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Novelle.
Der Hauptmann Bramstedt war in mißvergnügtester Stimmung, was bei ihm zu den Seltenheiten gehörte: es mußten immerhin mehrere Unannehmlichkeiten zusammen kommen, wenn sich die heitere Ruhe seines Gemüthes trüben sollte. Heute war für ihn ein solcher, augenscheinlich »schwarzer Tag« – trotz des linden Frühlingssonnenscheins, der an diesem 3. März des Jahres 1871 wie eine Verheißung von Glück und Frieden über dem Dorfe Vraignes in der Picardie lag.
Der Hauptmann hatte das Standquartier seiner Compagnie erst am Morgen des Tages auf Befehl seines Regimentscommandos gewechselt. Er war schon ungern von Vendelles geschieden, wo er bisher gelegen hatte, da er bei seinem jovialen dortigen Quartierwirth vortrefflich aufgehoben gewesen; außerdem that seine Braune, die an jeder sanften Pferdetugend reiche Liese, gleich im Beginn des Marsches einen Fehltritt und verletzte sich dabei einen Huf so stark, daß Bramstedt nicht allein die zwei Meilen stolz zu Fuße gehen mußte, sondern auch voraussah, wie er der gewohnten Ritte vielleicht auf Wochen hinaus werde entbehren müssen. Schließlich hatte das Bataillon über zwei seiner »Lämmchen« (so nannte er mit Vorliebe die ihm anvertrauten Mannschaften) diese langweiligen species facti eingefordert, weil ein – wie sich später übrigens herausstellte – gänzlich haltloser Verdacht gegen dieselben vorlag, einen großen Entenhof Vendelles um zwei der fettesten Erpel erleichtert zu haben. Die schillernden Federn dieser unglücklichen Opfer einer nach den Strapazen eines Winterfeldzuges kaum ganz ungerechtfertigten Geschmacksverwilderung hatten nämlich in der Nähe des Quartiers gerade jener »Lämmchen« gelegen, waren jedoch unbedingt von einer schlauen anderen Hand dorthin gestreut worden.
Und diese vergeblichen species facti sollten noch nicht einmal der letzte Streich sein, den das Verhängniß heute dem armen Capitän spielte! Das Dejeûner im neuen Quartier hatte sich schon als mager und nebenbei als nachlässig zubereitet erwiesen – und jetzt, gegen fünf Uhr Nachmittags, wo sich bereits die heimliche Sehnsucht nach einem um so würdigeren Diner regte, kam der Feldwebel Bäcker, der einen Theil der Quartiere revidirt hatte, über den Hof und schien in seinen wilden, schwarzen Kriegsbart hineinzusprechen, was stets ein Zeichen war, daß ihm irgend Etwas nicht nach Wunsch gegangen, oder daß er sogar eine Anklage erheben wollte. Die fehlte Hauptmann Bramstedt noch! –
Er empfing Bäcker gleich mit völlig verfinsterter Stirn und versuchte dann geradezu außer sich zu gerathen, als dieser ihm die bedauerliche Thatsache meldete: »die acht Gefreiten« (eine Art Elitetrüppchen seiner Compagnie, für die er sich – auf welche Erfindung er sehr stolz war! einen eigenen Dienst erdacht hatte, z. B. daß sie bei frühen Ausmärschen in sämmtlichen Quartieren weckten &c.) – diese »Acht« also hätten bis jetzt noch keinen Mundvoll Brod bekommen, trotzdem sie, nach Befehl, wieder auf einen der größten Höfe gelegt wären. Ob dieser Hof weit entfernt sei? fragte Bramstedt grimmig.
»Beinahe nebenan!« versicherte Bäcker, »und patzig scheint der Bauer! ich verstand ihn man nicht!«
Der Hauptmann steckte den Säbel an, seine Mütze erhielt ihren schiefsten Sitz (was die Compagnie, wenn es einmal vorkam, stets als ein übles Vorzeichen deutete) – und so schritt er, Bäcker noch immer knurrend neben ihm, dem Gehöfte zu, auf welchem sich seine bevorzugten »Acht« bis jetzt – also etwa sieben Stunden lang – im Fasten geübt hatten.
Der Gefreite Blatzheim bestätigte nach seiner strammen Meldung, mit wie viel Mann der Hof belegt sei, auf die erregt gestellten Fragen seines Capitäns den traurigen Sachverhalt mit einer unnachahmlichen Art von Duldermiene und der nicht weit davon stehende Gefreite Britten sah ebenso ergeben drein, wenn aus der Tiefe seiner unstäten Augen auch schon die Genugthuung heraufstieg, daß dem verdammten » pisam« jetzt der Standpunkt klar gemacht werden dürfte.
Dieser, Monsieur Patin, saß völlig harmlos und aus einer Thonpfeife rauchend, auf der Vortreppe seines langgestreckten Wohnhauses, indem er mit der schlanken Gattin Rosalie sprach, deren Blicke sich immer von Neuem und bald in prickelnder Unruhe auf die Gruppe der » Prussiens« richtete. Mit weiblichem Scharfsinn erkannte sie sofort die große Aufgeregtheit des Offiziers, und die Richtung seiner Blicke auf sie selbst schien nichts Gutes zu weissagen: ihr Gatte, im Bewußtsein, nichts verschuldet zu haben, beruhigte sie aber, ja, es reizte ihn – der Friede stand vor der Thür! durch einen gewissen Muth zu glänzen.
Als sich Bramstedt rasch näherte, blickte Monsieur Patin anscheinend eifrig nach einem der Ställe hinüber und nur die stärkeren Rauchwolken zeigten, daß er auf irgend welchen Zusammenstoß nicht gänzlich unvorbereitet sei. – Der Capitän sprach kein glänzendes Französisch – ein darin gewandterer Kamerad hatte sein Lichtlein leuchten lassen und darüber gescherzt: er spräche es, wie eine baskische Kuh tanze – – jetzt aber, bei seinen kurz herausgestoßenen Worten, die noch von zornigen Blicken und Geberden begleitet waren, hatte Frau Rosalie keine andere Empfindung, als die eines beinahe tödtlichen Schrecks. Monsieur Raoul Patin sah das, jener Reiz Muth zu zeigen, wie die ganze Eitelkeit der grande nation stiegen ihm zu Kopf, er blieb sitzen, machte selbst einen Versuch, weiter zu rauchen und erwiderte mit einer wunderlichen, halb gewaltsamen, halb furchtsamen Keckheit – wie er nicht gewußt, daß die Leute noch vor dem Diner etwas zu fordern hätten! Uebrigens habe er vor den Herren Prussiens keine Furcht. Das wurde der Tropfen für den übervollen Becher.
In Bramstedt kochte eine Welle Blutes jäh empor, er holte aus und versetzte Monsieur Patin von oben herunter eine so gewaltige Ohrfeige, daß dieser auftaumelte, während die Stücke seiner Pfeife in weitem Bogen bis auf die Seitentreppe flogen.
Sobald der Schlag gefallen war und der Hauptmann in das gleichsam erstarrte Gesicht seines Opfers sah, in dessen Augen ein wilder Ausdruck von Entsetzen, Weh, ja schmerzlichem Drohen lag, bedauerte er seine Uebereilung und hätte gern ein entschuldigendes Wort gesprochen; doch seine Leute standen grinsend rings herum, die Frechheit war auch allzu groß gewesen – so wandte er sich an die zitternde Frau Rosalie und fragte kurz, was denn nun für die acht Mann zum Mittagessen gekocht wäre? Als sie das stete, saft- und kraftlose Kaninchen-Fricassée nannte, er dabei die Masse des Federviehs auf dem Hofe sah – das Schnattern der ungezählten Enten herüberdrang, kam ein neuer Zorn über ihn, vielleicht mit einer Art von Rachedurst für die zu Hause bevorstehende Arbeit der species facti verbunden, so befahl er, nach dem Fricassée als Sühne des siebenstündigen Hungerns für jeden Gefreiten eine gebratene Ente und einen Liter Landwein zu stellen.
Frau Rosalie athmete auf und stürzte sich (den Mann mit fortziehend), um ihre höchste Bereitwilligkeit darzuthun, sofort selbst unter die Schaaren des Federviehs, das schreiend nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstob. Hülfeheischendes Geschnatter bewies aber bald, daß Madame wie Monsieur in ihrem Fange bereits glücklich gewesen waren.
Der Hauptmann stand noch einige Augenblicke auf der Vortreppe, indem er der tollen Jagd des Ehepaares zusah, dann verließ er mit dem Feldwebel stumm den Hof. – Ein alter Bauer, der Patin's wohl besuchen wollte, sich bei dem Auftritt aber nicht näher herangewagt hatte, grüßte die Beiden mit ausgesuchter Höflichkeit. Bramstedt dankte gleichfalls höflich: das Uebermaß im Gruße des Greises hatte ihn jedoch fatal berührt, und es war ihm, als sähe er noch einmal in ein todtbleiches, entsetztes Gesicht.
* * *
Frau Rosalie Patin, née Bertrand, des reichen Müllers aus Bernes einst vielumworbenes Töchterchen, war unter gewöhnlichen Verhältnissen durchaus nicht zum Zittern geneigt; besonders ihr Raoul, dem sie nebenbei ein wirkliches Herzensinteresse in die Ehe gebracht hatte, litt zuweilen, vielleicht sogar öfter, als es nach seinem Geschmack war, unter ihrer starken Empfänglichkeit für alle möglichen Eindrücke. So konnte sie sich schon voll hellen Eifers, wobei die Absätze ihrer Hackenschuhe bald zu accompagniren pflegten, in jedes Gespräch mischen, das Dinge betraf, welche sie in anderer Weise als die Sprechenden anzusehen gewohnt war; und passirte gar (was natürlich Tag für Tag eintrat) auf dem großen Hofe irgend etwas, das ihrer Erwartung nicht entsprach, oder für Befürchtungen Raum ließ – so schallte ihre schöne Altstimme, die sich nur leicht in eine grellere hohe Lage verlor, durch Ställe und Keller, daß jeder Dienstbote, den es nicht direkt anging, wie in Versenkungen verschwand, weil Frau Rosalie alsdann gewöhnlich auch einen Fehl entdeckte, den sich gerade dieser unberufene Zuhörer hatte zu Schulden kommen lassen. – Sie wäre sicherlich ebenfalls der im Ganzen so geduldigen Prussiens Herr geworden, wenn sie eine Ahnung von deren entsetzlicher Sprache oder wenigstens das bestimmte Gefühl gehabt hätte, daß sie nebst ihren stets unantastbaren Gründen für irgend welche Anordnung verstanden würde. Da dies jedoch selten der Fall war, so blieb ihr der Verkehr mit dem Feinde unheimlich – und sobald in dessen Gesichtszügen gar eine Ungeduld hervortrat, überkam sie ein bis dahin ungewohntes Fürchten, ihre erhitzte Phantasie sah sofort Brand und Todtschlag im Hause, ganz à la Bazeilles. –
Zu den acht Gefreiten hatte sich übrigens nach dem unter allseitig großer Zufriedenheit abgelaufenen Diner ein fast cordiales Verhältniß gefunden. Von den Acht war es Frau Rosalie nämlich hoch aufgenommen worden, daß sie zu den knusperig gebratenen Pracht-Enten nicht nur frisches Brod, sondern aus freien Stücken noch Salat und Kartoffeln in Masse hinzugefügt hatte; dem Hausfrauen-Herzen ging es aber weich ein, welche Ehre augenscheinlich ihrem – wenn auch abgezwungenen, Essen angethan wurde. – In dieser Stimmung hatte Madame erst genauer auf die Einzelnen geachtet und dabei bemerkt, daß namentlich einer der pieds du Diable ein bildhübscher blonder Bursche sei, dessen treue Augen sich wahrhaft in's Herz stahlen.
Ein kleines, ehrbares Gefallen an diesem blauäugigen Blondin vermochte sie nicht ganz zu unterdrücken, und dasselbe kam allen Uebrigen mit zu Gute, nur seltsamerweise Monsieur Patin nicht. Vielleicht aus dem dunkeln Gefühl eines, ob auch noch so geringfügigen Unrechts gegen ihn, oder aus dem einmal nicht abzuweisenden Hintergedanken, warum er gerade ein solcher kurzbeiniger, schwarzer Gesell wäre, der neben diesem markigen, blonden Riesen völlig verschwände! Monsieur Raoul hatte während seiner fünfjährigen Ehe nicht so viel Herbheit, ja versteckte Anzüglichkeiten über sich ergehen lassen müssen, als in den nächsten paar Tagen gleich sommerlichen Hagelkörnern um ihn herflogen. Auch er kam dadurch in eine gereizte Stimmung, besonders da er den Grund für seiner Frau immerhin auffallendes Betragen in etwas Anderem suchte, das schon an sich wie ein Alp auf ihm lastete. Die erhaltene Ohrfeige vermochte er nicht zu vergessen, viel weniger zu verschmerzen. Sie allein konnte seiner Meinung nach Frau Rosalie so stachelig machen: er war, ohne sich vertheidigt zu haben, verunehrt worden – das gab ihr Waffen in die Hand. – Glücklicherweise hatte den Auftritt zwar Niemand von den Dienstleuten mit angesehen – der alte Caumont und Rosalie waren die einzigen ihm näherstehenden Zeugen gewesen!
Der Alte hatte zudem alle Unehre auf den übermüthigen Feind geschoben und sogar aus freien Stücken Verschwiegenheit gelobt! Dennoch mußte er wenigstens zu seinem Schwiegersohne davon gesprochen haben, da sich derselbe in theilnehmenden Andeutungen ergangen hatte! Diese Thatsachen, welche nicht fortzuleugnen waren, trieben nun unter der niedrigen Stirn Monsieur Patin's immerwährend ihr Unwesen, raubten ihm Nachts trotz seines traulichen Himmelbettes und der bis über die Ohren gezogenen Zipfelmütze den Schlaf, und ließen ihn ganz gegen seine Gewohnheit selbst am Tage träumerisch umherstehen, statt wie sonst überall persönlich Hand anzulegen. –
So dachte er eben wieder an den verdammten Capitän, als Frau Rosalie eilig aus dem Keller heraufstieg und ihn schon von der Mitte der Treppe aus mit Vorwürfen zu überschütten schien, von denen er jedoch nur die Worte »Cidre« und »gesprungen« verstand. Ihm war bei der Erinnerung an den Prussien gallig zu Muth geworden; so fragte er in nicht gerade sanftem Tone: »Was ist los?«
»Es sind wieder drei Flaschen vom Cidre mousseux gesprungen!« rief Madame noch in einer gewissen Athemlosigkeit.
»Große Sache!«
»Für Dich natürlich nicht! Der große Herr!« erwiderte Frau Rosalie spöttisch, setzte aber sofort mit erstaunlicher Zungenfertigkeit hinzu: »Es ist ja nur mein Lieblingsgetränk! – Und Monsieur dachten beim Pfropfen Wunder was gethan zu haben! Die Pfropfen sollten für die Ewigkeit sitzen, und wie der Redensarten mehr waren. Eine schöne Ewigkeit! Nun es im Frühling ein wenig zum Gähren kommt – heidi davon! Doch wie gesagt – die Flaschen waren ja blos für mich bestimmt! – Oder fehlte es Monsieur doch an Kräften? Schade, daß wir damals noch keine Einquartierung gehabt haben, die hätte sicherlich anders gepfropft!«
»Was soll das?« warf Monsieur Patin erregt dazwischen.
»Das ist doch zu verstehen?«
»Ich verbitte mir dergleichen« –
»Du hast Dir hierbei gar nichts zu verbitten!« unterbrach Frau Rosalie schlagfertig. »Wenn man im Unrecht ist, hat man das einzusehen und sich artig zu entschuldigen! Nur Deine Nachlässigkeit ist daran Schuld, daß wir in diesem Jahre so gut wie keinen Cidre mousseux haben.«
»Donnerwetter! ich habe weder in den Pfropfen gesessen, noch sitze ich jetzt in den Flaschen« – –
»Was doch nur angenehm ist! – Beinahe wäre es übrigens möglich!« schloß Madame schnippisch, indem sie ihn bei der Anspielung auf seine Kleinheit mit einem Blicke maß, der ihm beinahe verächtlich vorkam.
Sein Blut gerieth in stärkere Wallung, und er entgegnete ausfallend, dabei ebenfalls mit Beziehung auf sein häufiges Angriffsobject, den ein wenig zu langen Hals der Gattin: »Känguruhs sind darüber allerdings erhaben!«
Frau Rosalie öffnete im ersten Moment mehr vor Erstaunen als vor Entrüstung ihren hübschen Mund und schwieg sogar, wie wenn sie diesen unerhörten Vergleich – sonst pflegte Monsieur Patin höchstens ironisch an Schwanenhälse zu erinnern – vorerst in seiner ganzen Tragweite überdenken müsse. Doch als das geschehen war, machten die spitzen Finger ihrer Rechten eine sehr bezeichnende Bewegung, was ihm eigentlich dafür gebühre, wobei sie mit flammenden Blicken hinzufügte: »Beim Essen kommt wohl auch darin der Appetit? Es war mit der einen noch nicht genug! – Andere, wirkliche Männer meine ich, trügen an der Schande lebenslang – Du, Du forderst von Neuem« – – sie stockte, so erschreckend hatte sich des Gatten Gesicht verzerrt, und so deutlich glaubte sie in der dunklen Röthe, welche es bis zur Stirn hinauf überflammte, noch jetzt den Abdruck der Hand des Capitäns zu unterscheiden.
»Weib!« stieß er endlich keuchend hervor, »passirt nun was, Du hast es auf dem Gewissen!«
»Um Jesu willen, Raoul!« Weiter entrang sich ihr nichts; angstvoll ergriff sie seine drohend erhobene Faust und umschloß sie fest mit beiden Händen.
Er riß sich aber los und rief mit einer Art triumphirender Genugthuung: »Das war es, was noch fehlte! Jetzt weiß ich, daß es auch Dir nachgegangen ist – wie mir! und es darf darum nicht so bleiben, sonst höre ich's ewig von Dir, von Allen. Vater Caumont hat auch schon geplappert, also vorwärts! Dann ist doch der Revolver nicht umsonst gekauft!«
»Mann,« bat Frau Rosalie tief erschrocken, »ängstige mich nicht zu Tode, woran denkst Du? Ich schwöre es Dir bei allen Heiligen, Du sollst nie mehr, auch nicht die geringste Anspielung darauf von mir hören! Du bist ja schuldlos! vergieb mir meine Unbesonnenheit.«
Er schüttelte finster den Kopf, obwohl ihm die Reue seiner Rosalie, die sich ganz ebenso lebhaft, wie vorher ihr Angriff geäußert hatte, im Grunde des Herzens wohlthat und sich dadurch auch sein Zorn, besonders sein Blutdurst unwillkürlich stillte. Von seiner im Ganzen nicht aggressiven Natur, die wohl aufwallen konnte, jedoch stets bald der vernünftigen Ueberlegung zugänglich war, ja der Löwenhaut nicht ungern den Fuchsschwanz anheftete – war immer der Mittelweg bevorzugt worden, und seine Gedanken nahmen denn auch jetzt diese Richtung auf. Aeußerlich konnte aber ein gewisser Schein, der eine Gewaltthat nicht ausschloß, kaum schaden, da er seiner Frau Respect vor ihm erhöhen mußte; darum erwiderte er in scheinbar noch unverändertem Groll: »Darin kannst Du dem Mann nicht nachfühlen! Ob Feind, ob nicht Feind – Schlag bleibt Schlag und fordert seine Sühne!«
»O, mein Gott, was willst Du thun?« jammerte Madame von Neuem, »denkst Du nicht an die Kinder, an mich? – Was geschähe, wenn Du nur auf dem Versuche, Dich zu rächen, betroffen würdest, ich vermag es nicht auszudenken! Man hängt oder erschießt Dich ohne Erbarmen!«
Monsieur Patin, selbst von diesem gemalten Entsetzen wieder nur angenehm berührt, weil er dabei Rosalie's so ungewohnte Hülfsbedürftigkeit sah, und ihre Liebe zu ihm ganz klar in ihren verängstigten Augen stand, kam sich sublime vor – war nun aber doch zu gutherzig, um der Gattin Qual noch weiter zu steigern. So versetzte er denn in beruhigenderer Weise: »Du darfst mir übrigens jede Vorsicht zutrauen! und findet sich ein annehmbarer Ausweg, so kannst Du sicher sein, daß ich ihn schon Deinetwegen einschlage. An mir läge ja nichts, aber« – –
»An Dir nicht? Raoul!« schluchzte Frau Rosalie geradezu. »Mir ist, als liebte ich Dich jetzt noch mehr, seit ich gesehen habe, wie wahrhaft männlich Du fühlen kannst! Aber traue mir fest darin – es liegt keine Schande auf Dir! Was ist der Feind denn anders, als ein reißendes Thier? und dem würdest Du doch auch nicht nachstellen, weil es Dich angefallen hat! Ueberlaß es getrost mir, denen das klar zu machen, die Dich etwa deshalb verspotten sollten. Ich war vorher auf den Kopf gefallen, Dich in so alberner Weise zu reizen.«
»Das ist Alles schön und gut,« antwortete Monsieur Patin beinahe schon in seinem gewöhnlichen Gleichmuth, »und Du bist nun wieder mein braves, liebes Weibchen doch ich habe da noch meine ganz eigenen Gedanken, die sich nicht abweisen lassen. Fürchte Dich nicht! wir werden erst sehen, was ohne Revolver zu erreichen ist. – Unbedingt aber darf die Geschichte nicht im Sande verlaufen, das bin ich meiner Ehre« – er reckte sich so hoch auf als er es vermochte – »ja selbst der Deinigen schuldig.«
Ehe Frau Rosalie den kleinen Mund zu neuen Einwänden öffnen konnte, unterbrach er die Auseinandersetzung, indem er nach dem Hofthor wies, an welchem ein preußischer Soldat vorüberging: »Pardon! ich habe mit Monsieur Juli nothwendig zu sprechen.«
Auf den lauten Zuruf »Monsieur! Monsieur Juli!« blieb dieser stehen. Er war ein Hornist der Bramstedt'schen Compagnie und der begehrteste Dolmetsch bei allen Mißverständnissen, die zwischen Quartiergeber und Einquartierung zu Tage traten, da er ein völlig flüssiges Französisch sprach, das er sich während seiner verschiedenen Aufenthalte in Belgien angeeignet hatte. Von Monsieur Patin war er schon öfter zu Rathe gezogen worden, wobei dieser stets ein Fläschchen von seinem »guten« Rothen aus dem Keller geholt hatte, so standen die Beiden auf bestem Fuße. – Heute nöthigte ihn Monsieur Raoul aber nicht wie sonst in's Haus, sondern that, als ob er ebenfalls vorhabe, in's Dorf zu gehen, und sich ihm also anschlösse.
Nach einigen allgemeinen Fragen und gegenseitigen Beglückwünschungen zum »Frieden« – die Nachricht vom Abschluß desselben war zwei Abende vorher im Dorfe eingetroffen und mit zügelloser Freude von Feind wie Freund aufgenommen worden – kam Herr Patin anscheinend zufällig auf Julis Quartierwirth, welcher auch der des Hauptmanns Bramstedt war. Er forschte, ob derselbe seine Pflicht thue, der Capitän zufrieden sei, und hob dabei, nachdem Juli Alles bejaht hatte, die stattliche Persönlichkeit des Capitäns hervor, woran sich leicht die weiteren, mehr vertraulichen Fragen schlossen, ob derselbe wirklich ein so charmanter Herr wäre, wie er von verschiedenen Seiten gehört habe: nicht blos streng gerecht, sondern auch bestrebt, selbst ihnen, dem Feinde, ihre schwere Aufgabe so viel als möglich und statthaft zu erleichtern. Ob es zum Beispiel wahr sei, daß er in Vendelles einem Armen, der nur eine Kuh besessen habe, diese, trotzdem sie bereits requirirt war, zurückgesandt hätte? Auch das durfte Juli bestätigen. Ueberhaupt erging sich dieser, da er ein dankbares Gemüth besaß, in einer wahrhaften Verherrlichung seines Hauptmanns, der ihn für die Schlacht von St. Quentin, wo es Juli mit noch einem Kameraden gelungen war, sieben in einem Häuschen versteckte Franzosen gefangen zu nehmen, mit dem eisernen Kreuze hatte decoriren lassen.
Es war ein ordentliches Schmunzeln gewesen, mit welchem Monsieur Patin diese Bekenntnisse aufgenommen hatte, und er verließ Juli erst am Ausgange des Dorfes, wo dessen Landsmann im Quartier lag, dem Juli eine eben erhaltene Nachricht aus der Heimath mittheilen wollte.
Monsieur Patin kehrte aber noch nicht nach Hause zurück, sondern ging wohl eine Stunde lang auf der Chaussée nach Bernes zu, wobei er so ganz in Gedanken versunken war, daß er Grüße, die ihm von Begegnenden zugerufen wurden, unbeachtet ließ.
* * *
Am nächsten Abend, kurz vor Sonnenuntergang, schritten vier Männer langsam und scheinbar lässig über den großen Hof der Caumont'schen Ferme. Die rasch versinkende Sonne warf den Männern durch das offene Hofthor noch ein Paar ihrer bleichen Strahlen nach und ebenso folgten ihnen die gleichmüthigen Blicke von einigen Leuten der Einquartierung, die mit Putzen ihrer Sachen beschäftigt waren. Monsieur Patin und der greise Caumont gingen stumm voran, während dessen Schwiegersohn Dufour mit dem jungen Caumont (dem sein Pathe den edlen Namen Aubri beschert hatte) in eifrigem Discurs folgten, welcher nur in der Nähe der preußischen Soldaten unwillkürlich leiser geführt worden war. Im Obstgarten hinter der Scheune angekommen, blieben sie einige Momente zusammen stehen, bis das Wort »Rabenplatz« fiel, und sie in der früheren Weise zu Zweien dem Kanal zugingen, der die Besitzung der Caumonts eine Strecke lang begrenzte. Bald war auch die mächtige Ulmenallée erreicht, welche längs dieses Kanals hinführte. Ungefähr in der Mitte derselben stand ein altersgrauer, runder Holztisch, zwei ebenso verwitterte Bänke davor und dahinter: diese Stelle hieß seit undenklichen Zeiten der »Rabenplatz«, da die Allée, besonders im Frühjahr und im Spätherbst, von unzähligen Raben und Dohlen bevölkert war.
Auch heute flatterten Schaaren derselben, als die Männer in die Allée einbogen, plötzlich auf und ließen sich ein Stück weiter von neuem nieder – ihr Geschrei und ihre dunkeln Flügel füllten die Lüfte; das störte die Vier aber nicht, regte im Gegentheil Jedes Gedanken in anderer Art an.
Als man sich dicht bei einander auf der Bank hinter dem Tische niedergelassen hatte, sagte Vater Caumont, zu dessen Gewohnheiten es gehörte, sich gern in Sprichwörtern oder sonstigen Maximen zu ergehen: »Ja, ja! der schlechte Ruf fliegt bis ans Meer, der gute hockt still an der Thür unseres Hauses!«
Monsieur Patin sah ihn an, nickte jedoch nur ohne eine Entgegnung vor sich hin.
Mit einem Faustschlage auf den Tisch, daß zwei harmlose Dohlenfrauchen, die sich auf der Ulme nebenan (wahrscheinlich über die leichteste Art, Eier zu legen) unterhalten hatten, schreiend davon flogen, rief der hitzige Herr Aubri: »Mich geht es zwar im Grunde nichts an, ich habe es aber schon einmal gesagt, der verfluchte Ehrabschneider muß dran glauben!«
»Sacht, sacht!« beruhigte Vater Caumont, indem er sich nach allen Seiten umsah, »wenn wir nicht am weisesten wieder nach geschehener That sein wollen. Hier ist gar viel mit zu bedenken! Monsieur Patin darf nicht allein auf seine Rachlust hören, die ja so wie so eine Schlange im Busen ist! er hat an seine Familie, unsere wackere Frau Rosalie und die lieben Kleinen vor Allem, ebenso aber auch an uns, an das ganze Vraignes zu denken! Ruinirt würden wir sammt und sonders, denn was sie nicht niederbrennten« – er sah wieder forschend über den unter leisem Gurgeln hinströmenden Kanal hinüber – »das nähmen sie uns durch eine unerschwingliche Contribution, wie schon der Vater selig miterleben mußte, und sie jetzt drüben in Querrieux gleichfalls erlebt haben sollen. Nein! Man wäre gewiß gern kühn mit den Kühnen, doch in diesem Falle bleibt mein Rath – Dem, der uns Steine zugeworfen hat, dafür Brod hinzuwerfen! Glaubt nur, Noth ist die Hälfte des Verstandes – und jetzt haben wir in der allgemeinen Nothlage, in welcher sich unser theures Frankreich gleichsam winden muß und mit ihm wir selbst, den besten Rückhalt gegen jeden zu tollen Andrang des Blutes.«
»Vater Caumont,« warf Monsieur Dufour mit seinem gewöhnlichen (sich ein wenig überhebenden) Lächeln ein, »darf ich Sie an eines Ihrer Hauptsprüchlein erinnern? Der Rath der Greise leuchtet, erwärmt aber nicht!«
»Sehr wahr!« eiferte Raoul Patin. »Selbst Sie, Caumont, würden es uns nimmer ausreden, daß ich und gerade um der Meinigen willen, in der Affaire etwas thun muß – muß!« Ruhiger setzte er hinzu: »Geht es ohne Gewaltthat ab, um so besser! eine Genugthuung will ich aber haben.«
»Erhitzen wir uns wenigstens nicht!« sagte der Greis mit sorgenvoll gefurchter Stirn und in bittendem Tone zu Herrn Raoul. »Sie haben uns dadurch geehrt, uns Ihre Sorgen mitzutheilen, unsern Rath zu verlangen – nun müssen Sie auch auf uns hören!
Wenn wir Alten auch meist nur schöne Lehren geben, weil wir nicht mehr schlechte Beispiele geben können, so wissen Sie doch ebenso gut, daß die Jugend ein beständiger Rausch ist und nothwendig steter Aufsicht bedarf. Gar auf Aubris Bravaden –«
»Aber, mein Vater – –«
»Ich weiß, was ich sage!« unterbrach Monsieur Caumont kurz den Sohn, »Du möchtest immer mit den Nägeln durch die Wand! Aber schon in gewöhnlichen Zeiten wird ein so eingeschenkter Wein selten getrunken, heute ist es barer Wahnsinn, nur an derartige Möglichkeiten zu denken. Frau Rosalie hat mir aus dem Herzen gesprochen, wenn sie diese Prussiens insgesammt« – er blickte abermals hastig links und rechts und hinter sich – »für reißende Thiere erklärt, ob sie die Krallen und Hauer auch gemeinhin versteckt halten. Könntet Ihr das ableugnen?«
Die Drei schwiegen: Monsieur Dufour schien allerdings einen Einwand zu haben, doch zuckte er schließlich nur die Schultern.
»Wenn Ihr das also zugebt,« fuhr der Alte fort, »und welcher ehrliche Franzose thäte das nicht! wie liegt die Geschichte dann? Nichts bedeutet sie! – Ich sage, nichts!« schloß er heftig – »ein Stoß mit dem Einhorn, Ihr kennt ja das Fabelthier auf den englischen Etiketten? Damit holla! – Wenn ich Sie, lieber Herr Raoul, nicht auch einzig bemitleidet und alle Schuld und Schande auf die lose Hand des Capitäns geschoben hätte, wie wäre mir dann ein Wort darüber auf die Zunge gekommen!«
»Das ist aber geschehen,« erwiderte Monsieur Patin, in seinem eigensinnigen Rachedurst scheinbar noch bestärkt, »auch Rosalie hat es mir in die Suppe gebrockt, nun lasse ich nicht eher davon ab, als bis er – – oder ich meinen Theil habe!«
»Bravo, Monsieur Patin!« riefen Aubri und Dufour wie aus einem Munde.
»Auf mich dürften Sie zu jeder Stunde zählen!« fügte Aubri Caumont noch eifrig hinzu, wobei er freilich einen mißtrauischen Blick auf seinen Vater warf.
Dieser sagte denn auch mit einem gewissen Nachdruck: »Da hätte man immerhin noch mitzureden! Außerdem hoffe ich, daß Herr Raoul ein wenig Werth auf die Freundschaft des Nachbarn legt, der schon der Freund seiner Eltern war!«
»Gewiß, gewiß!« versicherte dieser.
Vater Caumont legte seine Hand auf Patin's Arm und sprach in feierlichem Ernst: »Bei dieser alten Freundschaft beschwöre ich Sie nochmals, wohl zu überlegen, bevor Sie sich auf das Geringste einlassen, das Sie dem Feinde gegenüber« – er betonte die Worte schwer – »compromittiren könnte. Ein alter Freund ist ein zweites Gewissen, das bedenken Sie! und wer nicht auf seine Freunde hört, wird bald unweise. Ich, der ich wohl als honnetter Mann gelten darf, erkläre Ihnen aus Grund meines Herzens, daß ich Sie jetzt nicht um eines Haares Breite weniger achte und schätze, als es vor der übereilten That dieses Capitäns der Fall war und Frau Rosalie denkt ebenso. Auch sie zittert vor jeder ähnlichen Uebereilung Ihrerseits: Weibes Wille, Gottes Wille! – Achten Sie nicht auf den jungen Unverstand neben sich, dem geben Sie allein immer neues Wasser auf die Mühlen: habe ich Sie erst gewonnen, so kommen auch die Beiden ganz von selbst zur Einsicht!«
Während Monsieur Patin zu Boden blickte und augenscheinlich in eine große Uneinigkeit mit sich selbst gerieth, da er von Jugend auf daran gewöhnt war, im alten Caumont einen zweiten Vater zu verehren und sich, wie übrigens das ganze Dorf, seinen bestimmten Aussprüchen unweigerlich zu fügen – – klinkte Jemand die kleine Thür der Scheune auf. Der von Süden kommende Abendwind trug das Geräusch deutlich herüber.
Alle Vier wandten sich betroffen um. Es kam aber nur ein Dufour'scher Knecht, der den Befehl des Maires überbrachte, daß morgen Nachmittag Monsieur Dufour den Wagen für den preußischen Capitän nach Caulaincourt zu stellen habe.
Monsieur Patin hatte beim bloßen Nennen des Prussien die Fäuste geballt und sah, nachdem der Knecht gegangen war, von Einem zum Andern, wie wenn er nun erwarte, seine Gedanken von ihnen aussprechen zu hören: der junge Caumont blinkte ihm auch hinter des Vaters Rücken zu, als solle man Den mit nichts mehr behelligen, und sich später über das Weitere einigen! Vor einem solchen Allein mit den jungen Heißspornen warnte den vorsichtigen Rächer seiner Ehre denn doch ein geheimer Zweifel, wohin das führen könne, und so rief er laut: »Das Fuhrwerk stelle ich morgen!« – Seine Stimme hatte rauh geklungen, und sein Gesicht bekam nach und nach einen martialischen Ausdruck: undurchdringliche, schier grausame Züge vertieften sich um seine Mundwinkel – unbedingt wälzte er nun einen furchtbaren Vorsatz in sich herum.
Dufour willigte natürlich sofort darein, ihm die Gestellung des Fuhrwerks zu überlassen.
Doch Vater Caumont schüttelte, nachdem er Monsieur Patin von der Seite betrachtet hatte, bekümmert den Kopf; da er aber für jetzt, und besonders in Gegenwart der beiden jungen Männer, der Durchführung seiner Ansichten bezüglich des Ganzen nicht sicher zu sein glaubte, erhob er sich unter dem Vorwande – man könne doch auf sie aufmerksam werden, blickte noch eine Weile still in das Abendgold, das in breiten, hellrothen Wolkenstreifen über der eben untergegangenen Sonne flammte, und schlug dann den Rückweg über die Obstwiese ein. Ein Stück vor dem Scheunenthor blieb er nochmals stehen und sagte, die Unterredung gleichsam beschließend: »Die Nacht ist meist der Feind, doch auch der Freund des Menschen, sobald er ernstlich mit sich zu Rathe geht. Thun wir das Alle! Vor Niemandem sonst aber ein Wort darüber – jedes könnte unabsehbares Unheil über uns bringen. – Morgen in der Frühe komme ich zu Ihnen hinüber, Patin! Die Hoffnung ist nicht blos das Brod der Unglücklichen, auch derer, die das Rechte wollen.«
Als sich Aubri jenseits des Hofthores noch einmal von Monsieur Patin verabschiedete, raunte er ihm zu: »Der Alte mag sprechen, wir werden handeln!«
* * *
Der nächste Tag war einer jener schwermüthig machenden Tage, wie sie der Vorfrühling gleich dem Beginn des Herbstes zu bringen pflegt. Der Himmel blieb ganz umzogen, doch nur schleierleicht – nirgends unter wirkliche Wolken verborgen, so daß dann und wann Fleckchen Blau hervorlugten oder ein blasser Sonnenstrahl; die Luft ermattete durch ihre müde Weichheit, trotzdem auch stärkere Windstöße seufzend daherfuhren. Sie kamen aber aus Süden. Ein Amselpärchen schluchzte sich wohl etwas zu, sonst schien jeder Laut auf Feld und Flur erstorben; selbst die Strömung im Kanal zog lautloser hin – die schwere Luft trank jedes Geräusch auf.
So drang auch nichts von dem mit lebhaften Gestikulationen begleiteten Gespräche der vier Männer, welche die Ulmenallée am Kanal auf und nieder schritten, über den nächsten Umkreis hinaus – was übrigens gleichgültig gewesen wäre, weil kein Horcher zur Stelle war, da die Einquartierung draußen auf der Gemeindewiese ihrem jetzt bereits wie in der Garnison gehandhabten Dienste oblag. Nach stundenlangem Hin und Her schienen die Vier endlich einig geworden zu sein: vielleicht durch einen Compromiß! Besonders die beiden jungen Männer sahen nicht voll befriedigt aus – aber auch der greise Aelteste von ihnen verschwand unter Kopfschütteln und in lautem, über irgend etwas unzufriedenem Selbstgespräch hinter den drei Anderen in der Scheune.
Am Nachmittage hatte es sogar zu tröpfeln angefangen, klärte sich dann aber ein wenig, so fuhr Hauptmann Bramstedt wie beinahe täglich, heute jedoch erst um die Dinerstunde herum, nach Caulaincourt. Sein Bataillons-Commandeur lag dort auf dem Herzogsschlosse und hatte seine Capitäns – beileibe zu keiner Feier des Friedensschlusses, dazu war er viel zu sehr Soldat mit Haut und Haar! – aber doch zu einer Zusammenkunft eingeladen, um über die neue Lage der Dinge und allerlei gemeinsame heimathliche Interessen während eines leidlichen Diners und bei einem Glase »gesiegelten« Weines zu plaudern.
Bramstedt war Mittags durch einen Brief seiner Frau, begleitet von den ersten Krakelfüßen seines Aeltesten, die den Wunsch baldiger Heimkehr bedeuten sollten, wahrhaft gerührt worden; er blieb heute länger als sonst im Garten und fand dabei in einem sonnigen Winkel desselben neben einem Granatstück, das irgend Jemand wohl von Péronne mitgebracht haben mochte, ein ganzes Nestchen eben erblühter Veilchen. Natürlich wanderte die größere Hälfte davon mit seiner Antwort nach Hause – bis in's heilige Köln, die übrigen versuchten des Hauptmanns kleines Zimmer mit ihrem Dufte zu füllen, was ihnen auch bald gelang.
Ganz träumerisch, aber friedlich träumerisch war Bramstedt bei dem Briefe an die Seinigen, bei all den Gedanken von vielleicht baldigem Wiedersehen und nun erst beginnenden Jahren der Ruhe und fröhlicher Arbeit zu Muth geworden; und diese Stimmung verließ ihn auch unter den Kameraden nicht – bei deren Plänen und ihren gewagteren oder stillen Hoffnungen.
Von der Absicht eines derselben war er sogar tiefer berührt worden: der gedachte seine reiche Zulage während der Waffenstillstands-Wochen zu einer echten Ferienreise zu verwenden. Auf der Heimfahrt wollte diese Idee Bramstedt gar nicht mehr loslassen. Könnte er das nicht auch?
Wie gern hätte seine Frau schon längst einen Blick in die Schweiz gethan! Er rechnete und rechnete: mit einigem Zuschuß reichten die Gelder dazu! – Welche Ueberraschung für das geliebte Weib! Die Kleinen nähme Großmama auf die Wochen zu sich, nichts, nichts stand im Wege! –
Da hielt sein Wägelchen plötzlich. Bramstedt fuhr aus seinem glückseligen Sinnen auf; sah jedoch im ersten Augenblick nichts Besonderes. Die Chaussée lief hier ein wenig tief zwischen Hügeln hin, von denen einige mit Buschwerk bestanden waren – bei dem bezogenen Himmel war allerdings tiefe Nacht ringsum, doch die Laternen am Kutschergesäß brannten hell und beleuchteten ein ganzes Stück der Straße – scheinbar nirgends ein Hinderniß. So wollte er eben nach der Ursache des Aufenthaltes fragen, als sich der Kutscher, der aufgestanden war, langsam umkehrte und Bramstedt in ein wieder todtbleiches Gesicht sah, das er sofort erkannte. Unwillkürlich faßte er nach seinem Säbel; es schien jedenfalls ein seltsamer Wechsel, da er sich genau entsann, auf der Hinfahrt einen anderen Kutscher gehabt zu haben.
Monsieur Patin sah ihn an; dem Hauptmann kam es vor – wie damals, halb starr, halb voller Trauer, selbst Drohen. Dann begann derselbe: »Mein Capitän, Sie erkennen mich?«
Bramstedt nickte.
»Ich weiß es nicht,« fuhr er heiser fort, »aber ich denke mir, daß es bei Ihnen nicht anders ist als bei uns. Wenn Einer ein Unrecht begangen hat, oder sich nur übereilte, wenn Sie so meinen! dann gesteht er das zu. So bitte ich Sie, mein Capitän, auch mir zuzugestehen, daß Sie mich für meine kleine, wirklich ohne Absicht begangene – wie soll ich sagen? Dummheit zu hart gestraft haben!«
»Dazu wählten Sie diesen Ort? diese Zeit warum?« fragte Bramstedt, indem er sich umsah, ohne aber noch irgend Jemand zu erblicken.
»Ich wußte doch nicht, ob man mich vorgelassen hätte, wenn ich zu Ihnen gekommen wäre!« versetzte Monsieur Patin ruhig. »Aber ich bitte, seien Sie nun großherzig, fragen Sie nicht weiter! Es würde mir genügen, selbst wenn man mir – was bereits geschehen ist! – diese Ohrfeige von Neuem vorwürfe, daß ich, ich es dann wenigstens weiß, die Affaire sei erledigt, wie es zwischen honnetten Leuten Brauch ist!«
In seinen Augen lag ein so schmerzliches Flehen, er beugte sich bittend vor – Bramstedt drang es heiß zu Herzen, er reichte ihm die Hand und sagte schlicht: »Vergeben Sie! Ich war an jenem Tage in sehr gereizter Stimmung, Sie benahmen sich impertinenter, als Sie es wohl selbst wußten und wollten, so übereilte ich mich! Es that mir längst herzlich leid!«
»O, mein Capitän, wie danke ich Ihnen!« Damit preßte Herr Raoul wiederholt des Hauptmanns Hand, wandte sich kurz um und hieb auf die Pferde ein, daß sie erschrocken angaloppirten.
In diese jähe Abfahrt hatte irgend ein Laut hineingeklungen, wie ein zorniger Aufschrei, ein Fluch – Bramstedt blickte scharf nach der Seite zurück, wo das Gebüsch bis an den Chausséegraben hinabreichte, und meinte in dem eben verschwindenden Lichtstrahl, den die Laterne noch dorthin warf, drei Menschenköpfe zu unterscheiden, einen weißen darunter.
Er athmete ein wenig tiefer als sonst, dann rief er Monsieur Patin zu: »Was war das? Haben Sie nichts gehört? da drüben!«
»Nichts!« antwortete dieser, sich kaum umdrehend.
»Als hätte man auf der Lauer gelegen!«
»Vielleicht Franctireurs?« Ein feines Lächeln kam auf des Franzosen Lippen.
»Oder mein Leben stand auf meiner Zunge!« versetzte Bramstedt in schwerem Tone.
»Da stand es aber sicher, mein Capitän!« entgegnete Monsieur Patin rasch, indem er sich ihm voll zuwandte. »Wir Alle hatten von ihren Leuten gehört, daß Sie ein Ehrenmann wären!«
Zwei, drei neue Hiebe trafen die armen Rappen – in Lançaden jagten sie vorwärts. –
Weit früher als sonst kam Bramstedt heute in's Quartier zurück: süßer Veilchenduft quoll ihm schmeichelnd entgegen, die Heimath, all seine Lieben standen wieder vor ihm – – in dieser Erinnerung und in dem stillenden Gefühl, seiner würdig gehandelt zu haben, und das auch durch keine weitere Untersuchung des Ganzen auf's Spiel setzen zu wollen, fand er bald den Schlaf des Gerechten.