, Hellmuth.« Hart, wie ein Drohen, waren die Worte gefallen. ù
»Helfen?« wiederholte Lohr überrascht.
»Du hast sie geliebt von langher und liebst sie noch: seit neulich weiß ich es. In einer Stunde – nicht eine Stunde mehr! ist Rose Wittwe. Sehr grausam sind Die dort oben, oder wo es sie umtreibt, die Macht über uns haben; ich bettelte um eine Wunde – die Wunde vergönnten sie mir, nur zu tief, ein wenig zu tief! Doch wir müssen es ihnen verderben, Hellmuth – ich weiß ein Mittel!«
Dieser zuckte zusammen; Werneck hatte seine verwundete Hand ergriffen, und stechende Schmerzen riefen ihm die eigene Wunde ins Gedächtniß. Ein Gefühl von Ohnmacht wollte ihn überkommen, doch faßte er sich mit Gewalt: »Was für ein Mittel meinst Du?«
Werneck zog ihn zu sich nieder und flüsterte ihm in's Ohr: »Du bist ein freier Mann, sei groß – größer als Die über uns sind! Rose ist meine Wittwe, und eine Wittwe darfst Du zum Weibe nehmen: ich hätte es so gewollt, sage ihr das, wenn sie zagt. Und Du wirst gut zu ihr sein? Darauf gieb mir Dein Wort! – Schweige nicht so lange, sonst hör' ich es nicht mehr.« Erschöpft sank er zurück und schloß von Neuem die Augen.
In Lohr mischte sich im ersten Moment Empörung über ein solches Verlangen wundersam mit einem wonnigen Schauer bei dem Gedanken, nun der Geliebten zeigen zu können, welche Liebe sie zurückgewiesen! Aber die Ehre – seine Mannesehre? Es war ja unmöglich! – Rose war nicht Wittwe – eine Verführte. Gleichsam mit Haß füllten sich seine Blicke.
Werneck hatte diesen Wechsel der Empfindungen verfolgt, da er die Augen bald wieder geöffnet. Tonlos sagte er:
»Also doch getäuscht? Das Geschöpf mag nicht größer sein können als der Schöpfer: Der hängt an Worten, oder sie lehren es wenigstens so die Priester. Hätte einer von denen unsern Bund gesegnet, wie Euch Alles in Ordnung erscheinen würde! Du scheutest Dich nicht – sie lebte in Ehren! – Und doch ist sie so schuldlos, an Allem so traurig schuldlos! mich allein packte die Sünde, als ich fort mußte – auf Nimmerwieder!« Erschütternd klangen die gebrochenen Laute hin.
Lohr sah Rose in all ihrem unschuldsvollen Liebreiz gleichsam vor sich und hier lag der Freund im Sterben, der ihm vor Allen lieb gewesen war. Welche Verzweiflung in dessen Augen stand! Wie die so viel rührender sprach als das Fordern, seine Bitten vorher! Konnte er denn aber helfen? Er war frei, sein Beruf legte ihm keinerlei Schranke auf, Niemanden hatten seine Entschlüsse zu kümmern. Wie liebreich sich Wernecks Eltern seiner von dem Augenblicke angenommen hatten, wo die seinigen gestorben! Jetzt konnte er am Sohne vergelten? Doch das Opfer blieb allzu groß! An der Ehre sollte der Mann nicht verderben.
Als wäre der Tod eben in die Kammer getreten, so still wurde es darin. Nur das Flämmchen des Lichtes flackerte in irgend einem Luftzug.
Auf beiden Männern lag Unaussprechliches. Ihre Studienjahre erstanden vor ihnen, ihr treues Zusammenhalten und wie sie sich Eins fühlten: den Einen noch bitterer machend und voll geheimer Anklagen, im Andern nach und nach das Letzte von Widerstand, das ihm geblieben, niederwerfend und dem Opfer fast einen Schimmer der Verklärung leihend. Was zudem die Zukunft barg – wer wußte das? Schon die einfache Wunde, die ihn mehr und mehr zu peinigen begann, konnte das gleiche Ende bringen! Für jetzt galt wirklich nur Eins: Frieden zu geben – Frieden.
Und mit einer Hast, als fürchtete er sich, daß ihm einen Augenblick weiter Alles wieder anders erscheinen könnte, rief Lohr, indem er des Freundes Hand mit festem Drucke umschloß: »Ich gebe Dir das Wort – meine Ehre soll die ihre sein!«
»Hellmuth!« rang es sich bis aus Wernecks Herzen – und Thräne an Thräne rann seine bleichen Wangen nieder. »Ich weiß,« fuhr er endlich fort, »daß Du mir Dein Leben giebst, und nun bangt mir, das Opfer anzunehmen! Aber nein –« ein letztes Aufleuchten strahlte aus seinen Augen – »sie ist dessen werth. Wie Du glücklich sein wirst! – Und ich hätte so gern noch gelebt! mich schaudert, hinabzugehen. Herr mein Gott – so jung! – Ob der Doctor noch nicht kommt? Hole ihn, Rose, Dir muß er ja folgen! Alle folgen Dir, nur ich nicht. Laß die Hand los, sonst kann ich nicht aus dem Grabe! und will doch – und muß zu ihr! Rose!« Er lachte auf, daß es schauerlich durch die Kammer klang, dann hob er sich jäh empor: doch in demselben Augenblicke sank er auch zurück.
Als Lohr sich über ihn beugte, war das Leben bereits entflohen. Schuld hatte es erhalten, der Friede löschte es aus.
Die Wunde Lohrs verschlimmerte sich während der Nacht so bedeutend, daß er nicht bei der Truppe bleiben konnte und schon am Morgen des nächsten Tages mit den anderen Verwundeten, Preußen wie Franzosen, nach Amiens transportirt wurde. Auch Schuhmacher hatte mit abrücken müssen, als das Bataillon zur Cernirung von Péronne aufbrach – die Todten von St. Aubin wurden von andern, neu herangezogenen Truppen begraben: darum geschah das aber in nicht geringerer Feierlichkeit und der Schlummer derselben blieb nicht weniger tief.
Es verging beinahe eine Woche, die Lohr in starkem Wundfieber zubrachte. In dieser Zeit erschien ihm alles Vergangene traumhaft, oft nur wie irgend eine seiner Phantasien, deren er sich zuweilen gleichfalls entsann.
Die Fiebererscheinungen ließen aber nach, das Phantasiren hörte auf – mit demselben wollte jedoch die Erinnerung an jene Nacht in St. Aubin nicht weichen. In wahrhaft unheimlicher Schärfe trat immer von Neuem Bild an Bild hervor: es fiel ihm nicht schwer, sich auf ganze Satzfolgen zu besinnen, die Werneck gebraucht. Und vor Allem – was er selbst sich damals abgerungen, was er gelobt hatte, empfand er wie einen fortdauernden Stachel.
Geschehen mußte etwas darin, eher, fühlte er, würde die Unruhe, sein wieder stärker auftretendes Fieber nicht schwinden. Was sollte aber geschehen? Wenn er auch die Kraft dazu fände, durfte er schreiben? An wen? Der Mutter oder an Rose? Er wußte nichts Bestimmtes: Wernecks so plötzlich eingetretener Tod hatte ihm die natürlichsten Fragen unbeantwortet gelassen. Ob die Mutter nun eingeweiht sei? Von einem Verlöbniß der Beiden hatte sie nie etwas wissen wollen, da ihr Werneck durchaus unsympathisch gewesen, und sie wohl nur an ihn selbst als Gatten der Tochter gedacht hatte. Wenigstens war ihm das in Scherz wie Ernst unzähligemal versichert worden. Rose allein hatte geschwiegen: ob sie auch heute noch schweigen würde?
Wenn Lohr bis an diesen Punkt gekommen, suchte er trotz allem Vornehmen wieder an Anderes zu denken; das Blut wallte zu stürmisch auf – es war, als wollte es den Verband sprengen.
Zeit, und dann die Uebung gewöhnen aber wohlthätig selbst an scheinbar Unüberwindliches: in einer stillen Nachmittagsstunde, wo die beiden Offiziere, welche das Zimmer im Lazareth mit ihm theilten, zu Kameraden hinübergegangen waren, und er matt und müde nach einer schlaflosen Nacht auf dem Bette lag – da reihte sich halb unbewußt Gedanke an Gedanke, wie das Leben fortan einzurichten wäre. Unendliche Entsagung stand bevor, unendlich Schweres war erst zu überwinden, dann verhieß jedoch selbst die bloße Schein-Ehe noch manches Freundliche. Ganz Anderes hatte er freilich geträumt, was bedeuten aber Träume? Immer nur die alte, wehe Lehre: wenn sich ein Lebenswunsch erfüllt, muß er sich auf seine Weise erfüllen und die ist gar selten nach Menschen Gefallen.
In dunkleren Stunden drängten sich auch andere Gedanken herauf. War eine solche Forderung nicht überhaupt schon ein Deliriren gewesen? So naiv egoistisch Werneck bei seiner ausgeprägten Selbstsucht oft gehandelt, bis dahin hätte er sich bei gesunden Sinnen nie verirrt! Mußte also ein nur durch Ueberreizung und Gewissensbisse hervorgetriebenes Verlangen ausgeführt werden, weil in übergroßem Mitleid eine Zusage gegeben worden? Wer konnte das fordern! Aber wußte denn Jemand davon? Und versündigte er sich nicht an sich, wie seiner Zukunft, wenn er sie hinwürfe gleich etwas Werthlosen? Sicherlich that er das: darum unter die Füße mit allem zu Sentimentalen! Er hatte das Versprechen nicht in frivoler Weise gegeben, selbst diese Art Nothlüge war schwer genug geworden – jetzt war er aber frei. Konnte der Todte noch zu ihm sprechen, selbst der würde ihn nun von seinem Schwure lösen! Diese Zweifel kamen wohl gar von dem? wie die Mutter einst so rührend gemeint – der todte Gatte lenke noch ihre Gedanken.
Und doch! – In der Tiefe des Herzens schien ein Etwas trotz all dieser berechtigten Einwürfe immer zu wissen: sobald es zum Thun käme, müßte dieses Thun ein anderes sein, als was sich jetzt wie das künftige geberdete. Ihm war, als könne er doch nur der Stimme folgen, die ganz schlicht sagte: Werneck war voll bei Sinnen, erst zuletzt – da Alles vorüber, habe sein Geist angefangen, in der Irre zu gehen. Und ebenso klar sei es in ihm gewesen: der Vertrag somit geltend vor Dem oben, vor der Stimme da drinnen. Wie gleichgiltig also, daß ihr Niemand gehört habe – wußten doch die beiden obersten Richter davon.
Und Rose? Hatte Werneck nicht Recht, war es nicht heute noch ein Glück, solche Freundin sein eigen nennen zu dürfen! ihr Alles zu werden, Eltern, Schutz und Ehre – nur Eines nicht, der Gatte. Wenn ihre Mutter darum wüßte – und wie sollte sie nicht – dann trug die Aermste Unsägliches.
Es war darum Pflicht, so bald als möglich zu ihr zu eilen; an solchem Bald hing vielleicht viel, ihr Leben selbst! Wernecks Tod würde ihr nicht verheimlicht worden sein, die Familien standen ja in Verbindung – wozu konnte sie dadurch getrieben werden! Es blieb das einzig Rechte, sich persönlich von Allem zu überzeugen und danach die Entscheidung zu treffen.
Fast dankbar empfand er nun seine Verwundung: erleichterte sie die Heimkehr doch aufs Wesentlichste. Ohne seinen geheimen Zweck verrathen zu müssen, bedurfte es nur der Bitte, sich einem Transport von Reconvalescenten anschließen zu dürfen, wozu die Aerzte selbst schon gerathen hatten.
So erhielt er denn eines Tages gegen Ende Januar seine Reiseroute eingehändigt und konnte die Heimfahrt antreten. Diese wurde ihm noch durch die Gewißheit leichter gemacht, daß Unterhandlungen über einen Waffenstillstand bereits im Gange waren, die hoffentlich zum Frieden führten. Also blieb wohl die Schlacht bei St. Quentin auch für seine directen Kameraden die letzte Waffenthat! Niemand erschien mehr so nothwendig, und Jeder bekam wieder eine Art von Berechtigung, selbst über sich zu bestimmen.
Es war ein seltsam wonniges Empfinden, als er am nächsten Morgen die eleganten Boulevards von Amiens entlang nach dem Bahnhof fuhr. Wie anders sich nun all die Prachtbauten ansahen! Bereits wieder mit dem Auge des Kenners, nicht mehr des Soldaten, der gleichgiltig daran vorüber marschirt, ganz von der Pflicht des Augenblicks erfüllt. Selbst die Zukunft trat zurück, und er hatte nur das glückselige Gefühl gleichsam aus der Leere, dem Nichts, in Bestimmtes zurückzukehren, aus völliger Ungewißheit in Ordnung und Gesetzlichkeit. Mit einem rührenden Schimmer von Schönheit umkleidete sich dabei auch jede Stätte daheim: wie segnend streckte sich die Hand aus bis hinüber nach dem Grabe seiner Eltern. Dort wollte er zuerst hin. Trotz dieses Gedankens lächelte der Mund jedoch immerfort, und er sah einigen Schulmädchen, die zierlich graziös über die Straße eilten, mit heiterem Wohlgefallen nach, bis sie in den Anlagen eines Platzes verschwanden.
Mit einem Blick auf die Kathedrale, welche ihm als das Herrlichste erschienen, was er je gesehen – den heimathlichen Dom am Rhein, selbst den Reimser nicht ausgenommen, mit diesem langen Blick, der zuletzt auch die Stadt und mit ihr die schweren Tage umspannte, die er dort gelebt – schied er von Amiens.
Die Fahrt ging verhältnißmäßig langsam von Statten, an verschiedenen Orten wurden ebenfalls Reconvalescenten aufgenommen, über einzelne Strecken, wo die zerstörten Geleise kaum hergestellt waren, fuhr der Zug mit Vorsicht. Trotzdem war man vor Anbruch der Nacht in Metz. Schon hier mußte es Jedem vorkommen, als wäre er in der Heimath; auf dem Bahnhof die Fülle der bekannten Uniformen, selbst von den Gepäckträgern und der Hotelbedienung beinahe lauter deutsche Anreden. Wie melodisch Lohr jede solche Ansprache klang!
Die Nacht verging auf einem harten Lager in einer Art von Vorflur – bei der großen Menge der Fremden hatte er nichts Besseres aufgetrieben – zweifelhaft genug, eigentlich noch ganz in derselben Weise, wie er es im Felde gewohnt gewesen, doch überkam ihn bei jedem Erwachen, das wohl vor Kälte eintrat, oder bei dem Geräusch neuer Ankömmlinge im Hause, immer bald wieder ein nur wohliges Gefühl. Heimathnähe, schon Heimathluft! und die Ordonnanz mit den Befehlen für den kommenden Tag weckte nicht! Was bedeutete alles andere Wecken!
Am frühen Nachmittage kam Lohr in Trier an. Nicht laut äußerte sich seine Freude, eine gewisse Mattigkeit lag sogar auf ihm, da der Arm wieder schmerzte – doch in den umschleierten Blicken, in der Milde seines ganzen Wesens lag etwas wie heimliches Glück. Und das verstärkte sich, als er in das ihm angewiesene Zimmer im »Trierer Hofe« trat: wäre er noch ein Kind gewesen, hätte er, wie einst unter der Mutter Augen, am Fenster hinknieen mögen und beten. Es zog ihn auch jetzt noch dazu, dergleichen schickte sich doch aber nicht, in Gedanken höchstens! Und in Gedanken stand er eine lange Weile am Fenster; aus demselben sah er das Haus, von wo er vor vier Monaten mit Werneck nach Frankreich gegangen war. Sie hatten damals zufällig neben einander gewohnt; wie sich nun der Anfang in das Ende schloß! Doch nur Einer kam zurück, und um welchen von Beiden, den tiefen Schläfer oder den Wachenden, es besser stand – wer möchte das entscheiden! Selbst er nicht.
Nachdem er seinem Gelöbniß nach erst der Eltern Grab mit frischen Kränzen geschmückt und dort scheinbar ruhiger geworden war, ließ er sich nach der Villa in der Nähe der St. Matthäi-Kirche fahren, wo Frau Weyer, Roses Mutter, wohnte. Schon von der Straße aus sah er, daß alle Jalousien niedergelassen waren – so schritt er mit ahnungsvoller Besorgniß durch den verschneiten Garten. Die Besitzerin der Villa, welche ihn ankommen gesehen, öffnete persönlich die Thür und begrüßte ihn in ihrer lauten Art. Es währte eine ganze Weile, bis ihre Neugier und Theilnahme so weit gestillt war, daß Lohr nach den Damen Weyer fragen konnte. Dieselben wären wohl für immer, theilte sie nun bedauernd mit, nach Köln gezogen, wenigstens hätten sie das Quartier für April gekündigt.
Erst jetzt auf der Rückfahrt erschien es Lohr, als sei das ein Wirkliches geworden, was er seither immer noch wie Unmögliches empfunden. Gab es einen herberen Beweis für Alles, als daß die Mutter aus ihrem geliebten Trier gleichsam geflohen war? Aber er durfte nicht fliehen, folgen mußte er ihr – immer nach, wo sie sich auch zu verbergen gedachte. Gleichwohl hatte er genau die Kölner Straße wie Nummer gemerkt: mechanisch flüsterte er sie zuweilen vor sich hin.
Nach langem Wachen, aber ohne die Freude an der Heimath mehr, wie er sie noch gestern in Metz gehabt, fiel er in tiefen Schlaf. Auch der nächste Morgen weckte nochmals früh; doch bevor es dann Mittag wurde, sah er die Thürme Kölns aus Nebeln auftauchen.
Bald nach Drei zog Lohr die Klingel an der jetzigen Wohnung der Frau Weyer. Das bekannte Porzellanschild mit ihrem Namen, den er so unendlich oft gelesen, daß er sich der Form jedes Buchstabens entsann – es war hier nicht an der Thür, keine Karte – Nichts, Alles so fremd und fremd auch das Gesicht, welches er nun beim Oeffnen erblickte. Auf seine Frage, ob Frau Weyer hier wohne, trat dieselbe aus einem Seitenzimmer und gab selbst die bejahende Antwort; zugleich mußte sie den Sprecher erkannt haben, denn sie fuhr sichtlich zusammen, ja, schien sich gleichsam an der Thürbrüstung zu stützen.
Ehe Lohr aber näher trat, hatte sie sich bereits gefaßt und rief in ihrer lebhaften Weise: »O welche Freude, liebster Hellmuth! Wer hätte sich von solcher Ueberraschung etwas träumen lassen! Willkommen in der Heimath.« Nach einem herzlichen Händedruck ging sie in das Wohnzimmer voran, indem sie dabei fortfuhr: »Und immer der treue Hellmuth! Wie freundlich von Ihnen, uns selbst hier aufzusuchen! Wo haben Sie denn unsere Wohnung erfahren?« Sie setzte sich und lud auch Lohr durch eine Handbewegung dazu ein.
»Ich komme von Trier –«
»Und waren bei uns?« unterbrach sie. »Gott, ich spreche, als hätten wir noch ein Anrecht auf die alte Wohnung. Das kommt nur, weil ich sie noch keinen Augenblick vergessen kann, sie täglich und stündlich entbehre; Sie glauben es nicht, wie schmerzlich mir das neue Eingewöhnen fällt!« Sie konnte nun wohl die Frage nach dem Warum des Wechsels erwarten, oder fürchtete dieselbe mindestens, so fügte sie rasch hinzu: »Dennoch war es für uns nothwendig, das Quartier aufzugeben; es blieb einmal ein Sommer-Quartier, und bei dem strengen Winter litten wir geradezu, besonders Rose.
Lohr hatte in andern, gleichfalls strengen Wintern niemals dergleichen Klagen gehört, doch gab er seiner Verwunderung natürlich keinen Ausdruck und that auch ebenso wenig die andere Frage, warum sie deshalb Trier gleich verlassen und bis Köln gezogen wären. Er hielt sich an ihr letztes Wort und fragte, wo Rose sei.
»In der Kirche,« antwortete Frau Weyer
Das klang so einfach und wurde augenscheinlich völlig ahnungslos gesprochen – auf Lohr machte es einen erschütternden Eindruck. »In der Kirche!« Ihm war, als hörte er aus weiter Ferne Gretchens Worte:
»O neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Noth!«
»Sie werden Rose recht verändert finden,« begann Frau Weyer von Neuem, »selbst Dr. Schnehen forderte einen Luftwechsel, und so entschloß ich mich kurz, hierher überzusiedeln. Für uns Beide – auch Sie leider, bedarf es ja nicht der Auseinandersetzung, was ihre Gesundheit plötzlich so wankend gemacht hat. Rose gehörte allerdings immer zu den Zarten, fühlte sich sonst wohl – heute – – ach Sie werden selbst sehen! Bitte aber, zeigen Sie nicht zu auffällig, wenn ihr Aussehen Sie erschrecken sollte: der Doctor verlangt unbedingte Ruhe.«
»So dürfte auch nichts über den Todten –«
»Nichts!«
»Sie wird mich nach ihm fragen?«
»In meiner Gegenwart nicht!« betonte Frau Weyer verachtungsvoll.
Dunkle Röthe flog über Lohrs Gesicht und ein Etwas wie Scham, oder war es Schmerz, trat in seiner Haltung stark hervor. Es war wohl Beides, ein letztes heißes Aufbäumen, da der Augenblick gekommen, in dem es zu Tage mußte, was er sich nicht freiwillig, nur nach tausend Kämpfen abgerungen hatte; zugleich jedoch das Gefühl einer gewissen Ohnmacht, des Wollens, aber noch nicht über die Lippen Bringens.
Frau Weyer sah ihn mit Theilnahme an. Sie glaubte wohl blos, daß ihn die eben bestätigte Gewißheit peinige, wie sehr Rose noch an dem Todten hänge, darum reichte sie ihm die Hand und sagte gleichsam tröstend: »Entsagung ist einmal das große Losungswort auf Erden! Und an Jeden tritt sie heran: an Den im Kleinen, an Jene in ihrem Herzenswunsch – wie es fällt. Für mich liegt eine Beruhigung darin, daß Niemand ausgenommen worden. Wir Beide, Hellmuth, gehören freilich zu den Aermsten!
Ob wir das verdient haben, uns dereinst wenigstens Rechenschaft gegeben wird, warum es so sein mußte? Ich warte darauf – sonst verzweifle ich! Denn jetzt weiß ich nur davon, daß mir schweres Unrecht angethan, o, ein Leid, nicht auszusprechen!«
Ueber ihre Maßlosigkeit erschreckend! zog sie die Hand, welche zitterte, zurück: der Moment hatte sie überwältigt.
Während sie aber noch überlegte, wie sie ihre Aufregung erklären könne, sagte Lohr, der seine Ruhe nun wiedergewonnen hatte: »Ich kenne Ihr Leid und will versuchen, es Ihnen tragen zu helfen – Ihnen und Rose!«
»Mein Leid wollten Sie kennen?« Ein schrilles Lachen folgte dem Ausruf: so ähnlich dem, mit welchem Einer gestorben war, der an diesem Lachen nicht schuldlos war.
»Werneck hat mich zum Vertrauten gemacht,« fuhr Lohr zu Boden blickend fort.
»Und – Alles hätte er Ihnen vertraut?«
»Alles!«
»Auch Das noch!« schrie Frau Weyer auf. »War ihm noch nicht genug des Jammers, den er über uns gebracht! Ich kannte ihn! besser als Ihr Alle. Da er fühlte, daß ihn mein Fluch erreicht hatte –«
»Frau Weyer!«
»O das nehmen Sie mir nicht!« rief sie außer sich. »Der Herr hat sie gehört, meine Gebete – und die waren alle das Eine: Leben um Leben! Dachte ich auch nicht an Tod, so doch an Elend, Verderben – wie sie verdorben.«
»Und Sie meinen ihn besser gekannt zu haben!« entgegnete Lohr dumpf. »Wenn ich Sie verstehe, erscheint Ihnen sein Vertrauen mir gegenüber –«
»Als seine letzte Rache!« fiel sie heftig ein, »nicht anders.«
Lohr schüttelte den Kopf. »Wollen Sie mich – –«
»Wenn Sie ihn nicht vertheidigen!« unterbrach sie wieder, »ich kann das nicht hören, nicht von Rose, nicht von Ihnen. Sie sehen es, schon der Gedanke an ihn nimmt mir jede Fassung, und das wird nicht mehr anders.«
»Von ihm – von uns muß ich demnach sprechen! Sie irren: nicht Rache trieb ihn zu seinem Vertrauen, allein die Hoffnung, der heiße Wunsch, noch so viel retten zu können, als er oder vielmehr ich es vermöchte. Mit einem Wort: ich bin nur gekommen, um – – Rose zu meiner Gattin zu machen, dann kehre ich ins Feld zurück.«
In einer Art von Erstarrung sah ihn Frau Weyer an. Lohr begegnete ihren Blicken ruhig und nickte nur einmal, weil es ihm vorkam, als habe sie den Sinn seiner Worte nicht begriffen. Plötzlich schien sie jedoch Alles zu begreifen, trotzdem sie in halbem Schluchzen immer wieder rief: »Es ist ja unmöglich! unmöglich.«
»Das habe ich auch einmal gedacht!« erwiderte er endlich leise. »Aber wir Alle hielten wohl schon Etwas für unmöglich, bei dem wir nach einer Weile zufrieden waren, daß uns nicht Schwereres zugemuthet worden. Ich habe seit seinem Tode viel Zeit gehabt, es mir zurecht zu legen: und ist Rose, wären Sie mit dem einverstanden, was ich vorschlagen kann – es ist das, wozu ich mich als ehrlicher Mann verpflichten darf, so wollen wir nicht zögern. Ich bin in mir einig, wäre sie es nur auch erst!«
Frau Weyer hatte ihre Beherrschung wiedergefunden; der Blick in gleichsam neues Licht, der sich vor ihr aufgethan – so unerwartet, so niemals mehr erhofft, nahm sie völlig gefangen. Für den Augenblick wenigstens vermochte sie nun nichts Anderes zu denken: ihr konnte Großes werden und das mußte sie erringen – um jeden Preis. So antwortete sie in ganz verändertem, nach ihrem früheren beinahe freudig klingendem Tone: »Sie, liebster Hellmuth, bringen doch das Opfer, nicht Rose! Und ein Opfer, das ich bis in seine Tiefen nachfühle: seien Sie versichert, Rose wird nicht anders fühlen. Es soll mein Dank sein, sie davon zu überzeugen – wenn es dessen erst bedürfte – daß ihre Lebensaufgabe fortan nur noch darin besteht, Ihr und immer nur Ihr Glück zu wollen!«
»O nein!« rief Lohr, »das wünschte ich gar nicht, dürfte es nicht einmal fordern. Denn was ich geben kann, ist im Verhältniß doch blos Geringes: meinen Stamm, meine Ehre. Im Uebrigen müßten wir als dieselben Freunde wie bisher durchs Leben gehen – oder trennten uns auch wieder, nach ihrem Gefallen.«
Ein Zug von Enttäuschung war über das Gesicht Frau Weyers geglitten, dennoch sagte sie mit derselben Freundlichkeit: »Sie haben Recht! im ersten Moment überlegt man nicht Alles. Wozu auch jetzt schon an das Nachher denken? An dem Einen und Ersten ist ja doch kein Zweifel – ich habe Sie richtig verstanden? Sie wollen ihr die Ehre wiedergeben?
Lohr nickte.
»Ist es auch nur vor der Welt,« fuhr sie aufathmend fort, »mir geben Sie damit das Leben wieder. Was ich seit Weihnachten ertragen – nur mein Gott weiß es! Und welche Gedanken ich über die Zukunft gehabt, welche schrecklichen Gedanken – mir graut nun davor. Gott hat das nicht zulassen können, so rührte er an Ihr Herz: Ihm Dank, doch nicht weniger Ihnen! Und Alles soll geschehen, wie Sie es überlegt haben, daran werden wir festhalten – ich verzichte für mich, wie für Rose auf jeden eigenen Wunsch. Was hätten wir auch zu wünschen, die wir von Ihnen nur empfangen, so gar Nichts mehr zu bieten haben. Das ist ein Gefühl, ich hätte wohl nie geahnt, einmal so bettelarm dastehen zu können. Doch Sie sind es ja – kein Fremder – der Hellmuth, an den ich von jeher wie an einen Sohn gedacht habe. Freilich damals! Da durfte ich es.«
Lohr richtete sich auf und sagte, nach dem Nebenzimmer horchend: »Das ist die alte Spieluhr?«
»Sie erkennen sie noch! Ja, nun steht sie wieder in Roses Zimmer, wie einst in der Kinderstube. Wenn Ihr danach tanztet – und heute? So schlug es übrigens halb Vier, Rose muß kommen. Soll ich sie nicht erst vorbereiten? wenigstens auf Ihre Ankunft und den Grund derselben. Sie bemüht sich wohl, gefaßt zu sein, jedes allzu Plötzliche sollen wir aber meiden?«
»Gewiß!« fiel Lohr zustimmend ein. »Sie nehmen mir damit sogar Schweres ab. Nach welcher Kirche geht sie.«
»Drüben nach St. Mauritius.«
»So können wir sie auch kommen sehen?« Er stand auf und trat an eins der Fenster.
»Von hier übersehen Sie die ganze Straße,« erwiderte Frau Weyer, indem sie nach der Glasthür eines kleinen Balcons ging.
Lohr folgte ihr und zeigte schon im Näherkommen nach dem jenseitigen Trottoir. Rose sah in demselben Augenblick herauf, so trat er mehr hinter die Vorhänge zurück.
Von hier oben schien sie ihm unverändert: der alte beschwingte Gang, selbst der Schimmer frischer Röthe und nun auch dasselbe liebliche Neigen des Kopfes, den die Fülle seines blonden Haares zu beugen schien. Kurz noch so ganz »Schneeglöckchen«, wie ihr Neckname in der Kinderzeit gelautet hatte.
Lohr wollte daran erinnern – als er sich umsah, war Frau Weyer verschwunden. Auch drüben das Trottoir war jetzt leer; er lauschte, kein Klingelzug ertönte aber – die Mutter mußte die Kommende gleich in Empfang genommen haben.
Er blieb an der Balconthür stehen; nach einer Weile beschattete er die Augen mit der Hand, als belästige ihn das Licht, doch sah er nur regungslos vor sich nieder. Und so tief versank er in Gedanken, daß er das Aufgehen und Schließen der Zimmerthür nicht beachtete und erst auffuhr, als seine Schulter leise berührt wurde.
Da stand sie, an die er nun schon seit Wochen unablässig gedacht hatte. Ihre gefalteten Hände, die umflorten, matten Augen, selbst ihr schlichtes schwarzes Kleid rührten ihn unbeschreiblich. Er konnte nur immer wieder ihre Hände drücken, zu sprechen vermochte er nicht.
»Lieber – lieber Hellmuth!« sagte Rose endlich.
»So darf ich der also ganz sein?« rief er wie von einem Banne erlöst.
»Davon nachher!« antwortete sie, indem sie mit der Hand über die Stirne strich und ihm nach einem kleinen Ecksopha voranschritt. Nachdem sich Beide niedergelassen, Lohr in einem Sessel ihr gegenüber, fuhr sie in ihrer sanften Weise fort: »Erst haben wir uns doch Alles zu erzählen; Das heißt, Du wohl mir – ich kann nur fragen. Und ich darf fragen, nicht wahr? Hast Du von ihm noch ein Wort für mich?«
Lohr sah an ihr vorüber, da das Gespannte, Angstvolle ihres Blickes ihm weh that, und sagte kopfschüttelnd: »Er hat mir Nichts aufgetragen.« Als er bemerkte, daß sie erblich und die Augen sich mit Thränen füllten, setzte er wie entschuldigend hinzu: »Es blieb wohl nur keine Zeit dafür – der Tod überraschte ihn. Und an Dich gedacht, um Dich allein gesorgt hat er bis zum letzten Augenblick; mit Deinem Namen auf den Lippen ist er gestorben.«
Rose nickte vor sich hin und flüsterte dann beinahe lächelnd, wohl aus tiefen Gedanken heraus: »Rose!« Plötzlich zusammenschauernd sah sie wieder zu Lohr auf und fragte: »Hat er schwer gelitten?«
»Ich glaube nicht.«
»O Gott, Dank!«
»Wie ich Dir sagte, Du beschäftigtest ihn so ganz, daß alles Körperliche zurücktrat.«
»Und in Bapaume ist er begraben worden?«
Lohr bejahte, ergänzte dann aber: »Ich bin nicht dabei gewesen.«
»Ach Hellmuth!«
»Auch ich wurde an demselben Nachmittage verwundet und gleich nach Amiens gebracht.«
»Seine Mutter hat mir Alles vorgelesen, was ihnen vom Regimente zugegangen ist. Das Offizier-Corps wird ihm auch einen Stein setzen?«
»Ja das soll geschehen!« bestätigte Lohr, »ich hörte davon sprechen – damit unsere Gräber dort erhalten blieben. – Suchten Euch Wernecks auf?«
»Nein! wir fuhren hinaus, um Abschied zu nehmen.«
»Und Du bist auch verwundet worden?« fuhr sie bedauernd fort.
»Hier am Arm,« zeigte Lohr. »Nichts Besonderes. Eher müßte ich den Zufall einen sogar glücklichen nennen, da er mich jetzt schon hierher geführt hat.«
»Du gehst aber noch einmal zurück?«
»So bald als möglich. Wenn Du mir erlaubt haben wirst – –«
»Erinnerst Du Dich noch,« unterbrach sie ihn, »wie unsere alte Gertrud in ihrer wunderlichen Weise von mir zu sagen pflegte: Sie tanzt bis ans Grab. Die Alte meinte das wohl anders und doch mußte es ganz so eintreffen – bis an ein Grab!«
»Du erregst Dich; wir –«
»Wolltest Du mich nicht anhören? Siehst Du, zu meiner Mutter –« ihre Stimme wurde fast tonlos – »darf ich darüber nicht sprechen! Nicht um was ich bete, was ich noch denke – selbst meine Thränen kränken sie schon.«
»Die Zeit ist noch zu kurz, als daß Du still geworden sein könntest, aber – –«
»Und Du glaubst, ich könnte das jemals werden?« fiel sie von Neuem ein.
»Ich hoffe es!«
»Nie – o nie!« rief sie ungestüm. »Einen Todten, der mit dem Glauben an meine Liebe gestorben, sollte ich täuschen können? Weißt Du denn gewiß, daß es da unten nicht sein einziger Besitz geblieben, der ihn noch an der Erde hält und ihm das Warten leicht macht – bis ich komme. Ob Du das auch nicht glaubst, ich glaube es! Und darum, Hellmuth wenn die Mutter selbst zürnen sollte, ich kann Dir für Deinen großmüthigen Antrag nur danken, o recht aus der Seele; ihn anzunehmen – wie wäre das möglich!«
Tief betroffen sah Lohr sie an. Diese einfache und scheinbar doch natürliche Abweisung machte – in einem Athemzuge gleichsam – Alles, was er sich an Zugeständnissen so mühsam durch Wochen abgerungen hatte, gegenstandlos und ihn, wenn er noch darauf bestehen wollte, zu einem Bittenden statt Gewährenden. War es aber denkbar? Sie hatte nicht überlegt, ahnte wohl gar nicht, was ihr dann bevorstände. So entgegnete er: »Du erklärst eine Annahme für unmöglich? Doch – so schwer es mir fällt, das zu berühren, hast Du auch an die Zukunft gedacht?«
»Um dieser Zukunft willen ist sie ja unmöglich!« antwortete sie zu Boden blickend. »Ich verstehe jetzt Dich nicht, wie vorher die Mutter nicht. Was zu tragen kommen wird, muß ich doch tragen. Nur Einer hätte mir helfen können, den nahm Gott zu sich; so will Er also, daß ich allein büße – bis Er mich ruft.«
»Nein, Rose! Du hast Nichts zu büßen –«
»Lästere nicht!«
»Auch das hat mir Hans gesagt. Du seist nur –«
»O schweige davon.«
»Aber Eins mußt Du noch wissen – ich vergaß es wohl der Mutter zu sagen, daß es Hans so wollte, ich ihm mein Wort gegeben habe, Dich zu meinem Weibe zu machen. Du irrst also, Gott will Dich nicht allein lassen: er hat erst zu Deinem Todten, dann zu mir gesprochen – nun folge ihm auch.«
Rose faltete die Hände und sagte: »Ich war ja ein schwaches Ding, Hans wußte das nicht anders, so dachte er für mich zu sorgen. Ich muß mir aber schon selbst helfen. Auch ich bin viel fester geworden, fürchte Nichts mehr für mich – das Bitterste liegt hinter mir.«
»Der Schmerz um unsern Todten ist nicht das Bitterste, das wir tragen können –«
»Für mich ja! Und tausendmal ja!«
»Höre auf mich –«
»Ich darf nicht,« klagte sie aufstehend. »Da ist Etwas, das ich nicht fasse, von dem ich aber weiß – es geht nicht. Und wolltet Ihr mich zwingen, nicht gut würde es – seid gütig! – Ich quäle Dich, Hellmuth; Du hast mich aber geängstigt.«
»Es liegt wohl nur an dem Ueberraschenden,« versetzte Lohr, ihre Hand, welche sie ihm gereicht hatte, innig drückend. »Ich lasse Dich denn allein: Du wirst das Rechte noch finden. – Grüße die Mutter; ich komme morgen Vormittag – jetzt möchte ich sie nicht mehr sprechen. Und sei auch Du gütig. Ich werde nur an Dich denken.«
Es war nur ein verhältnißmäßig schwacher Ton gewesen, mit welchem die Thür ins Schloß gefallen, dennoch hatte ihn ein aufmerksames Ohr im Hause gehört. Frau Weyer trat gleich darauf in den Flur, sah Lohr aber bereits auf der Treppe.
Mit gespanntem, beinahe unwilligem Ausdruck ihrer sprechenden Züge ging sie nach dem Wohnzimmer; auch dieses war leer und die Thür zu der Tochter Zimmer geschlossen. Ohne zu klopfen, öffnete sie dieselbe und fand Rose mit einem Portrait in der Hand, welches diese nun still in ein Buch zurücklegte, das aufgeschlagen vor ihr lag. Trotzdem das Buch augenscheinlich ein Gebetbuch war, machte Frau Weyer eine sehr verächtliche Bewegung nach demselben und sagte mit vibrirender Stimme: »Du nimmst wohl Abschied?«
Rose sah bittend auf, gab aber keine Antwort; so fragte die Mutter von Neuem: »Warum ist Hellmuth so eilig gegangen. Es gäbe jetzt doch Vielerlei zu besprechen.«
»Ich sollte Dir einen Gruß bestellen,« erwiderte Rose nun; »morgen Vormittag wird er noch zu Dir kommen.«
»Noch zu mir kommen? Will er schon wieder fort?«
»Ich denke.«
»Was bedeutet das?«
Rose wollte sich der Mutter nähern, diese trat jedoch zurück und sagte kalt: »Nur jetzt keine Zärtlichkeiten. Vor Allem muß ich wissen, was zwischen Euch vorgefallen ist. Daß er so fortgehen konnte, befremdet mich geradezu. – So sprich! Ich bereute schon vorher, daß ich Dir nachgegeben habe und Euch allein ließ.«
»Zwischen uns ist Nichts vorgefallen,« antwortete Rose, indem sie sich zitternd an den Sophatisch lehnte, »nur für seinen Antrag – habe ich ihm gedankt.«
»Wie ist das zu verstehen?« entgegnete Frau Weyer erblassend.
»Ich könnte ihm doch nicht angehören.«
»Trotz Deiner achtzehn Jahre habe ich Dich immer noch für kindisch gehalten, dies aber ist heller Unverstand!« brach die Mutter nun los, während sie sich wie erschöpft auf einen Stuhl fallen ließ. Aufschluchzend kniete Rose neben ihr nieder und versuchte ihre Hand zu ergreifen, doch entzog sie ihr dieselbe heftig und rief: »Steh' auf, ich mag dergleichen nicht. – Und am wenigsten von einem Kinde, das so arm an wirklichem, rechtem Gefühl ist, daß es – statt diese Rettung wie eine Gnade des Himmels anzusehen und sie schon als solche demüthig hinzunehmen – noch zögern kann. Ich sage blos zögern, weil ich darauf bestehe, bestehen muß, daß Du ihn heirathest und lieber heute als morgen.«
Rose war noch in ihrer Stellung beharrt, hatte nur zuletzt wie abwehrend die Hände gehoben; nun stand sie mühsam auf und schleppte sich nach dem nächsten Stuhl.
»Wie nahm Hellmuth denn diese Erklärung auf?« fragte die Mutter.
Obgleich Rose schwieg, bemühte sie sich doch unverkennbar, ihre Gedanken zu sammeln.
War es darum ein gewisses Mitleid, oder glaubte Frau Weyer so leichter ihr Ziel zu erreichen – nach einer kleinen Pause begann sie in größerer Ruhe und selbst mit einer Art von Milde: »Regen wir uns aber nicht unnöthigerweise auf! Wir sind Beide angegriffen genug. – Du weißt, wie für mich nur alles Vernünftige Geltung hat; so wollen wir uns auch in diesem Fall das Ganze erst klar legen, die Consequenzen, hoffe ich, werden sich dann von selbst ergeben. – Du glaubst einmal, Hellmuth nicht lieben zu können –«
»Handelt es sich jetzt denn –«
»Laß mich nun sprechen! – Hast Du, könntest Du aber noch die Hoffnung hegen, Dich jemals anderweitig zu verheirathen? Ich meine an einen Ehrenmann, nicht an irgend welchen – Leichtsinn, will ich nur sagen, der Dich Deines Vermögens wegen gleichsam mit in den Kauf nähme, wobei man jedoch von vornherein wüßte, welcher Ausgang über kurz oder lang bevorstände!«
Rose beugte ihren Kopf noch tiefer und sagte leise: »Wie sollte ich noch an eine Heirath denken, da ich ja nie mehr zu heirathen vermöchte.«
Die Mutter zuckte die Achseln und fuhr wieder erregter fort: »Eine Zukunft giebt es für Dich also nicht; in nicht weiter Ferne nur zu allem noch die Schande. Wenn sich nun trotzdem ein Mann, und wie Du selbst im Uebrigen zugeben mußt, denn Du kennst ihn gleichfalls seit zehn Jahren – ein Mann, jeder Ehre werth, freiwillig anbietet –«
»Nicht freiwillig!« unterbrach Rose. »Hans hat auf seinem Sterbebette ihn dazu vermocht. Nur dem Sterbenden konnte er bei seiner Herzensgüte die letzte Bitte nicht versagen.«
»Das mag der Grund sein,« gab Frau Weyer zu, »handelt er darum jetzt aber weniger aus freiem Willen? Vermöchte ihm Jemand auf Erden zu verdenken, wenn er ein so gegebenes Versprechen nicht hielte, es einfach wie eine letzte Arzenei betrachtet hätte? Nicht einmal wir, die daran so schmerzlich betheiligt wären, könnten ihn deshalb geringer achten. – Wie hoch steht er nun da; ich glaubte – bloße Liebe hätte ihn dazu getrieben. Jetzt begreife ich erst: darum sprach er so gelassen von etwaiger Trennung. Es war ja auch nicht anders möglich, allein aus schwerstem Kampfe konnte ein solches Entsagen hervorgehen. Und diesem Mann hast Du gewagt, abzulehnen, was er sich gewiß nur mühselig abgerungen? Könnte das wirklich blos mir – neben dem Uebrigen auch wie schwärzester Undank erscheinen? Du fühltest davon nichts?«
Rose schüttelte den Kopf. »Was Jemand schwer wird, oder was er sich gar hat abringen müssen, wie Du sagst – das darf ich mir doch nicht aneignen.«
»Wenn es Dir geboten wird?« brauste die Mutter auf. »Alles Vorher und Nachher ist des Andern Sache! Dir ist es zum Heil – und wir sollen auch klug sein, will der Herr, das heißt selbstsüchtig. Wohin kämen wir, wollte man immer erst fragen, ob auch nirgends sonstige Interessen gekreuzt würden? Und hier ist es ein Glück über alles Denken! – Wären Andere selbst dawider, über sie fort, wenn wir es vermögen! So geschieht es im großen Ganzen auch überall, nur die Schwächlinge freuen sich ihrer Selbstlosigkeit. – In gewissem Sinne, wenn es Dir um solche Freude durchaus zu thun, fändest Du selbst die dabei. Bilde Dir doch ein, daß Du mir das Opfer bringst, unseren Namen mit seinem reinen zu bedecken; ich will es großmüthig annehmen!«
»Mutter,« flehte Rose, »habe Mitleid, nur jetzt keinen Hohn! Nenn' es nicht Kleines,« fiel Rose angstvoll ein, »wenn mir der Gedanke unfaßbar ist, einem anderen Mann anzugehören. Ich weiß ja, daß Hellmuth wieder geht, daß wir auch später nur wie bisher neben einander leben sollen – wenn ich aber solche sündhafte Ehe auf mich nähme, müßte ich doch auch an ihn denken, um ihn Sorge tragen und das könnte ich ja nicht. All' meine Gedanken gehören dem Todten. Der Zwiespalt dann, diese Reue und ewigen Vorwürfe, und doch nie anders können – würden mich tödten.«
»So mag das geschehen!« rief die Mutter aufspringend, »viel besser, in Ehren zu sterben, als so wie Du jetzt zu leben!«
»Wenn Du das meinst,« sagte Rose, indem sie sich wie entgeistert erhob, »Du hast mir das Leben gegeben, so darfst Du es auch wohl nehmen.«
Frau Weyer ging einmal durch das Zimmer, dann blieb sie dicht vor Rose stehen und erwiderte: »Das sind bloß Worte gewesen; Du wirst weder daran sterben, noch würde ich mit sehenden Augen in Dein Unglück willigen. Aber Du ahnst nun wenigstens schon, daß ich im Rechte bin; vertrete ich doch nicht allein mich, auch Deinen seligen Vater – unsern ehrlichen Namen. Wir Drei haben wohl Anspruch, mehr zu bedeuten als bloße Gefühle. Wie ich schon sagte, wärst Du noch mein reines, glückliches Kind, so würde ich es tragen, wenn Du Dein Leben vertrauern wolltest – jetzt darf ich es nicht. Daß ich aber so weit für Dich sorgen will, als ich es vermag, Dir jede Erleichterung schaffen werde und Hellmuth nicht weniger – das glaubst Du?«
»Ja!«
»Rose!« Sie drückte die Tochter stürmisch an sich und küßte sie auf die Stirn.
Zum erstenmal schauerte Rose bei einem Kuß der Mutter zusammen. – Kaum drei Wochen später war sie jedoch die Gattin Lohrs.
Köln, den 24. Februar 1871.
Mein theurer Freund!
Es drängt mich so herzlich, Dir für all' die Rücksicht zu danken, welche Du mir in diesen Wochen bewiesen hast, daß ich Deinen Brief nicht erst abwarten will. Für Alles und Jedes, was ich gar wohl verstanden habe: Deine Rückkehr von Trier in letzter Stunde, die Trauung im Hause, was Du mir sonst nachgegeben, selbst bis zu den bloßen Zweigen Orangenblüthe, für Alles sei noch tausend-, tausendmal bedankt! Ich werde es tief im Herzen bewahren.
Hoffentlich bist Du gut angekommen und hast auch, wie die Andern, für die Waffenstillstandszeit ein freundliches Quartier gefunden? Bitte, schreibe uns oft und ausführlich! Die Mutter freut sich darauf, nun ebenfalls Briefe aus dem Felde erwarten zu dürfen, und ich möchte ihr doch stets etwas vorlesen können. Denn von dem, was ich Dir gleich sagen werde, da will ich ihr nichts sagen; es würde sie nur erregen und die gegenwärtige Stille ist so, so lieb, daß ich sie nicht noch einmal hingeben könnte. Es war eine zu traurige Zeit! Und von der hast Du mich erlöst, Hellmuth! In Gerolstein war ich schon immer Deine kleine Frau, heute bin ich es wirklich – vor der Welt wenigstens. Darin liegt das, was mich quält, was mir noch keine Ruhe vergönnt und was ich zu Dir aussprechen muß. Hilf mir darüber, wenn Du es kannst; ich darf es ja nicht einmal in der Beichte sagen um unserer, um Deiner Ehre willen!
Haben wir nicht eine schwere Sünde begangen, eine Ehe – also ein Sacrament einzugehen, während wir im Herzen doch von Anfang an wußten, daß es für uns nur Schein, ein Nichts sein könnte? Darf Gott so mit seinem Heiligsten spielen lassen, muß er uns nicht strafen? Und nicht mich allein, was läge noch an mir! Aber auch Dich, trotz Deiner Güte, trotz der Fürbitten, welche die lieben Heiligen für Dich fänden. Ich wage kaum noch zu beten – immer ist es mir, als dürfte ich es nun nicht mehr, und bis dahin habe ich es doch gekonnt. In all' meiner Noth waren unsere Fürbitter um mich; wie in der Kinderzeit, wenn ich was Unrechtes begangen hatte – nicht viel anders war mir zu Muth. Jetzt aber, von dem Mittwoch an, seit ich das Ja über die Lippen gebracht, bin ich gleichsam in mir verstört; sei darum noch weiter gut zu mir, schreibe, was Du fühlst, und belehre mich. Du hast mich früher so oft belehrt und weißt Du noch, gerade wie Du Alles sagen konntest, so faßte ich es immer am leichtesten. O dürfte ich es jetzt wieder! Aber auch Du wirst darüber nichts Besseres wissen, als es mit den anderen Sünden zu tragen! Doch erträgt sich denn eine Todsünde? Und die war es, ich finde nichts Milderes. Der Meineid ist eine Todsünde. Mag es auch eine kleine Entschuldigung gewesen sein, daß die eigene Mutter so gegen mich gewesen ist – ich hätte nicht schwach sein sollen; über allem Irdischen steht das Himmlische. Wenn ich darum von ihm getrennt wäre – für alle Ewigkeit!
O vergieb, daß ich Dir Alles schreibe, wie es mir in's Herz kommt; doch ich habe ja Niemand, dem ich davon sagen darf. Freilich zeigt mich jedes aufrichtige Wort so undankbar, das bin ich aber nicht. Ich blicke zu Dir auf als zu meinem besten Freunde, dem ich Alles vertrauen kann und muß. In diesem Müssen liegt für mich sogar Trost; als wäre es ein wenig von der Einlösung meines Gelübdes am Altare. Doch ein Stücklein Ehe, nicht bloßer Meineid.
Ich will nicht mehr durchlesen, was ich geschrieben habe, sonst schickte ich es wohl nicht ab; Du hast mich ja immer verstanden und wirst darum auch jetzt die Stelle finden, welche so quält. Wenn Du kannst, lieber, lieber Hellmuth, hilf
Deiner
Rose.
Vendelles, den 24. Februar 1871.
Wie seltsam wehmüthig wurde mir, liebste Rose, als Eure Gestalten in der Rauchwolke des Zuges für immer verschwanden. Erst da war ich wieder allein – und sogleich bestürmten mich die sorgenden Gedanken um Dich! Versuche nur erst ruhig und gefaßt zu werden, das Uebrige stelle der Zeit anheim.
Vor Allem danke der Mutter nochmals für ihre Güte, mich ein Stück Weges begleitet zu haben; der friedliche, ich möchte sagen, glückliche Tag in Coblenz wird mir unvergeßlich bleiben, war er doch zugleich die letzte und theuerste Gabe der Heimath. Halb verschneit zwar die Anlagen, dunkel, so träumerisch die Castor-Kirche – nicht ein einziger Sonnenblick, nur Nebel und leises Frösteln in der Natur, dennoch wurde mir wohl; Dein Arm ruhte so still auf dem meinigen, und in Deinen Augen schien nicht mehr bloßes Weh zu liegen – auch ein Schimmer von Interesse an Dem oder Jenem. Wüchse, dürfte das wachsen; nichts Lautes, keine volle Freude begehrte ich ja, mit der Zeit aber auch eine Art von Genügen, von leichterem Tragen, daß dieses entsetzlich stumme Aufreiben von Dir ließe. Auch Du sprachst einmal von Dank; der beste, einzige, auf welchen ich hoffen möchte, wäre ein solches endlich wieder an Dich selbst und damit auch an mich Denken.
Deiner Mutter mußte ich noch zuletzt versprechen, irgend welche kleinen Erlebnisse, überhaupt mein Thun und Treiben in den Briefen an Dich zu schildern. Du eigentlich ganz Böse, welche Du gar kein Verlangen danach zu haben schienest, hast nun, wie zur Strafe, Alles mitzulesen. Ich will im Strafen aber so gelind als möglich sein; fürchte Dich nicht, allzu lang vermag ich so wie so nichts auszudehnen, das ist einmal gegen meine Natur. Ob sie bei einem großen Schmerz sich ähnlich geartet zeigen würde – noch weiß ich es nicht. Und doch wäre es das Natürliche, weil ja auch die ganze Natur in ewigem Vergehen und Auferstehen.
An wieder Neues und so jugendlich Frisches mahnt es hier nun schon überall. Sobald ich la belle France betreten hatte, waren die Winde milder, Wolken und Nebelzüge duftiger – in allen Fernen webte die Sonne bereits geheimnißvollen Goldglanz oder fluthete ihn bis an uns heran über erstes Grün und enteiste Wasser. In dem eingehegten Gärtchen, das mein letztes Quartier umschloß, blühten die Haselnußsträucher und Seidelbast.
Wie bis ins Herz hinein dringt uns gerade in diesem Jahre das alte neue Werden! Als hätten wir noch nie recht gewußt, was Frühling wäre – so süß und herrlich erscheint das Gefühl neu geschenkten Daseins bei dem gleichzeitigen Erwachen der Natur. Sind wir doch gleichsam nicht mehr in Feindesland, nun es ringsum von Frieden flüstert und schon laut hinausjauchzt. Und Alle fühlen wir darin gleich! Nicht bloß uns Landwehrleute, auch die Kameraden von Beruf umschmeichelt, wie die linden Lüfte, das Bewußtsein, viel errungen zu haben und nun wohl ausruhen zu dürfen. Jeder hat etwas Offenes, ist gesprächiger als sonst – ja findet für Alles ein Lächeln. Selbst unsere Leute haben es kaum jemals so gut gehabt als jetzt; in jeder denkbaren Weise wird für sie gesorgt, sogar Cigarren stehen dann und wann auf ihrem Etat. Dabei wurde noch nie so gleichmüthig über einen offenen Uniformsknopf oder verdächtig gespreizte Nähte hinweggesehen. Bedeutenderes läßt sich aber Keiner von ihnen zu Schulden kommen; bald nur vergnügt vor sich hinpfeifend, bald lebhaft plaudernd, sitzen sie auf allen Höfen oder an den Fenstern der Stuben und putzen an ihren Sachen herum, als stände bereits die Kaiserparade bevor. Auch in ihnen ist eben Sonnenschein und Heimathträumen; kein Wunder also, daß sie eifrig bemüht sind, ihren äußeren, so lange vernachlässigten Menschen damit in Einklang zu bringen.
Gleich bei meiner Ankunft nach wirklich rascher und angenehmer Reise (meine Karte aus Ham hast Du doch erhalten?) wurde ich durch Zweierlei freudig überrascht. Unser liebenswürdiger Major, der nebenbei gesagt, so unablässig für sein Bataillon sorgt, daß man allgemein nur die dankbarsten Gefühle für ihn hegt – knüpfte mir schon bei der Begrüßung das so ersehnte eiserne Kreuz (für jenes Ausfallsgefecht an der Hallue) ein, und übergab mir zugleich für unsern verwundeten Hauptmann die Compagnie.
Als ich damals im October mit Hans zum Regimente kam, und dieses ehrwürdige, von meiner frühsten Jugend her schon beim Vater nur scheu angestaunte Kreuz so beinahe jedes Kameraden Brust schmückte – welch' heißes Bedauern empfanden wir, daß es für uns unerreichbar bleiben würde! Dachte doch Jeder, mit der Uebergabe von Metz und Straßburg müßte der Krieg enden. Und nun wäre es Hans sicher geworden und ich besitze es; will es für ihn mit tragen! Bei der Uebergabe des Kreuzes warst Du übrigens gleichfalls dabei; ich hatte natürlich mein bestes Kleid dazu angethan (das ich auch am fünfzehnten trug!) und damit Du mir nirgend fehltest, Dein Bild in die Brusttasche gesteckt. So zitterten die schwarzweißen Band-Enden über Deine Augen hin.
Wie stolz und schön war der Moment! Von dem hast Du aber wohl nichts geahnt? Daß man nur Unheil ahnen darf, nicht das Glück! Es ist schon ein seltsam eingeschränktes Etwas – dieses arme, liebe Menschsein!
Durch die Führung der Compagnie darf ich über die Pferde des Hauptmanns disponiren, was ich jetzt, nachdem ich mich ein wenig in den neuen Dienst eingelebt habe, mit Vergnügen in täglich stundenlangen Ritten ausnütze: außerdem bekomme ich auch bessere Quartiere als sonst.
Mein erstes diesmaliges Quartier in dem stillen Pfarrhaus von Hombleux war so lieb (wie Du sagst) als nur möglich. Schon das eigenthümlich gebaute Haus mit den weit vorspringenden Flügeln und dem Rasenrondel davor, in dessen Mitte die Statue St. Petri auf weißem Holz-Postamente steht, hatte etwas Trauliches. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, da eine hohe, in Epheu verborgene Mauer das ganze Gehöft von der Dorfstraße abschließt.
Ueber die Mauer ragt nur die Kirche mit ihrem verschnörkelten Thurm auf, dessen Glockenspiel jede verflossene Stunde mit einer scheinbaren Melodie feiert, welche ich allerdings niemals ergründet habe.
Aber die beiden Menschen darin! Der sanfte, so genügsame und pflichttreue Curé in der stets ältlichen Soutane, den abgescheuerten Kniehosen und schwarzen Strümpfen, die Calotte auf dem ergrauenden Haupt oder den Chapeau in der Hand, wenn er von seinen häufigen Krankenbesuchen heimkehrte; und sie, meine ganze Liebe, die prächtige, energische Augustine Françoise Narziß. Wie sie die Burschen (Einer sprach leidlich Französisch) gleich völlig in der Hand hatte, sie zu dem, zu Jenem geradezu commandirte, sehr tadeln konnte, wenn ihr das gelieferte Fleisch nicht fett genug war, oder das Stück ein anderes, als sie zu einem bestimmten Zweck gebrauchte. Dafür waren ihre Suppen, wie Braten und Fricassées aber auch vortrefflich, und sie drückte mir ganz im Geheimen den Wunsch aus, daß es recht lange so bleiben möchte. Gönnte sie doch vor Allem ihrem Curé den seltenen, jetzt so reichlichen Fleischgenuß.
Augustine hatte auch einen Ehrentag. Da ich ja dem Obersten meine Verheirathung angezeigt, so war dieselbe einzelnen Kameraden des Bataillons ebenfalls bekannt geworden. Diese neckten mich nun fortdauernd damit, noch ihren nachträglichen Hochzeitsschmaus zu erwarten. So wenig das Herz gerade dazu gestimmt war, besonders in dem Gedanken an – Dich die Kameraden konnten eben blos an eine vergangene glückliche Hochzeit, wie sie wohl sonst sind, denken, forderten darum scheinbar nur ihren berechtigten Antheil an diesem Glück! – ich sprach also mit Augustine, und in deren gutem, alten Gesicht ging es sofort wie ein Strahlen auf. Dann dürfte sie am Ende auch einen Plumpudding machen, fragte sie gleichsam zagend, den hätte sie vor zehn Jahren, als der Herr Erzbischof von Amiens dagewesen wäre, zum letztenmal gemacht und möchte ihn zu gern nur noch einmal im Leben machen.
War die Erfüllung eines solchen Lebenswunsches nicht allein werth, das eigene Weh-Empfinden zu unterdrücken? Ich wußte, daß meine Rose zuerst dafür stimmen würde.
So fuhr Augustine denn Seite an Seite mit Fischéer, – so sprach sie den Namen meines Burschen – und zu ihrem Stolz in einem der besten Wägelchen des Ortes, das sie sonst nur von Ferne anstaunte, behufs nöthiger Einkäufe nach Ham. Mit wahrhaftem Jubel kehrte sie Abends zurück, da sie richtig so viele Brioches bekommen hatte, als sie zu dem Pudding gebrauchte, der nun, wie sie mir eifrigst auseinandersetzte, noch besser als der damalige werden müßte, weil zerriebene Brioches viel feiner wären als einfaches Mehl.
Und die Sonne wagte es wirklich, am nächsten Tage nicht besonders feierlicher als gewöhnlich aufzugehen! Seit sie jedoch aufgegangen, rumorte es in Küche und Zimmern; noch eine Maid schien eigens angenommen, um von all den Heiligenbildern und den achtzig kleinen Photographien, die rings um den Kamin des Wohnzimmers hängen, den Staub zu wischen, und mit den sonst im Hause vertheilten Blumen und Blattpflanzen für heute den Festraum zu schmücken. Gegen Sechs, zur Diner-Stunde, blitzte und blänkte aber auch das ganze Haus und Augustine vor Allen in ihrer schneeigen Flügelhaube, dem knappen Mieder zu dem schwarzen Faltenrock und den zierlichen Hackenschuhen erschien wie das Urbild der französischen Pfarrersköchin.
Pünktlich waren unsere Gäste zur Stelle. Die Gänge kamen und verschwanden, meine Burschen waren unermüdlich im Herumreichen wie Einschänken und Wechseln der Teller und Gläser. Da öffnete sich plötzlich die Thür und Augustine selbst, den mächtigen, über und über flammenden Plumpudding in Händen, trat ins Zimmer. Von ihren Augen sah man beinahe Nichts, so lachte das ganze Gesicht; und mit welchem Triumph sie dann persönlich ihr Kunstwerk herumreichte und halb verschämt halb glückselig all' die Schmeicheleien und Lobsprüche in Empfang nahm. Den zweitschönsten Tag ihres Lebens hat sie dem Curé gegenüber diesen Tag genannt. Welcher der schönste gewesen – hatte sie trotz seiner Frage verschwiegen; nur daß sie dabei wehmüthiger als sonst gelächelt, wollte er bemerkt haben.
Als es zwischen uns zum Scheiden kam, waren der Curé wie Augustine viel zu gute Patrioten, um dem Feinde des Vaterlandes eine Thräne zu zeigen – solch' ein wehmüthiges Lächeln, das ja beinahe noch rührender, fanden wir jedoch Alle; und ganz zuletzt, als die Compagnie bereits im Marschiren war und ich mit letztem Gruße nachsprengen wollte, streckten sich unwillkürlich noch einmal zwei ehrliche Hände zu mir herauf.
Ob es uns oft so werden kann? Hier in Vendelles ist es jedenfalls anders.
Doch ich habe heute schon zu viel geplaudert? nun ich verspreche – das nächste Mal weniger!
In herzlich innigem Grüßen der Mutter
Dein
Hellmuth.
Vendelles, den 1. März 1871.
Meine theure Rose!
Nur ein paar Tage weiter, und wie verändert ist Leben und Stimmung! Damit Du auch in solche Stunden blickst, nicht allein in jene, wo mir es äußerlich wohl ergeht, laß Dir schon einen Stimmungsseufzer gefallen. Niemand weiß nun mehr, ob es Friede wird, sich bloß der Waffenstillstand verlängert oder gar der Krieg nochmals beginnt. Abends packt man, geht voll Unruhe schlafen, da man jeden Augenblick Marschordre erwartet – am Morgen wirft man Alles wieder aus dem Koffer und sieht mißvergnügt Stunde an Stunde hinschleichen. Ach so langsam! Es ist, als sähen sie sich immer von Neuem in schläfriger Gleichgiltigkeit um und gähnten uns ordentlich in die heißen Augen. Was fragt man diese Stunden den Tag über? Und stets dasselbe Stillschweigen.
Dabei liege ich schlecht in einem großen, ewig kalten, ewig rauchenden Zimmer; meine Wirthin thut natürlich, was ich wünsche – jedoch bloß aus Furcht. Sie hat ein widerwärtiges schnarrendes Organ und ist bitter geizig (ihr alter Vater wird aus dem Napf und beim Gesinde in der Küche gefüttert). Noch ein solches, nur bedeutend reicheres Haus gab es im Dorfe; meine geduldigen Leute hatten sich bereits, ohne zu klagen, zweimal mit trockenem Brot und einem Trunke Cidre als ganzen Morgen-Imbiß beholfen – da hörte ich beim Revidiren davon. Um ein Exempel zu statuiren, befahl ich sofort zwei Rinder auf dieser Ferme zu requiriren und legte Monsieur et Madame als Buße auf, für ihre fünfzehn Mann Einquartierung ein Diner mit Hühnern und zehn Flaschen Rothwein zu serviren. Das half wunderbar. Die Leute liegen dort nun vortrefflich, und jeder Bauer des Dorfes grüßt mich auf zehn Schritte oder kehrt in's Innerste seines Hauses zurück, um scheu aus irgend einer Oeffnung dem Barbaren nachzustarren.
Angenehm ist dergleichen aber niemals – und auch sonstigen Aerger oder Sorge giebt es mit dreihundert Menschen beinahe unaufhörlich; kurz einfacher Frontoffizier zu sein, erscheint mir heute – ich will jedoch statt solcher Erörterungen der Mutter lieber noch einen ganz interessanten Tag aus Hombleux schildern. Ist mir sehr grau in grau zu Muth, so flüchten meine Gedanken gern dorthin.
Am Vormittag nach meinem Feste nämlich ritt ich nochmals nach Ham, um mir dessen uralte Citadelle anzusehen. Es liegt ja einmal für uns kurzlebiges Geschlecht ein eigener Zauber darin, Stätten zu betreten, die so viele Jahrhunderte vor uns da waren; hier kam noch der eigenthümliche Reiz hinzu, daß gerade dieses Schloß bereits seit dem zehnten Jahrhundert Staatsgefängniß ist, seit hier König Karl der Einfältige in Gefangenschaft gesessen haben soll. Noch heute droht uns förmlich das große Steinviereck mit seinen mächtigen vier Thürmen entgegen, welches Träger aller berühmten Namen Frankreichs von den Bourbonen, Montmorency, Choiseul, Polignac bis Louis Napoleon, oft Jahre lang in seinen Mauern eingeschlossen hielt. Einem memento mori gleich ragt die dunkle Masse eines kolossalen Eibenbaumes in einem Gärtchen am Walle auf. Napoleon III. hat unter diesem Baume unzähligmal gesessen und geträumt. So verlassen und traurig, so trostlos einsam es hier besonders im Herbst und Winter sein mag – dennoch, könnte er heute in diese einfachen Zimmer zurück, all' sein damaliges Hoffen noch im Herzen – ob er nicht wiederkehrte? Die Räume, welche er bewohnt hat, sind völlig den Offizierszimmern in unsern alten Casernements gleich (nur daß die stark vergitterten Fenster sie noch freudloser machen); sogar deren ewig blaue Tapeten mit weißen Sternblumen sind hier dieselben. Da sie zum Theil in Stücken niederhängen, habe ich eins abgerissen und lege es mit einem Aestchen von dem Taxus ein.
Doch nicht blos der Vormittag sollte sein Apartes gehabt haben; als ich zurückkam, beredete mich Lieutenant Otto (ein vornehmer, mir lieber Mensch), die Kameraden in Nesle, einem Landstädtchen wie Ham, aber westlich von Hombleux gemeinsam aufzusuchen. Ich war von meinem Ritte nicht ermüdet, so wurde denn nach dem Appell das Wägelchen, welches Augustine neulich benutzt hatte, abermals beordert und der Eigenthümer gönnte uns die Ehre, persönlich unseren Kutscher zu spielen.
Die rasche Hinfahrt in dem warmen lachenden Sonnenschein, Hügel auf, Hügel nieder, allein Fluren und Wäldchen in Ferne oder Nähe, hatte etwas Anregendes; in bester Laune kamen wir an, die Kameraden empfingen uns mit Jubel, zeigten ihr Städtchen, einzelne Quartiere – bis wir uns schließlich Alle im Honoratiorenzimmer des ersten Gasthofs bei Speise und Trank niederließen und die Stunden in fröhlichem Geplauder hinflogen. Erst gegen Mitternacht durften wir an Aufbruch denken.
Als wir aus dem Orte fuhren, dessen letzte Laterne noch einen letzten melancholischen Lichtstrahl hinter uns herwarf, war eigentlich völlige Dunkelheit um uns, kaum von dem flackernden Licht unserer einzigen Wagenlaterne unterbrochen. Dabei seufzte ein schwerer Frühlingswind daher und trieb einzelne große Regentropfen ins Gesicht. So überkam uns Beide plötzlich ein – da ich Soldat bin, will ich nicht geradezu Unbehagen schreiben, doch etwas verzweifelt Aehnliches. Unser Wägelchen, dessen Verdeck nun in die Höhe geschlagen, war so klein, daß uns der breite Rücken des Kutschers fast ganz deckte, wenigstens jede freie Bewegung hemmte; in der Eile hatte zudem Keiner von uns einen Revolver eingesteckt. Nichts war zur Hand, als unsere hier kaum verwendbaren Säbel. Wir lachten auf, sprachen über irgend welche Möglichkeiten – plauderten dann aber natürlich von dem vergangenen Abend, indem wir unserem Geschicke das Weitere überantworteten.
Auf einmal, wir hatten eben wieder ein Wäldchen passirt, ging unsere Laterne aus, der Kutscher hielt und machte sich umständlich daran, dieselbe anzuzünden. Wir folgten verstummt seinem Treiben – da tauchten aus der Finsterniß, wie aus dem Chausseegraben emporwachsend, drei Gestalten auf. Schon faßten wir die Säbel fester, und ich nahm mir dunkel vor, es unseren treulosen Führer mindestens büßen zu lassen, als einer der Drei scheinbar harmlos sein » bon soir« vorbrachte und um Feuer bat. Der Kutscher, von uns nun mit Argusaugen bewacht, gab dasselbe ruhig, wobei einige Schwefelhölzchen aufbrannten und die Drei in verschiedenem Pathos riefen: »Ah, preußische Offiziere!«
»Ja wohl!« versicherten wir.
»Es wird schlechtes Wetter!« bemerkte Einer nach einer Pause höflich.
Wir gaben auch das zu, und bedauerten gleichzeitig – mit Hinweis auf die Thonpfeifen, die nicht brennen wollten – daß wir als Nichtraucher keine Cigarren bei uns führten.
Der vorher gesprochen hatte, machte nur noch eine verbindliche Bewegung, dann schieden wir von einander mit »bon voyage« und ähnlichen Segenswünschen.
Einen Moment lang aber, wirst Du mir einräumen, sah die Geschichte sehr verdächtig aus und wäre eine Verabredung getroffen worden – kein Gott hätte uns Leichtsinnige vor »schwerem Fall« bewahrt, wie es im »Freischütz« (allerdings in ganz anderer Bedeutung) heißt. Wozu wäre dann freilich Soldatenglück auf der Welt?
Siehst Du, so wechseln hier Bilder wie Gestalten, Erlebnisse und Stimmungen! Trotz all des Herandringens aber bist Du mir immerwährend nahe, in jedem Augenblick freue ich mich an Unauszusprechendem und hoffe jetzt vor allem auf eine gute Antwort; die mir wenigstens sagen darf, daß es leise besser wird. Ruhe und Stille allein müßten doch schon Besserung gebracht haben. O gewiß – gewiß!
In Liebe
Euer
Hellmuth.
Vraignes, den 2. März 1881.
Auf dem Marsche hierher bekam ich Deinen Brief; ich las ihn, während ich hinter der Compagnie herritt. Auch dieser Tag war so frühlingslicht, so heiter; meine Leute sangen Heimathlieder; Lachen tönte dazwischen und fröhlicher Zuruf: wie rührten da gerade Deine wehen Worte!
Ich achtete heute wenig auf die Abstände der Rotten, oder ob die Compagnie sich stets auf der richtigen Seite der Straße hielt – ich dachte, dachte blos, und glaube Dir nun wirklich helfen zu können, meine arme – doch auch tapfre Rose, wie Du mir versprochen hast! Hätte ich Deine Zeilen nur einen Tag früher erhalten! Nun wirst Du in meinem gestrigen Briefe schon die Antwort wähnen, und er bringt Dir wieder Nichts als Feldzugsbilder und gleichgiltige Berichte. Wie einen Mißton wirst Du das empfinden, doch nein – Du wirst es natürlich fassen. Wir Männer sind ja einmal für das Außenleben bestimmt, haben uns dabei nicht allein nach jeder Seite hin vorzusehen – ewig liegt auch neue Arbeit bereit, und eine, die meistens unser schärfstes Denken und ganz bei der Sache Sein erfordert; darum ist es unmöglich, ein bloßes Gefühlsleben zu führen, oder sich gar von irgend welchem nicht völlig Harmonischen zu Boden drücken zu lassen. Im Felde und dazu noch auf einem für so Viele verantwortlichen Posten ist das aber doppelt und dreifach der Fall.
Außerdem lagen mir Gewissensscrupel der Art gänzlich fern; um mich oder mein Seelenheil darfst Du nicht sorgen! Ich habe mit vollem Bewußtsein dessen, was ich auf mich nähme, den Eid geleistet; für mich war er kein Schein, kein Nichts, wie Du sagst – ich gelobte, ganz Dein Freund fürs Leben zu werden. Was könnte daran Sünde sein?
Im Anfange, bevor Alles recht überlegt war, dachte ich vielleicht nicht so freudig darüber, zögerte selbst bei dem Ungewöhnlichen – ist es jedoch nicht Vielen bestimmt, ihre Wege außerhalb der großen Heerstraße zu gehen? Und müßten diese darum weniger glücklich werden, ja sollte der Thau ihrer Wiesenpfade nicht schließlich frischer erhalten, als die Staubwolke der Heerstraße?
Aber auch Du darfst beten, wie Du immer gebetet hast, keine Todsünde liegt auf Deinem reinen Herzen. Denke nur tiefer! Besteht nicht ein Haupttheil jeder Ehe, sicherlich wenigstens bei den höheren, idealeren, in einfach warmer Freundschaft? Wird, muß nicht überhaupt jede länger dauernde Ehe – Freundschaft werden? Und die gönnst Du mir doch, hast sie mir ja lange, lange gegönnt. So dürfen wir also schlicht annehmen, daß wir uns eigentlich längst gehört haben, und der süße Sturm beginnenden Eheglücks nur hinter uns läge, etwa in einem anderen, früheren Sein. Oder ängstigt Dich nun der Gedanke: ich möchte fordern, daß Du Hans ganz vergessen, Dich blos mit mir beschäftigen solltest? Wenn ich heimkehre, wollen wir vereint seiner gedenken. Du kränkst mich also nicht, wenn Du von ihm sprichst; hatte ich ihn doch sehr lieb.
O sei nicht zarter als zart; in wie viel Ehen Du auch hineinblicken wolltest, wie wenige dürftest Du finden, welche den Geboten Gottes völlig entsprechen. Um Menschen handelt es sich, und die Menschen fehlen ja alle. Gott stellte nur ein Ideal auf, daß wir Dem nachstreben; es zu erreichen, forderte er nicht, sonst hätte er uns anders geschaffen. Zudem ist er ein Gott der Liebe! und der kann seinem Kinde, das aus Liebe und kindlichem Gehorsam sein feineres Fühlen zum Opfer brachte, nimmermehr zürnen. Jedes Opfer fordert hier schon Erbarmen, nicht Strafe – um wie viel mehr noch vor Gott, der in den Herzen liest.
Werde ich Dir ein wenig geholfen haben? Wie wünschte es aus treuestem Mitfühlen
Dein
Hellmuth.
Dieppe, den 10. Mai 1871.
Nur für Dich! Es ist schon das zweite Mal, daß mich bei einem Briefe von Dir eine wahrhafte Angst überfällt! Und die wird nicht etwa durch Bestimmtes, klar Ausgesprochenes geweckt – Dir entfallen nur wie unbewußt Worte und Gedanken werden als selbstverständlich behandelt, die ich nicht verstehen will und doch verstehen muß. Ich mag das Wort nicht einmal schreiben, das schon in den paar Briefen, welche ich von Dir habe, immer wiederkehrt, und nicht – wie sonst von den Menschen mit leisem Grauen ausgesprochen, eher in sehnsüchtigem Erwarten! – Du bist dabei so kurz, brichst immer ab, bevor Etwas erledigt ist. Ich habe oft das wehe Gefühl, wie Dich nicht Interesse, nur die Pflicht zum Schreiben drängt. Darum sind auch meine Briefe, wie Du mir gleichsam vorwirfst, kürzer geworden: ich wage eigentlich von nichts Aeußerem mehr zu sprechen. Immer frage ich mich erst, ob es auch werth sei, Dir geschrieben zu werden? Da Du Alles – die künstlerischen, landschaftlichen, selbst zuletzt die kleinen. historischen Schilderungen aus Eu, um welche Du ausdrücklich gebeten, mit demselben Schweigen hingenommen, nie eine weitere als eine dankende Bemerkung daran geknüpft hast, so dünkt mich gleiches Schweigen das einzig Richtige! Und das bedeutete an sich Nichts, wolltest Du nur – wie in jenem ersten Briefe, mehr von Dir sprechen! Er ist mir trotz des Inhalts in seinem herzigen Vertrauen der liebste. Warum entziehst Du mir das? Habe ich irgend worin gefehlt?
Ich weiß noch nicht einmal, ob Dich meine Antwort auf jenen Brief wirklich ruhiger gemacht hat. – Oder quält Dich die Mutter? Mußt Du ihr zeigen, was Du antwortest – was ich schreibe? Jetzt habe ich das Recht, allein über dergleichen zu bestimmen und was Du thust, zu vertreten: so bitte, so beschwöre ich Dich also – wenn es nöthig ist, antworte mir geheim, daß ich endlich klar sehe.
Du zögertest nicht, wenn Du meine tiefe Sorge begriffest.
Ganz Dein
Hellmuth.
Köln, den 16. Mai 1871.
Lieber, guter Hellmuth!
O sorge nicht um mich! Mir ist jetzt so wohl, wie seit lange nicht. Wenn Du das aus meinen Briefen nicht herauslesen konntest, so liegt es nur daran, daß ich eben nicht vermag, es nie vermochte – Alles auszusprechen, was ich fühle. Mich überkommt schon immer eine Art der Scham, sobald ich von mir sprechen soll. In meinem ersten Briefe an Dich that ich es freilich, und ich bereue das auch nicht. Du hast mir geholfen, obwohl nicht in der Weise, wie Du dachtest. Gerade Deine ersten Briefe, welche mir Dein Wesen zwar nicht anders als ich es in Gedanken hatte, aber doch auch von mancher neuen Seite zeigten – möchte ich um Nichts missen. Sie haben viel zu meiner Ruhe gethan. Dank – Dank für Alles!
Der Mutter thust Du Unrecht, wenn Du meinst, sie beschränke mich in irgend Etwas. Nein, sie fordert weder Deine Briefe, noch frägt sie nach meinen Antworten; was ich dann und wann vorlese, genügt ihr. Ueberhaupt zeigt sie mir jetzt, wenn möglich, noch größere Sorgfalt als früher: jeden Wunsch möchte sie von den Augen lesen, und selbst ihre Lebhaftigkeit sucht sie zu beherrschen, damit ich nur durch Nichts aufgeregt werde. In voriger Woche ist sie sogar heimlich bei einem Arzte, einem Doctor Wiede, gewesen! Dieser besucht uns seitdem öfter, um auch noch über mich zu wachen. Das ist zwar ganz unnöthig, die Mutter wünscht es aber.
Da Dr. Wiede ebenso sehr wie die Mutter und ja selbst Du für einen Landaufenthalt ist, so werden wir denn bereits in diesem Monat nach Gräfrath gehen. Du hast nichts dagegen? Der Doctor hat die Mutter bestimmt, schon morgen des Quartiers wegen hinüberzureisen; ich bleibe zu Hause. Mir ist hier wirklich so wohl – am liebsten ginge ich gar nicht fort. Gegen Euern Willen darf man nur nicht ankämpfen, meint Ihr es doch Alle so gut.
Warum Du aber das schöne Wort »Tod« nicht einmal schreiben magst, begreife ich nicht. In der Jugend zu sterben, soll ja sogar ein Glück sein. Wie gönne ich das heute unserm Hans!
Du könntest nicht grausamer sein gegen
die arme
Rose.
Dieppe, den 27. Mai 1871.
Meine verehrte Frau!
Die Sorge um Rose läßt mir nicht Ruhe, bis ich von Ihnen persönlich gehört, daß Nichts zu befürchten ist. Sie haben bereits einen Arzt für nöthig erachtet; wird das nur durch natürliche Zustände bedingt, oder wäre irgend etwas Besonderes hervorgetreten, das Sie beängstigt? Seien Sie offen zu mir: durch Roses Briefe geht ein Hauch, der mit tiefstem Bangen erfüllen müßte, wenn er nicht ein bloßes Moment in ihrem augenblicklichen Befinden wäre. Das hoffe ich noch. Wer dürfte ihr eine schwermüthige Auffassung der Dinge, selbst Sehnsucht nach Vergangenen und Furcht vor aller Zukunft verargen? Sie hat zu viel gelitten, um schon überwunden haben zu können.
Wie danke auch ich Ihnen für Ihre Schonung und Güte, die mir Rose so herzlich gerühmt hat. Ja, wir wollen sie leise, leise weiterführen, bis sie uns entgegen lächeln darf – wie ehedem. O, wir werden das erleben!
Sobald ich es vermag, eile ich natürlich zu Ihnen: und man spricht hier schon von baldigster Rückkehr.
Wenn der Arzt für irgend ein Bad mehr als für unser stilles Gräfrath eingenommen wäre, folgen Sie seinem leisesten Wunsche – ich trete für Alles ein und lasse sofort das Nöthige anweisen. Nur keine Versäumniß! Ich allerdings würde von dem lieblichen Gräfrath mit seiner Fülle anmuthiger Wege durch Wald und Flur und seiner dabei stärkenden Luft schon Bestes hoffen. Bin ich dort doch so glücklich und zufrieden gewesen. Es ist mir, als könnte es Ihnen Beiden nicht anders ergehen.
Sie schelten nicht, daß ich trotz Roses Briefen noch zu Ihnen komme? Bei ihr möchte ich aber nicht so bis in's Herz hinein fragen, es könnte sie bekümmern. Schon in meiner letzten Antwort habe ich blos getröstet und an den rechten Aufblick nach oben gemahnt.
Mit allem Dank im Voraus und wahrhafter Verehrung
Ihr
Hellmuth.
Gräfrath, den 16. Juni 1871.
Lieber Hellmuth!
Da Rose inzwischen Ihren Brief beantwortet hat, und Sie also über jede augenblickliche Gefahr beruhigt sein durften, habe ich mit meiner Antwort gezögert. Ich wollte erst einen wirklichen Erfolg der Luftveränderung abwarten. Obgleich wir jetzt aber beinahe drei Wochen hier sind und täglich unsere Strecke gehen (ganz wie Sie uns gerathen haben, bald in die Felder hinein, bald den hübschen Waldweg nach der Wupper zu), so vermag ich doch weder in Roses Stimmung, noch in ihrem körperlichen Wohlsein eine rechte Besserung zu finden. Der Arzt ist zwar nicht unzufrieden und behauptet schon einen kleinen Erfolg – ihr Appetit läßt sich aber durchaus nicht heben, auch sinnt und träumt sie mir zu viel. Und was mich am meisten besorgt machen will, ist ein gewisses Ahnen, das sie oft wie bereits in einer andern Welt leben läßt. Wie ich gerade darunter leide!
Ja, wären Sie erst bei uns! Bis Anfang Juli aber, wo wir ihrer Stunde entgegensehen, dürften Sie kaum hier sein; oder wäre es möglich zu machen?
Ich vertraue noch fest auf Roses Jugend und auf den Herrn; er verläßt die Seinen nicht.
So denn ein frohes Wiedersehen, mein theurer Sohn!
Ihre
Marie Weyer.
Die Bataillone des Hohenzollern'schen Füsilier-Regiments rückten erst am Abend und in der Nacht des 2. Juli in Köln an.
Den Vormittag des nächsten Tages über hatte Lohr noch mit Abmeldungen und sonstigen Geschäften zu thun gehabt, so war die Sonne bereits im Untergehen, als er von der Solinger Straße in Gräfrath nach der kleinen Villa abbog, deren unteren Stock Weyers momentan bewohnten. Von der langen gestrigen Eisenbahnfahrt lag wohl noch eine gewisse Müdigkeit auf ihm, augenblicklich schien diese aber völlig zurückzutreten, da sein lebendiges Gesicht nur Erwarten und Spannung ausdrückte. Die wenigen letzten Zeilen, welche er von Rose erhalten, hatten über ihren Zustand nichts Neues gesagt, so konnte Alles besser stehen – oder –? An dieses Gegentheil wagte er kaum zu denken; die Mutter mußte sich geirrt haben, blieb doch der Arzt immer der zuverlässigste Richter. Und der hatte ja Erfolge gesehen, schon vor drei Wochen, wie konnten sich diese gesteigert haben!
Mit einer Art von Prüfen der Luft athmete Lohr ein paarmal auf, und hatte dunkel die Empfindung ihrer Reine und Lauheit. Ueber das Vorgärtchen hin, an welchem er jetzt entlang ging, schweifte sein Blick, und in demselben dunkeln, aber dennoch bestimmten Gefühl bemerkte er mit Wohlgefallen die Sauberkeit des Gärtchens, seine geharkten Gänge, die vielen Blumen darin, Levkojen besonders, die schon über und über blühten. Hier ließ sich wohl sein und jeder Leidende mußte gesunden.
In diesem Augenblick öffnete Frau Weyer, die ihn wohl kommen gesehen, die Verandathür und grüßte mit einem freundlichen Winken der Hand. Lohr erwiderte den Gruß durch Schwenken des Hutes und eilte freudig erregt der Veranda zu. Doch schon, während er sich derselben näherte, sah er, daß auf Frau Weyers Zügen, im Widerspruch mit ihrem Gruße – ein gleichsam starrer Ernst lag, und das schien keine bloße Bewegtheit zu sein – als ob sie etwas schwer bedrückte.
Ehe er jedoch eine Frage thun konnte, nur ihr »Willkommen« erwidert hatte – rief eine Stimme aus dem Zimmer: »Bist Du es wirklich, Hellmuth?« In dem Tone lag noch Zweifel, aber auch Freude.
Lohr hörte allein die Freude heraus und trat hastig über die Schwelle. Rose lag, von Kissen unterstützt, auf einem Sopha der Thür gegenüber und streckte ihm die Hände entgegen.
Doch vermochte er dieselben im ersten Moment kaum zu erfassen und ebenso wenig der auf ihn einstürmenden Gefühle Herr zu werden. Roses tödtliche Blässe, diese abgemagerten, wie durchsichtigen Hände und der Blick – ihr Blick, was ließ der fürchten? Auf einmal verstand er Alles; ihre Briefe, der Mutter Starrheit – die eigene, wie aus ungekannten Tiefen immer von Neuem hervorgebrochene Angst.
Rose ließ ihm aber nicht Zeit, diesen Empfindungen Worte zu leihen; als wollte sie davon nichts hören, so fuhr sie, indem ihre Hände noch die seinigen hielten, lebhaft fort:
»Welchen mächtigen Bart hast Du Dir wachsen lassen. Und wie gebräunt Du bist. Das ist Frankreichs Sonne! Die unsrige thut aber ebenso wohl; Du wirst es nicht glauben und doch meine ich oft, niemals einen Sommer erlebt zu haben, in welchem ich unsern lieben Sonnenschein so dankbar empfunden hätte.«
Frau Weyer, welche die seidene Decke, die sich bei Rose's Aufrichten verschoben, wieder zurecht legte, entgegnete finster:
»Hat uns dieser liebe Sonnenschein etwas genützt? Seit den letzten acht Tagen ist sie Tag für Tag schwächer geworden,« klagte sie dann zu Lohr gewendet, »und ich habe es mit ansehen müssen!«
»Liebe Mutter!« bat Rose vorwurfsvoll.
»Spricht sie denn etwas nicht Wahres!« rief Lohr. »Du hast Dich in den paar kurzen Monaten so verändert, daß ich mich noch immer frage, wie das möglich gewesen ist? Rose! nur Du selbst konntest es dahin bringen. Und warum? warum?«
Rose sah flehend auf die Mutter; diese drückte ihr Gesicht mit einem Aufschluchzen ins Taschentuch und verließ das Zimmer.
»Sie hatte es mir versprochen!« sagte Rose entschuldigend. »Wer weiß, wie lange wir Zeit haben und ich möchte Dir so Manches sagen!«
»Wie lange wir Zeit –«
»Setze Dich zu mir!« beruhigte sie. »Was ich zu sagen habe, ist nicht viel und so einfach! – Siehst Du, wir Menschen vermögen über das Gleiche ja nicht alle gleich zu fühlen! Der Mutter war die Schande das größeste, und Dir wohl auch; von mir glaube ich beinahe, daß ich sie hätte – überwinden können. Was mir Gott vergeben, war für mich immer vergeben; die Menschen können da nicht mehr heran. Und warum hätte mir Gott nicht vergeben sollen? Ist unser Heiland nicht Schwererem gnädig gewesen? Ich war bußfertig – o in jedem Gedanken! – Da kamst Du –«
»Rose!«
»Ich klage Dich nicht an. Du hattest es herzlich gut mit mir vor. Vielen, die ein wenig stärker als ich sind, wärst Du wohl gekommen – wie von Gott selbst gesandt! So faßte es auch die Mutter. Ich habe Dir nicht davon gesprochen, als sie aber offen sagte, daß sie mich lieber todt sähe, als in Schande leben, da zerriß Etwas in mir und ich mußte nach Eurem Gefallen thun.«
»Hättest Du mir vertraut. Der Mutter Wille wäre von uns vereint –«
»Vielleicht gebeugt worden,« fiel sie nickend ein, »bestehen wär' er dennoch geblieben – darüber vermag sie nicht anders zu fühlen. Die Menschen und die Ehre vor ihnen sind für sie Alles – wenigstens mehr als ein verlorenes Kind.«
»Du irrst. Siehst Du ihren Schmerz nicht?«
Rose nickte wieder. »Auch sie hat es nicht so gemeint. – Und ich gebe es Euch ja zu; sehr ehrenwerth mag es sein, den Andern kein Aergerniß zu geben, und Du warst großmüthiger, als ein Mann es überhaupt vielleicht sein darf, wie es nur der aufopferndste Freund über sich brachte – nun gönne aber auch meinem Herzen und meinem Gewissen zu Worte zu kommen. Ich konnte nur einmal lieben; nachdem ich mich Hans geschenkt hatte, gehörte ich ihm ganz zu eigen. Darin vermochte selbst sein Tod nichts zu ändern; noch immer regierte er mir Herz und Gedanken, und immer klagte es in denen, daß ich ihm untreu geworden. Die Klagen haben es gethan; die nahmen mir in der Nacht den Schlaf, die quälten und marterten, bis sie mir auch den Athem genommen und ich mich ihnen hingab zum Letzten. Da ist es besser geworden, immer besser – und heute warte ich nur seines Rufes!«
Wie bereits allem Irdischen entrückt, blickte sie empor. Eine Stille entstand; Hellmuth sah im tiefsten Schmerze auf sie. Endlich sagte er: »Und der Todte hatte es doch gewollt!«
Sie wandte sich ihm wieder zu und entgegnete in geheimnißvollem Tone: »Er macht wohl befangen – der Tod. Alle befangen. Es giebt nur eine Treue – die dem Geliebten nachstirbt.«
»Ich wollte selbst nicht mit Dir rechten,« rief Lohr schmerzlich, »wenn Du frei wärst! Denkst Du aber nicht an Das, dem Du Leben geben wirst?«
Rose lächelte wehmüthig vor sich hin: »Das geht ja mit mir! In tausend Gebeten habe ich Gott darum angefleht; was sollte es auch hier, wenn Vater und Mutter droben sind!«
»Und Du fühlst nicht die schwere Sünde, Dich so aufzugeben? Das ist eine Todsünde!«
»Ich fühle sie wohl,« antwortete sie sanft, »eine Todsünde, kann es aber nicht sein. Ich habe Alles in Gottes Hand gelegt, und Er ist mit mir – Er läßt mich vergehen!«
»Nicht er, Du allein –«
»O gönnt es mir doch!« bat sie, indem sie ihre Hand auf die seinigen legte. »Es ist zum Guten, und das weiß der Herr wohl. Die Mutter wird sich ein wenig grämen, dann aber in Frieden meiner gedenken; für Dich, Hellmuth, beginnt nun ein neues Dasein! Du hast schon zu viel um mich gelitten, die traurige Büßerin durfte nicht länger in Deinem Leben stehen; in diesem Leben, das mir gerade aus Deinen Briefen – mit seinen reichen Interessen, in all seiner Frische und Jugendkraft aufgegangen ist. Und das Alles hätte an mir zu Grunde gehen müssen.«
»Nichts wäre zu Grunde gegangen. Du weißt es, wie lieb Du mir von jeher gewesen bist – das hätte darüber fortgebracht. Ahntest Du nur, wie ich mir unser Leben schon zurecht gelegt habe, wie freundlich es sich immer noch gestalten läßt –«
»Für den Augenblick vielleicht!« fiel sie ein, »doch sobald ich Dich aufs Gewissen fragte, könntest Du mich und Dich nur täuschen wollen, wenn Du es läugnetest, daß uns unsäglich Schweres bevorgestanden hätte.«
»Und ob es auch so wäre, unsere Freundschaft und Achtung –«
»Nein!« unterbrach sie von Neuem, »in solchem immerwährenden Kampfe würden selbst Die vergehen müssen, und was dann? Glaube es nur; Dir das Leben, ich – zu ihm, zu dem ich gehöre! – Nun weißt Du Alles! Und das mußte ich Dir doch sagen, damit Du mich nicht für undankbar hieltest und einsähst, daß ich nicht anders konnte.«
»Das werde ich nie einsehen!« rief Lohr außer sich. »Aber Du kannst mich ja nicht verlassen – Du darfst es nicht! Rose, wir werden über Dich wachen und Dich retten und halten!«
Sie ließ ihm ihre Hand, die er ans Herz preßte, erwiderte jedoch voll rührender Zuversicht: »Wer hier nichts mehr zu vollbringen hat, den nimmt der Herr zu sich.«
Frau Weyer trat nun leise, gleichsam demüthig wieder ins Zimmer und mahnte an den Befehl des Arztes, nicht zu lange zu sprechen. Lohr faßte sich gewaltsam und schied von den Frauen.
Als er aus dem Hause trat, sah er, daß die Dämmerung bereits hereingebrochen war; trotzdem fühlte er, wie er noch gehen müsse – irgend wohin, nur fort – hinaus! Und er ging vorwärts; da er sich aber plötzlich vor einer Mauer fand, an der ein Kreuz aufragte, und über welche hinweg er auf Gräber und andere Kreuze sah, kehrte er schwankenden Schrittes um.
* * *
Es mußte noch ganz in der Morgenfrühe sein und schon zum zweiten Mal schrillte ein lautes Klingeln durch den Gasthof. Lohr war aus unruhigem Schlafe aufgefahren und horchte erschreckt, vermochte aber nichts weiter zu hören. Eben wollte er sich wieder zurücklegen, als es jedoch die Treppe herauf kam und bald auch den Flur entlang – ein schlürfender Schritt voran, ein kräftiger Männertritt darnach. Und wie er es nun gewußt – an seiner Thür machten beide Halt und es klopfte. Auf sein »Herein« trat nur ein Herr näher, der sich ihm als Arzt des Städtchens vorstellte. Dieser berichtete ihm ernst, daß Rose eben ein todtes Mädchen zur Welt gebracht hätte und daß es den Umständen nach leidlich gehe. Eine frühere Benachrichtigung habe sie nicht gestattet, sie sei eine tapfere Frau, jetzt möge er aber zu ihr gehen, auch er selbst würde bald wieder vorsprechen.
Was Lohr geantwortet, wie er den Weg gefunden – und das Haus, er hätte es nicht zu sagen gewußt.
Als er ins Verandazimmer trat, sah er eine fremde Frau mit Etwas beschäftigt: im Näherkommen erblickte er ein winziges Kindergesicht, das sich von weißem Linnen abhob. Ein paar Härchen schimmerten golden bei dem flackernden Kerzenlicht. Lohr schloß einen Moment lang die Augen, dann schritt er mechanisch weiter nach dem Nebenzimmer. Lichte Morgendämmerung füllte dasselbe und Weihrauchduft. Die Mutter saß regungslos an Roses Bette; diese selbst schien zu schlummern. War das auch noch Schlummer? Doch Frau Weyer machte eine Bewegung und Rose schlug die Augen auf. Als sie Lohr erkannte, flog es gleich einem Leuchten über ihre Züge – als sollte ihm das sagen, wie viel von dem schon eingetroffen, was sie ersehnt hätte.
Er sank am Bett nieder, indem er ihre herabhängende Hand mit Küssen bedeckte. Niemand sprach. Nach einer Weile machte ihm Rose ein Zeichen, daß er die Gardinen am Fenster zurückziehen möge. Während er es that, sagte sie abgebrochen: »Es muß – – ja Morgen sein, ich – – möchte die Sonne noch sehen!«
Diese war zwar noch nicht aufgegangen, aber der Saum des Horizontes tauchte sich bereits in Purpur. Rose sah lange hinüber, endlich auf die Mutter – auf Hellmuth; dann fielen kaum hörbar die Worte: »Vergebt mir! – wo ist mein Kind? Ich komme, Hans – – ich komme!«
Als ihr Hellmuth das Kind geben wollte, waren ihre Augen gebrochen.