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Der Mutter Schuld.

Novelle.


I.

Auf Urlaub.

Sie gingen den gewohnten Weg vom Steindamm in Königsberg an den Kliniken und der Neuroßgärtner Kirche vorüber nach dem botanischen Garten. Im Schatten der hohen Bäume desselben, wo das Pflaster gar nicht mehr residenzlich, eher nach echter ostpreußischer Dorfart war, bat der Sohn wiederholt: »Ich fühle Deinen Arm nicht! stütze Dich fester.«

Frau von Gysenheim sah jedoch nur lächelnd zu ihrem großen Fähndrich auf, Beider Blicke sagten sich im Fluge ein paar stumme Zärtlichkeiten, ihres Armes Druck wurde aber nicht stärker, trotzdem ihr Gang hier auf den spitzen, unregelmäßigen Steinen beinahe noch beschwingter erschien, als vorher auf dem Fließentrottoir. So Mancher kehrte sich um und blickte dem auffallenden Paare nach: der schlanken, vornehmen Frau, welche scheinbar kaum die Mitte der dreißiger Jahre erreicht hatte, und der blühend frischen Jünglingsgestalt. Das ganz gleiche, goldschimmernde Haar ließ auf nächste Verwandtschaft schließen, doch rieth man nach erstem, flüchtigem Hinsehen eher auf Bruder und ältere Schwester, bis bei genauerer Prüfung eine gewisse stete Ehrfurcht im Benehmen des Jünglings auf das richtige Verhältniß, von Mutter und Sohn, führte. Die Mutter schien gelitten zu haben: ein etwas von Herbigkeit oder Schwermuth um ihren Mund wich nur, wie eben, Augenblicke lang, während des Sohnes Gesicht in Jugend-Schönheit und Glück wahrhaft strahlte, was ein Zug weicher Schwärmerei eher verstärkte als aufhob. –

Im Garten angekommen, wandten sie sich wie immer zuerst der linken Seite zu: hier standen die prächtigen Paulownias, deren Blätterfülle Frau von Gysenheim stets von neuem entzückte, und da blühte auch in langen Beeten Reseda, ihre Lieblingsblume. Eine Weile blieb hier Frau Valesca, auf des Sohnes Arm gestützt, auch heute stehen und athmete in vollen Zügen die an dieser geschützten Stelle doppelt linde und ganz in Wohlgeruch aufgelöste Luft ein. Beide schwiegen; erst als sich Frau von Gysenheim mit einem Seufzer von dem Plätzchen losriß, da eine Gruppe anderer, laut plaudernder Besucher näher kam, bemerkte sie zum Sohne, indem sie dabei den Weg einschlug, welcher nach der Allée alter Bäume führt, die mit dem Ausblick auf den Thurm der Roßgärtner Kirche schließt: »Also die nächsten Male muß ich nun allein hierher gehen! Das wird mir ganz wunderlich vorkommen. Ich glaube, in den zwei Jahren bin ich noch nie ohne Dich hier gewesen? Aber wie gönne ich Dir die kleine Erholung nach all den Strapazen! Ruhe Dich nur wirklich aus! nicht den ganzen Tag auf dem Pferde. Und sei mir vorsichtig! Der Papa liebt zwar die Bravourstückchen, denke aber an meine Sorge.«

»Gewiß!« erwiderte der Sohn leicht hin. »Und wenn Papa es nun auch gewünscht hat, daß ich endlich heimkomme, so wird er sich jetzt doch kaum so viel mit mir beschäftigen wie sonst. Die neue Frau Mutter soll ihn ja ganz« – –

»Nicht in diesem Tone, Bernhard!«

»O, Mama!«

»Du hast es mir versprochen!« erinnerte Frau von Gysenheim. »Der Papa ist so voller Güte, Du mußt ihm dort zu Gefallen leben! Denke auch immer daran, wie er für mich sorgt: wenn wir ihn kränken, oder nur ungehalten machen – es wäre sehr undankbar.«

Bernhard beugte sich auf die Hand der Mutter nieder und küßte sie: »Ich werde so vorsichtig als möglich sein!«

»Und das kann Dir doch nur leicht werden?« fuhr Frau Valesca fort. »Weil es das Natürliche ist!«

»Das Natürliche?« stieß Bernhard bitter heraus.

»Mein liebster Sohn«, beschwor die Mutter, »laß uns nicht in der letzten Stunde wieder an beinahe überwundenes Leid rühren! Der Papa hat von neuem geheirathet, es muß ihm ein Herzensbedürfniß gewesen sein: wir haben uns also nur zu fügen und das Geschehene still anzuerkennen! Das wollen wir auch nicht einmal widerwillig thun, in unveränderter Verehrung und Liebe für ihn.«

»Du vermagst das, ich – –«

»Du auch!« bat die Mutter. »Bedenke, wie empfindlich der Papa mitunter ist! ja, noch mehr, Bernhard, auch argwöhnisch. Wenn er etwa meinen sollte, daß ich irgend ein respektwidriges Betragen Deinerseits billigte oder gar hervorriefe, es würde mich tief schmerzen! Ich will gar nicht annehmen, daß sich dadurch selbst in unserem Verkehr etwas ändern könnte!« Sie sah in plötzlicher Angst zum Sohne auf.

»Was Dich gleich Alles beunruhigt!« eiferte Bernhard. »Ob ich dieser Frau von Gysenheim mit besonderer Rücksicht oder reservirt begegne, wie könnte das unsern Verkehr beeinflussen?«

»Du weißt, ich bin in Allem längst für den Frieden! Was ich besitze, kenne ich – und ob ich selbst durch Kämpfe noch Weiteres zu gewinnen vermöchte? Dagegen könnte sich wohl, wenn Du Papa erzürnst – –«

»Wie würde ich das über mich bringen!«

Die Mutter nickte. »Wir haben ihm nur zu gehorchen! ich kann Dir das nicht oft genug wiederholen. Auch war Meta Rheinberg zwar immer von einer gewissen Strenge, hatte nichts Entgegenkommendes, das will ich Dir gern zugeben, im Uebrigen stand sie aber in höchster Achtung. Sie ist eine gute Tochter gewesen, war stets sehr wirthlich und in Gesellschaften trotz ihrer Passivität angenehm. – Gehe mir zu Liebe wenigstens mit guten Vorsätzen hin! Dann sieht man das Ganze von Beginn an freundlicher an und macht dadurch selbst schon einen günstigen Eindruck! Es sind bloße drei Wochen! da Du die vierte doch von vorneherein für Deine Examenarbeiten bestimmt hast! Höre, Bernhard, ich glaube, ich würde mich sogar freuen, wenn Du auch die vierte fortbliebest? Fertig dürftest Du doch werden, und wenn ich Gysenheim noch richtig beurtheile, so wäre ihm das recht nach dem Herzen! Er hat Dich sehr lieb.«

»Ob jetzt noch?«

»Aber Kind!«

»Hast Du es nicht selbst erleben müssen, daß er in seinen Neigungen wechselt?« entfuhr es Bernhard unüberlegterweise.

Frau von Gysenheim erblaßte, gab aber keine Antwort, drückte nur mechanisch die tief hernieder hängenden Aeste einer Linde zur Seite, um den kleinen Steig zu gewinnen, welcher nach einem Baumgange, unterhalb der Anhöhe mit dem Wohnhause des Gartendirectors, hinaufführt. In diesem schattigen, dunklen Gange, der sich nach der gegenüberliegenden Seite öffnete, stand eine Bank, welche ihr stetes Ziel im Garten war. Doch heute setzte sie sich nicht, wenigstens nicht anfangs, sondern schritt den Gang langsam auf und nieder, nachdem sie den Sohn auf die Bank genöthigt hatte: dieser ließ sich dazu nicht bitten, da er von einer langen vormittäglichen Felddienstübung ermüdet war, und er außerdem in ihren Augen zu lesen glaubte, daß sie momentan nicht sprechen wolle.

Er war mit sich unzufrieden, wieder daran gerührt zu haben, was die Mutter immer traurig stimmte: und doch ging ihm, besonders nach der neuen Heirath des Vaters Mancherlei mehr als früher nach. Er wußte eben nur, daß die Ehe seiner Eltern aus gegenseitiger Abneigung gelöst war, der Mutter Aeußerungen über den Vater, wie umgekehrt dessen Fragen nach ihr erschienen aber so verschieden von Abneigung! konnte das bloße Maske ihm zu Gefallen sein, da er sie Beide liebte? Sie waren sonst so wahrhafte Naturen! für jede seiner Andeutungen oder Bitten nach näherer Auskunft hatten sie aber noch heute, wie auf Verabredung, immer nur ein Kopfschütteln!

Bernhard sah der Mutter nach, welche eben wieder an der Bank vorübergegangen war. Seine Blicke hafteten an der geliebten Gestalt: dabei bemerkte er aber auch die Goldwespe, welche unbeweglich in der Luft stand, bis sie auf einmal auf irgend ein Blüthchen in den Gräsern hinunterschoß. Oben auf der Höhe ging Jemand, und sein Schatten lief auf den sonnenbeschienenen Blättern des Fliederbusches hin, an welchem in all dem Grün ein großes trockenes Blatt hing. Mit dem ersten Duft der Lindenblüthe mischte sich noch der von Jasmin: eine Vogelstimme schluchzte irgendwo auf, fern herüber aus der Eisengießerei hallte Hammerschlag, und Schwalben schossen hin und her. Ihm wurde so träumerisch wohl, bald aber wehe zugleich: als besäße er Alles, sei ohne Wunsch, und doch auch wieder, wie wenn sein gesammtes Haben in Frage stände, das wonnige Jetzt nur ein Traum sei, ohne Halt, ohne Wirklichkeit.

Er sprang auf und ging der zurückkehrenden Mutter entgegen. Beide setzten sich auf die Bank und Frau Valesca sagte aus ihrem Sinnen heraus: »Es wird mich recht interessiren, wie Du Alles in Gysen finden wirst! Ob sich schon etwas verändert hat, ob noch die alten Leute dort sind? Grüße mir ja die Franken und Gottlieb! Du schreibst doch bald?«

»Zum Sonntage gewiß!«

»Wenn nichts Besonderes eintritt, werde ich aber nicht schreiben!«

»Nein, Mama! drei Wochen lang ohne Nachricht von Dir, das wäre – –«

»Ich schweige nur,« unterbrach die Mutter, »wenn es wie immer fortgeht! Doch was sollte mein Stillleben unterbrechen, da ich mich jetzt körperlich so wohl fühle! Laß mir meinen Willen! ich möchte weder Papa noch Meta direct an mich erinnern, und das geschähe durch einen Brief, wenn er auch an Dich gerichtet wäre!«

»Ich fange den Briefträger ab! Wenn Du mir den Tag bestimmst!«

Frau von Gysenheim hatte kopfschüttelnd über des Sohnes Hand gestrichen und wandte nun von Neuem ein: »Du achtest ja sonst meine Gründe! Da ist so Vieles unbestimmbar: wann ich schreibe, ob Du gerade zu Hause bist, wenn der Bote kommt, ob die Anderen nicht dabei sind! Außerdem schien mir schon die kleinste mißmuthige Aeußerung über meinen Brief demüthigend! Gerade daran könnte sich auch Unvorherzusehendes knüpfen? Bestehe nicht darauf! Passirt hier nichts von Bedeutung, wie wir hoffen wollen, so höre ich wohl von Dir, mich aber findest Du erst bei Deiner Rückkehr auf der Bahn, und dieses Wiedersehen rechnen wir natürlich nicht, da gibt es für die Woche noch einen Tag, wo wir alles Erlebte in Ruhe durchplaudern.«

»Wenn Du es durchaus so willst?« Die Mutter nickte wieder. »Uebrigens habe ich nicht blos Papa, auch Dir blindlings zu gehorchen!«

»Was Dir gewiß noch niemals zum Schaden gereicht hat?« fragte sie lächelnd.

»Wer weiß?« Auch Bernhard lächelte und fuhr fort: »Nun, wenn die Epaulettes nur erst da sind, dann kündige ich Euch selbstverständlich diesen unbedingten Gehorsam, vor Allem Papa! Und zuerst natürlich muß die Beschränkung fallen, Dich blos einmal in der Woche besuchen zu dürfen! Wie schwer ist es uns oft geworden, daran festzuhalten, nicht wahr?«

Die Mutter sah ihm dankbar in die Augen.

»Ach wäre das böse halbe Jahr herum!« rief Bernhard voll wahrhafter Sehnsucht. »Wie wollte ich aufleben und Dir erst zeigen, was Du an Deinem Jungen hast! Viel mehr müßtest Du jedenfalls in Gesellschaft! und ich werde so lange bitten, bis Du mich überall hin begleitest, will ich dann doch mit meiner Mutter Staat machen! O, ich hätte bereits allerlei Pläne! Die Tressen hängen aber wie Blei daran, nur Offizier erst!«

»Auch das wird kommen!« erwiderte Frau Valesca, »und uns dann über Alles schlüssig werden lassen, was zum beiderseitigen Besten dient. Wir wollen übrigens nicht zu viel erwarten! Ein wenig mehr Freiheit in unserem Verkehr dürfte sich aber von selbst ergeben und auch das wäre schon eine große Wohlthat!«

Die Thurmuhr gegenüber schlug langsam und klingend Sechs, die Stunde, in welcher der Garten geschlossen wurde. Mutter und Sohn erhoben sich: Beide blieben an der Durchsicht in der Mitte des Ganges noch stehen, und sahen schweigend zu den herrlichen Baumgruppen hinunter, zwischen denen die Warmhäuser der weißen und blauen Nymphäen lagen. Blendende Birkenstämme blinkten herüber, aus Birkenzweigen stieg die schlanke Thurmspitze empor: ein tiefer Waldesfriede lag über Allem und den störte es auch nicht, daß nun Gärtnerburschen mit Gießkannen hin und wieder gingen, die Räder von Karren im Kiese der Wege knirschten – es schien da hinein zu gehören, wie das Geschmetter der Finken. Frau von Gysenheim stand eine Weile, gleichsam geborgen und ohne weiteren Wunsch, an den Sohn geschmiegt da. Als sie dann zum Aufbruch mahnte, sah sie unwillkürlich auch noch einmal rückwärts zur Bank hinüber und grüßte mit stillem Abschiedsblick.


II.

In Gysen.

Der Schnellzug ging endlich langsamer und hielt dann ächzend und schnaufend in Braunsberg. Bernhard Gysenheim, der nach Art der Jugend sein Gepäck bereits neben sich geordnet und voll Erwartung im offenen Coupéefenster gelegen hatte – ohne übrigens den Vater auf dem Perron erblickt zu haben, sprang nun hastig hinaus, übergab seine Reisetasche nebst Mantel und dem Gepäckschein für den Koffer dem bekannten Stationsdiener, dem Einzigen, der seiner zu warten schien, und eilte auf die Rückseite der Station, um nach seinem Fuhrwerk auszuschauen. Da stand denn auch der Wagen, selbst Gottlieb saß auf dem Bock, doch zog der nicht wie früher mit dem halb cordialen, vergnügten Schmunzeln über dem ganzen ehrlichen Gesicht seine Mütze – er nahm nur den Tressenhut so steif als möglich ab und saß dann, sobald er sich wieder bedeckt hatte, die Peitsche querüber gehalten, ohne Bewegung wie eine gut geschnitzte Holzfigur da.

Ueber Bernhard's Züge lief ein Lächeln, doch fragte er den Alten nur: »Papa ist doch wohl?«

Gottlieb lüftete den Hut von Neuem (was früher stets ein- für allemal geschehen war) und antwortete kurz: »Zu Befehl, gnädiger Herr Junker!«

Der Stationsdiener kam mit dem Gepäck. Es erforderte bei Gottlieb's Umständlichkeit noch wie sonst, was Bernhard heute aber anheimelnd berührte, einige Zeit, bis der mächtige, mit einer Dachshaut bezogene Urväter-Koffer untergebracht war, dann fuhr man ab. Auf der Chaussée ging es in schlankem Trabe vorwärts, so fing Bernhard kein Gespräch an, bewunderte nur im Stillen, wie kerzengerade jetzt Gottlieb sitzen konnte, während früher schon eine bedenkliche Krümmung seines Rückens hervorgetreten war.

Als man in den sandigen Landweg einbog (der später in die große Straße nach Gysen mündete), und die Pferde nach Gewohnheit von selbst in Schritt fielen, sagte Bernhard: »Gottlieb, mir scheint, Du bist jünger geworden? oder macht das der statiöse neue Hut?«

Der Angeredete hatte denselben wieder abgenommen, durch sein graues Haar fuhr der Wind – Bernhard befahl hastig, daß er nun endlich bedeckt bleiben möge, und fragte wie beiläufig: »Das hat jetzt der Papa so angeordnet?«

Das runzelige Gesicht Gottlieb's verzog sich ein wenig, um den Mund trat selbst ein pfiffiger Zug hervor, ehe er behaglich breit erwiderte: »Ja, Herr Junker, der gnädige Herr haben es freilich befohlen, aber es ist nicht aus ihm gekommen!« Er sah sich dann erst um und dämpfte beim Fortfahren selbst noch die Stimme, trotzdem weit und breit kein menschliches Wesen in der Nähe schien, nur Getreidefelder hin und herwogten: »Die Frau Baronin haben das von Korbitten mitgebracht! Da sind sie immer so fromm und hoch hinaus gewesen.« Nach einer Pause, indem er bei seines Junkers unverändertem Wesen wohl Courage gewonnen hatte, setzte er noch hinzu: »Sie wissen es nun schon Alle, was sie an der gnädigen Frau Mutter verloren haben! Keiner im Dorf getraut sich mehr recht auf's Schloß, was die Ordentlichen sind! Die Schloßsuppe schmeckt vergallt, wenn es die Frau Baronin auch gewiß gut meint! Man blos das Geratz läuft noch und läßt sich vorpredigen, es schert sich eben den Teufel darum! Die Frau Mutter haben mit lachendem Munde gegeben, niemals nicht vermahnt und einem Zettelchen in die Hand gedrückt, wo von Buße- und Höllenstrafen zu lesen ist. Ja, ja! Herren und Heilige bringen es weit.«

»Meine Mutter läßt Dich übrigens grüßen! Recht freundlich soll ich grüßen!« richtete Bernhard nun seinen Auftrag aus.

»Dank' schön, Herr Junker!« rief Gottlieb erfreut, indem er trotz des Verbotes am Hute rückte: »Nach meinem Denken muß es der gnädigen Frau Mutter auch in Königsberg gut gehen. Sie verdienen das!«

»Sie ist jetzt wieder frisch und wohlauf!« entgegnete Bernhard, »und so geht es ja!« Dann verstummte er und sah nach der dunkeln Linie hinüber, in welcher eben der väterliche Forst seitwärts von Hügeln auftauchte: der Alte merkte sofort, daß sein Junker jetzt »für sich« sein wollte und es mit dem Sprechen zu Ende sei, so schnalzte er kräftig mit der Zunge, zog die Leine straffer, die sandige Strecke lag auch schon hinter ihnen, und die Schimmel setzten sich mit lautem Wiehern in Trab. –

Daheim wartete der Vater bereits auf der Freitreppe, und seine Begrüßung des Sohnes war ebenso herzlich und warm wie immer. Die neue Mutter entschuldigte er vor der Hand, da sich dieselbe stets persönlich bei der Austheilung des Essens an Leute und Arme betheilige. Bernhard nickte, war er darüber doch schon hinreichend auf der Herfahrt unterrichtet worden. – Selbst bis in sein Thurmzimmer hinauf brachte ihn der Vater, nahm unterwegs auch die Grüße, welche ihm Bernhard's Regiments-Commandeur und andere Bekannte durch den Sohn übermitteln ließen, in Empfang, sonst aber wurde von nichts Besonderem gesprochen, der Vater empfahl nur schließlich, als er ging – bei etwaigem Toilettenwechsel, Eile, da die Suppe jetzt pünktlich um Eins aufgetragen würde, wie auch die übrigen Essensstunden auf die Minute geregelte seien. »Was mir zu einer großen Wohlthat geworden,« schloß er, »Regelmäßigkeit ist einmal das halbe Leben.« Dabei verabschiedete er sich mit einem Winke der Hand.

Bernhard war bei den einfachen Worten erröthet: gleich einer Kränkung hatte er sie empfunden – und doch mußte ihm ein unbefangenes Nachdenken sagen, daß sie der Vater sicherlich nicht in solcher Absicht gesprochen habe. Unter seiner Mutter war es eben in dieser Beziehung, weil sie bei ihrer Lebendigkeit und bei ihren vielen künstlerischen Interessen auf alles Leibliche wenig Werth legte, oft genial unregelmäßig zugegangen, und das hatte sich auch während der Jahre, in welchen der Vater allein wirthschaftete, als etwas Gewohntes fortgeschleppt. – Nach einem unwillkürlichen Blick ins Freie und der leisen Selbstbeschwichtigung: »Nur Ruhe! Dergleichen wird öfters vorkommen!« trat Bernhard auf den kleinen Balkon des Zimmers hinaus und athmete ein paarmal tief auf. Seit er hier nicht mehr gewohnt hatte, bei seinen Besuchen in den letzten Jahren hatte er Zimmer in der Nähe der väterlichen inne gehabt, war auch die frühere Aussichtsseite ganz zugewachsen: ringsum die grünen Wände der Linden, nur nach der Terrasse hinüber war der Blick frei.

Als Bernhard wieder zurücktreten wollte, sah er, wie die »Neue« aus dem Gartensaal kam und auf das Rondel von Rosen zuschritt: er blieb an den Pfeiler gedrückt stehen und folgte der ein wenig massigen, sonst aber wohlproportionirten Gestalt mit den Blicken. Frau Meta hatte ein Körbchen in der Hand, in welchem eine Scheere lag; am Rondel angelangt, musterte sie erst genau die einzelnen Stöcke, bevor sie, augenscheinlich mit Schonung jeder Knospe, hier und da eine überblühte Rose schnitt. Das Körbchen füllte sich ja auch! aber wie anders hatte es sich unter seiner Mutter vornehmen Händen gefüllt! Damals wurden blos die schönsten Blumen gewürdigt, und ob dabei einige Knospen mitzuwelken hatten, wie gleichgültig! –

Nicht unzierlich, nur ein wenig pedantisch in einer mit Wasser gefüllten Schale geordnet, sah Bernhard die Rosen später auf der Tafel wieder.

Seine Mutter stellte Blumen niemals in Wasser! legte sie einfach um sich her und ersetzte sie am nächsten Morgen durch frische.

In den Gedanken stand Bernhard am Fenster des Eßzimmers, als Frau Meta mit dem Vater zugleich hereintrat; sie hatte sich in der Küche erhitzt, sah daher angenehm belebt aus. Mit gewinnender Freundlichkeit reichte sie dem Stiefsohne die Hand und sagte: »Wir sind Dir sehr dankbar, daß Du unsern Wunsch, Dich einmal bei uns zu sehen, so bald erfüllt hast!«

Bernhard küßte nur, sich verbeugend, ihre Fingerspitzen, dann ging man zu Tische: er war im Begriff, sich zu setzen, als er den Vater die Hände auf der Stuhllehne kreuzen, das Haupt neigen und still beten sah, Frau Meta natürlich gleichfalls, so that er befangen dasselbe. Alles so anders! –

Nachdem Frau Meta als letzte ihr Gebet beendigt hatte, Bernhard kam es sogar vor, unter einer Schlußverbeugung, und der Diener, ein fremdes Gesicht, nicht sympathisch, glattrasirt und froschäugig, den Deckel von der Suppenterrine gehoben, bemerkte sie, wohl in Gedanken an ihr Tischgebet anknüpfend: »Da Du jetzt in Königsberg stehst, gönnst Du Dir gewiß oft die Freude, unseren verehrten Consistorialrath zu hören? Was gäbe man drum, sich von ihm sonntäglich erbauen zu lassen!«

»Welchen Consistorialrath meinst Du?« fragte Bernhard, der zwar ahnte, von wem die Rede sei, den ihr ein wenig salbungsvolles Wesen jedoch zum Widerspruch reizte.

»Gäbe es dort mehrere Kanzelredner, wie Doctor Schmidt?« entgegnete sie mit leicht gehobener Stimme.

»Ach, Donner-Schmidt!« rief Bernhard nun wie belustigt.

Der Löffel schwankte in Frau Meta's Händen, ein empörter Blick nach Mann und Diener hinüber, welcher letztere die Augen gottselig zum Himmel aufschlug, dann fragte sie in vibrirendem Tone: »Verkehrst Du denn auch in Studentenkreisen? Von denen habe ich allerdings hören müssen, daß sie sich dergleichen erlauben!«

Bernhard's Uebermuth regte sich noch stärker. »Ich verkehre allerdings auch mit einzelnen Studenten!« versicherte er mit einer Bewegung, als bedauere er sich deshalb selbst, »doch von denen habe ich Donner-Schmidt – Frau Meta zuckte schmerzlich zusammen – niemals nennen hören! Sie gehen nie, und wir nur auf Commando in die Kirche! Dieser berühmte, oder vielmehr jetzt, um seiner ewigen Schilderungen von Tod und Hölle willen, berüchtigte Consistorialrath heißt in der Stadt allgemein – –«

»Ich bitte!« unterbrach Frau Meta. »Jean, etwas Graham-Brod!«

Als der Diener mit einer Verbeugung das Zimmer verlassen hatte, fuhr sie, theils zum Manne, theils zu Bernhard gewendet fort: »In dieser Beziehung muß ich wirklich von vornherein höchste Schonung fordern! Selbst unsere Leute sind an solche, mild gesagt, Brüskerien durchaus nicht gewöhnt, und wir möchten um nichts – der Papa ist sicherlich mit mir einverstanden? – die Herzenszartheit der Leute verletzen. Sie haben das feinste Ohr dafür, ich kenne das aus meinem Elternhause! Solche Themata, in ihrer Gegenwart behandelt, wurden dort zu einer förmlichen kleinen Erbauungsstunde.« Man hörte eine Thür schließen. »Und nun nichts mehr darüber!«

Der Vater, welcher sich nur einmal durch einen mißbilligenden Blick und eine Art von Ungeduld an dem Gespräche betheiligt hatte, fragte nun, nachdem er seine Suppe rasch wie immer gegessen: »Du kannst also volle drei Wochen hier bleiben?«

Der Sohn bejahte.

»Sehr hübsch vom alten Berken,« meinte Baron Gysenheim voller Befriedigung, »Dir jetzt vor den Manövres so viel Urlaub gegeben zu haben! Ich rechnete auf Tage!«

»Er dachte wohl noch an etwaige Examensarbeiten!« erläuterte Bernhard. »Und ich will hier auch in den Morgenstunden Vielerlei recapituliren.«

»Dafür ist das Thurmzimmer allerdings wie geschaffen!« sagte Frau Meta zum Gatten. »Ich wollte Dich eigentlich, für uns Alle bequemer,« wandte sie sich dann an Bernhard, »drüben im Seitenflügel unterbringen.«

»Die altgewohnten. Zimmer sind mir doch lieber!« erwiderte dieser, »ich habe auch früher stets da logirt, schon als Knabe! Wie oft saßen wir auf dem Balkon ganze Abende lang zusammen!« fuhr er zum Vater hinübersehend fort. Dann hielt er inne. Frau Meta's Züge waren ernst geworden, des Vaters Stirn hatte sich gefurcht. Auch ein so natürlicher Gedanke schien also schon verpönt? Wann fiel ihm seine Kindheit aber nicht ein? Wie gern sprach er von ihr und hatte es sonst doch auch bei jeder Gelegenheit gethan. Wenn er das jetzt nicht mehr dürfte, davor auf der Hut sein müßte! Und warum? Selbst seine Mutter hätte hier gerade ein doppeltes Angedenken verdient! Wie unvergleichlich schön war es hier zu ihren Zeiten gewesen! Hätte das selbst der Vater leugnen können? Nein! Nun, jedenfalls wollte er kein unrechtes Wort über sie ertragen, und müßte er wieder »brüsk« sein.

Mit zerstreutem Lächeln sah er auf ein gegenüberhängendes Bild, das dort früher auch nicht gehangen hatte: den Christus von Carlo Dolce, der das Brod bricht.

Trotzdem das Mittagessen gar nicht lange dauerte, da es auch ein Gericht weniger als sonst gab, erschien es Bernhard beinahe endlos: kein Gespräch wollte sich mehr entwickeln, immer von Neuem entstanden Pausen, in denen er wohl absichtlich mit dem Glase an einen Teller klirrte, um nur die Stille zu unterbrechen. Schon jetzt bereute er fast, um Urlaub eingekommen zu sein; wenn sich nicht Vieles änderte, und wie sollte das eigentlich geschehen! konnte jede dieser Mahlzeiten zu einer wahren Pein werden. Und er fühlte es deutlich, von der »Neuen« ging das aus: eine Eisluft! Jede seiner Bewegungen schien nun beobachtet, Alles kritisirt zu werden – und nicht mit Wohlwollen! Selbst in ihren Ansprachen, wenn sie auch noch so verbindlich klangen, empfand sich ein verborgener Stachel. Wo hatte der Papa die Augen gehabt, diese an Stelle seiner Mutter zu setzen? Nicht ein Zug schien ihnen gemeinsam! – Und sogar nach Tische wieder ein Gebet! Es war zum Verzweifeln! –

Natürlich hielt diese Verzweiflung nicht Stand: die Jugend verzweifelt ja so leicht und gleichsam mit Enthusiasmus, ohne im Grunde schon tiefer getroffen zu sein. Bernhard machte nachmittags einen langen Ritt, kam müde und gleichgültiger gestimmt nach Hause, das abermalige Tischgebet war schon nichts Unerwartetes mehr, und die nun folgenden Plauderstunden, meistens mit dem Vater allein, bei einer guten Cigarre und Bier vom Eis auf der lauschigen Gartenterrasse sänftigte alle Herbheit, und er schlief darauf bis weit in den Sonntagsmorgen den köstlichen Schlaf seiner neunzehn Jahre. –

Der Sonntag brachte für den Nachmittag großen Besuch: fast wider Willen mußte sich Bernhard gestehen, daß Frau Meta eine vortreffliche Wirthin mache, zwar immer conventionell, ohne irgend welche hervortretende Herzlichkeit, aber vornehm, dabei aufmerksam – und wie lief Alles in einem zwar unsichtbaren, aber doch festgefügten Ringe! Da fehlte nicht an einem Gedeck das geringste, bei der Bedienung wurde Niemand übersehen, stumme Winke mit den Augen genügten, die Maschinerie in stetem Gange zu erhalten. So war es früher nicht gewesen! Und doch viel, viel schöner! weil man in den Augen der Hausfrau selbst die Freude am Ganzen gesehen, oder auf ihren Lippen das schalkhaft um Vergebung bittende Lächeln, wenn Dies und Das warten ließ, oder ein Löffel einmal für Messer und Gabel einzutreten hatte. –

Nach dem Feste kamen jedoch wieder die Alltage: nichts Aeußeres trat mehr heran, in und um sich sollte man die Wärme finden, welche das echte Behagen schafft. Da fand sich Bernhard bald nur auf sich angewiesen: der Vater mußte bequemer geworden sein, er begleitete ihn blos ausnahmsweise auf seinen Ritten, und geschah es, so inspizirte er irgendwo, nahm wohl auch einen der Inspektoren mit. Frau Meta hatte aber, ohne übrigens die Verletzte zu spielen, wohl noch immer an jenem ersten Tischgespräche zu tragen: sie vermied es, mit ihm allein zu sein, und bevorzugte fortan als Unterhaltungsstoffe nur die gleichgültigsten Dinge. Ueber Ereignisse in der Umgegend, über das Wetter oder die Erträge, welche die einzelnen Vorwerke von Woche zu Woche hoffen ließen, ging das gemeinschaftliche Gespräch selten hinaus. Das empfand Bernhard als ein Darben: sein Frohsinn, die sonst so ungetrübte Laune wie sein gelegentlich grüblerischer Ernst konnten sich nicht ausgeben, während er daheim die Mutter hatte, welche mit ihm ernst oder heiter war. Hier dabei noch dieses fortdauernde auf sich achten Müssen, diese ewige Zurückhaltung! selbst der Vater war nun so eigenthümlich, wie scheu im Ausdruck seiner Liebe ihm gegenüber! Ah! er war hier wirklich überflüssig, oder wohl mehr als das – störend! der Sohn des Hauses! Und der Mutter davon zu schreiben, vermochte er auch nicht: es mußte getragen werden! Erst später, Auge in Auge, durfte Alles vom Herzen, jetzt würde es sie nur quälen und ängstigen: also Mann bleiben, mit sich allein fertig werden!

Trotz dieses Vorsatzes, den er selbst im Verkehr mit dem Vater und Frau Meta festzuhalten suchte, um sich nach und nach, wenigstens äußerlich, so kühl wie diese zu geben, lief ihm doch mitunter das Gefühl sammt all seinen Vorsätzen davon, und er schmiegte sich mit zärtlichen Worten oder einem Kusse wie ein großes Kind an den Vater. War es ihm doch zuweilen, als thäte er ungeachtet alles Drückenden, das man ihm auferlegt hatte, ein Unrecht, und er müsse sich die alte väterliche Zuneigung wieder erzwingen.

Dergleichen immerhin seltene Ausbrüche hatte der Vater bisher durch irgend eine freundliche Erwiderung zu stillen gewußt, oder doch in sanfter Weise darüber fortgeführt; als Bernhard aber eines Abends besonders erregt schien, und plötzlich, nachdem Frau Meta aufgebrochen war, mit einem gewissen Vorwurf zu ihm sagte: »Du hast in den langen acht Tagen noch nicht ein einziges Mal nach Mama gefragt? Sonst durfte ich immer von ihr sprechen!« da entgegnete der Vater in gereizter Weise: »Du bist doch noch ein ganzer Kindskopf! und ich glaube, nur die nervöse Art Deiner Mutter ist daran Schuld. Laß mich es nicht bedauern, die Erlaubniß gegeben zu haben, daß Ihr Euch so häufig seht!«

»Häufig?« wiederholte Bernhard bestürzt. »Dieser eine Tag in der Woche?«

»Ist noch viel zu viel!« Mit mehr Ruhe setzte der Vater hinzu. »Und nun ein für allemal: seit ich mich wieder verheirathet habe, jeder Andere als Du hätte das übrigens von selbst eingesehen und solche unliebsame Erörterung gar nicht veranlaßt! seitdem halte ich es für strikte Pflicht meinerseits, nicht einem Hauche der Sentimentalitäten von früher nachzugeben. Das ist doch das wenigste, womit ich die Treue und Liebe meiner Frau lohnen kann, an welcher kein Makel ist, deren Ziele vielleicht nur allzu hohe sind!«

»Du betonst so eigen? an wem sonst wäre ein Makel?«

Baron Gysenheim fuhr auf, beherrschte sich aber und sagte nur wie mit leisem Hohne: »Möchtest Du denn durchaus der Zeit vorgreifen? Darüber solltest Du einmal mit Deiner Mutter sprechen!«

Die Augen Bernhards öffneten sich. »Wie meinst Du das?«

»Ich meine,« erwiderte der Baron sich erhebend, »daß es Zeit ist, schlafen zu gehen.«

»Liebster Papa!« bat Bernhard, indem er seine Hand ergriff, als müsse er ihn aufhalten. Doch kein weiteres Wort kam über seine Lippen: das Lächeln des Vaters schien noch voll Hohnes! welche Antwort würde er geben? Mißgestimmt war er heute, darum wohl ungerecht? O, nichts herausfordern, was seine Mutter zwar gewiß nicht herabsetzen, irgend einen Fehl ihrerseits aber schonungsloser, als es sonst zu guter Stunde geschehen wäre, aufdecken konnte!

Des Vaters Züge wurden weicher, sogar eine leichte Rührung schien über sie hinzugehen, standen Bernhards Gedanken doch ganz offen in seinem erregten Gesichte: namentlich der Wunsch zu fragen und dabei die Furcht vor der Antwort. Baron Gysenheim drückte des Sohnes Hand und schied dann mit den in Güte gesprochenen Worten: »Gedulde Dich nur! Wenn die Epaulettes da sind, ist es so wie so aus verschiedenen, besonders gesellschaftlichen Gründen, an der Zeit, daß Du in Allem, was das Vergangene betrifft, klar siehst. Die Stunde wird eher gekommen sein, als es uns Beiden vielleicht lieb ist: ich denke nicht gern daran, weil sie mir all die Demüthigung von einst wieder nahe bringen muß. Doch es ist dann wohl nothwendig, und die Noth ist ein eisernes Hemd! Bis dahin achte aber meine Wünsche! keinesfalls würde ich es etwa zugeben, daß Du Deine Mutter öfter siehst! Dieses Versprechen von Euch halte ich, ohne daran deuteln zu lassen, aufrecht; glaube mir, und soweit kennst Du mich auch? – ich thue nichts ohne Ueberlegung. Sei und bleibe mein braver, gehorsamer Sohn, dann werden wir uns mit der Zeit Alle in einander finden; und wo jetzt noch natürlicherweise Ansprüche auf Erinnerungen stoßen, da achtet man sich endlich gegenseitig und es kommt zu dem Frieden, den ich, Gott sei Dank! schon jetzt mein eigen nenne!«

Bernhard blieb noch eine ganze Weile auf der Terrasse, dann stieg er fröstelnd die Treppen zu seinem Thurmzimmer hinauf. Zum erstenmal hatte der Vater auf Schweres hingedeutet, das damals die Trennung der Eltern herbeigeführt habe, und als träfe das mehr die Mutter? sein Theuerstes auf der Welt! Was konnte es aber gewesen sein? Ah! die Gedanken quälten und marterten, und vermochten doch nichts Anderes aufzufinden, als das alte, das sie längst wußten, bloße Abneigung! –

Hatte ihm aber Unzufriedenheit und stetes Mißempfinden bis jetzt schon keine Arbeitsmuße gelassen, nun vermochte ihn überhaupt nichts mehr zu fesseln. So ruhe- und stimmungslos verging Tag an Tag, bis ihn das tiefe Gefühl überkam, erst daheim, wenn er die Mutter gesprochen hätte, würde er sich wiederfinden. Es drängte ihn wahrhaft fort. Doch der Vater wollte seine Andeutungen anfangs durchaus nicht verstehen, schien es beinahe kränkend für sich wie für seine Gattin zu halten, daß sie es ihm daheim nicht so behaglich machen konnten, um ihn wenigstens zur Innehaltung der einmal festgesetzten Zeit zu bewegen. – Als Bernhard jedoch ernstlicher seine Arbeiten vorschützte, zufällig auch ein Bekannter aus der Nachbarschaft nach Königsberg zurückging, willigten die Eltern, Frau Meta war dabei gütig auf des Sohnes Seite getreten, in die frühere Abreise, und Bernhard verließ sein schönes Gysen, wie es noch niemals geschehen war, mit heimlicher Freude.

Da ihn der Bekannte selbst abholte, war natürlich auch der Abschied frei von jeder, bei Baron Gysenheim überdies nun so verpönter, Sentimentalität: man schied lachend und mit dem nicht von Allen gleich ernstlich gemeinten Wunsche: »Auf baldiges Wiedersehen!«


III.

Enthüllungen.

Frau Valesca Gysenheim war von einem Ausfluge nach Louisenwahl in ihrer gewöhnlichen schwermüthigen Stimmung heimgekehrt: ja, sie schien noch resignirter, als sonst – der Sohn fehlte ihr eben überall. Wenn sie ihn auch nur den einen Abend wöchentlich besaß, für diesen Abend, das fühlte sie jetzt deutlich, hatte sie unbewußt die übrigen Tage der Woche gelebt, Alles dafür zusammengetragen, wie auch empfangen, was ihrem einsamen Dasein noch Reiz gab. –

Die beiden Briefe, welche ihr bis jetzt zugegangen waren, hatten ihr zwar zu denken gegeben, aber nicht in erfreulicher Weise, trotz des heitern Tones, der darin angeschlagen war: das Mutterherz glaubte zwischen den Zeilen mancherlei schwer Ertragenes zu finden, und hatte nun ein wahrhaftes Verlangen, dies und jenes aufgeklärt zu hören. Sollte er ihren Wunsch erfüllen und die vier Wochen fortbleiben, so würde sie doch kaum widerstehen können, dazwischen einmal zu schreiben? Freilich mußte der Gedanke, gerade solch' ein Fragebrief möchte in Bernhard vielleicht irgend welche bisher nur unsympathische Empfindungen tiefer aufregen, und dadurch gerade eine Katastrophe hervorrufen, dieser beängstigende Gedanke mußte lähmend auf jeden Entschluß wirken. – So denn thatlos weiter, wie immer, wie in allen Dingen! Das war einmal ihr Loos, seit sie gemeint hatte – – auch ein Herz haben zu dürfen.

Sobald sie diese Erinnerung überkam, und wie oft geschah das! wurde ihre Stimmung seltsamerweise stets eine leichtere, steigerte sich häufig sogar bis zu einer gewissen Ekstase, als blicke sie ohne Schuld, ohne Reue in das Glück selbst zurück. – So ging sie auch jetzt in lebhafterem Schritte, den Kopf erhoben, ihr Zimmer auf und nieder – als plötzlich die Klingel gezogen wurde.

Frau Valesca fuhr mit der Hand nach dem Herzen; wäre Bernhard nicht in Gysen gewesen, hätte sie aus der Art des Klingelns einzig auf ihn geschlossen. Wer hatte aber diesen selben kurzen, so gleichsam übermüthigen Zug, wie ihr Sohn?

Voller Spannung öffnete sie die Thür – ein leiser Aufschrei, dann umschlossen sie ein Paar Arme und trugen sie halb in's Zimmer.

»Muttchen! Goldenes Muttchen!« »Mein Herzenssohn!« in solchen Ausrufen bestand anfangs die ganze Unterhaltung, und dabei blickten sie sich immer wieder an, mit einem Forschen, mit einer verschwiegenen Sorge, als lägen nicht zwölf Tage, nein, so viel Jahre zwischen ihrem Abschied und Wiedersehen. –

Nachdem man sich endlich gesetzt, und Frau Valesca dem nun von einer Besorgung zurückgekehrten Mädchen einige Befehle für das Abendessen gegeben hatte, bat sie in ihrer schmeichelnden Art und Weise: »Und nun erzähle! Aber wie sonst, schön von Anfang an.«

Bernhard, von dem Alles, was ihm eben kaum noch erträglich gewesen, sobald er Gysen im Rücken hatte, gleichsam abgestreift war, und der sich jetzt in der Mutter Nähe wieder ganz so frei und beschwingt wie sonst fühlte – vermochte darum, ohne übrigens in Extreme zu fallen, halb scherzend von seinen Nöthen zu berichten.

Frau von Gysenheim lachte oft herzlich mit, oder begleitete die geschilderten Empfindungen des Sohnes wenigstens durch ein zustimmendes Mienenspiel. In der ersten Stunde und noch während des Essens war es daher, als sei nirgend etwas aus der Tiefe aufgetaucht. –

Als Bernhard aber von Neuem seine Sophaecke eingenommen hatte und mit den Blicken der Mutter folgte, welche die Ordnung auf dem Büffet wieder herstellte, stieg, von einem Nichts angeregt – sie grüßte mit den Rosen, welche er ihr gebracht, zu ihm hinüber – plötzlich der Gedanke wieder auf, der ihn von Gysen fortgetrieben hatte. Was war damals geschehen? Trotz des drohenden Ernstes seines Vaters – Alles mußte auf Täuschung beruhen! Diese Lieblichkeit, diese Anmuth, wie konnte darauf eine Schuld liegen? Der Vater aber hatte gesagt: Darüber solltest Du einmal mit ihr sprechen! Doch jetzt? In der Freude, im Dank für das Wiedersehen! So voll Glückes war sie, war er – es hatte nun Zeit: das nächste Mal! –

Wie es schon bei Bernhard's Abreise bestimmt war (die Mutter hatte noch den Grund dazu erdacht, daß sie sich in der vorigen Woche nicht gesehen!), fand diese nächste Zusammenkunft bereits am zweiten Tage darauf statt. –

Bernhard hatte sich nach längerem, innerlichem Widerstreit, ob er für jetzt nicht ganz schweigen, oder die Lösung einem scheinbaren Zufall überlassen sollte, dennoch entschlossen, schon heute auf sein Gespräch mit dem Vater zu kommen. Als er nämlich wieder allein, nicht mehr in der Mutter Bann gewesen war, hatte er dies Zögern wie eine Feigheit empfunden (das Niedrigste, das er sich vorstellen konnte!) und so trat er an dem bestimmten Freitage mit einem an ihm ungewohnten Ernst in die sonst nur voll zärtlichsten Glücksgefühls betretenen Räume.

Die Mutter bemerkte diesen fremden Zug sofort und fragte gleich, nachdem die erste Begrüßung vorüber war, nach dem Grunde desselben, da sie nur an irgend eine dienstliche Unannehmlichkeit dachte.

Trotzdem sich Bernhard ganz als Mann hatte benehmen wollen, wurde er bei der Mutter theilnehmenden Worten doch vorerst so hülflos roth, als wäre er im Begriffe, ein Unrecht zu thun, bis er mit ein wenig gewaltsamer Energie antwortete: »Ich muß nun doch die eigentliche Ursache wissen, die Euch getrennt hat! Der Papa hat mich an Dich gewiesen.«

»Gysenheim?« fiel Frau Valesca sehr betroffen ein, »wie kamt Ihr darauf?«

Ihre Augen hatten auf einmal den starren Blick, der ihnen einen Glanz gab, so grell wie unheimlich, und der Bernhard immer auf's tiefste erschreckt hatte. Jetzt sah er nur zu Boden und erwiderte: »Es war schon über eine Woche vergangen und Papa hatte niemals nach Dir gefragt! Das kränkte mich so, daß ich ihn eines Abends, als wir noch allein unten blieben, gewissermaßen zur Rede stellte. Er wurde gleich heftig, ein Wort gab das andere, bis er mich – in einer Art von Hohn schien es mir – an Dich wies. Und Mama,« fuhr er beschwörend fort, »ich bin kein Kind mehr, wenn Ihr es auch meint! Es kann nur zum Guten sein, wenn ich weiß, wie Alles liegt: das wird mir erst Ruhe geben, die nöthige Sicherheit, besonders für Gysen. Als ich jetzt dort war, kam es mir immer vor, als sei ein Dunkel um mich, zwischen den Anderen und mir; sie waren die Wissenden, ich einer, der unsicher hintappte. Das gerade verbitterte mir den Aufenthalt: in alles Uebrige hätte ich mich gefunden. Sei lieb und gütig! Ich will mit Dir tragen! Du bist mir das schuldig. Und ist es nicht selbst richtiger, weniger herbe, es von Dir zu erfahren, in Deinem Sinne es auffassen zu dürfen, als wenn es mir Papa, der uns nun doch entfremdet worden ist, in seiner jetzt so kalten, nichtachtenden Weise sagte?«

Frau von Gysenheim hatte sich äußerlich gefaßt und erwiderte anfangs sogar in spielendem Tone, obgleich jeder minder Betheiligte als Bernhard ihre innere Angst hätte durchfühlen müssen: »Also darum diese richterliche Miene? um die alten Geschichten! Ich hatte mich so auf den Abend gefreut: willst Du mir nun wirklich die Qual auferlegen, gerade dieses Jahr mit seinem unsäglichen Leid neben freilich ebenso unvergeßlichem Glück von Neuem durchzuleben? Du bist doch noch unbedacht, gar jung! An dergleichen erinnert sonst nur die Nothwendigkeit! eine solche kann ich aber nicht zugeben. Nach Gysen kommst Du vor dem Spätherbst sicherlich nicht mehr, wozu also jetzt schon die Aufregungen?«

Dieser ablehnenden Haltung gegenüber begann Bernhard wieder schwankend zu werden, ob er noch weiter in die Mutter dringen dürfe. Ihre schlichte Frage nach dem Warum gerade in diesem Augenblick verwirrte ihn; darauf fand er keine rechte Antwort. Die langen Jahre hindurch war an solche Aufklärung nicht gedacht worden, weshalb verlangte es ihn heute darnach? Er wußte wohl, das war noch eine Rückwirkung der Tage in Gysen; da die Mutter aber Recht hatte, er vor seinem Offizierwerden kaum mehr dorthin kam, dann jedoch so wie so Alles erfahren sollte, warum die Mutter noch durch etwas beunruhigen, was sie ersichtlich peinigte? Schien es doch sogar, als sähe sie wieder leidender aus!

Und Frau Valesca verfolgte ihren Vortheil, indem sie mehr bittend fortfuhr: »Nicht wahr, wir lassen es für heute ruhen? Es wäre mir eben lieber! Wolltest Du aber durchaus nicht warten, ich bin ja auch bereit, eher zu sprechen. Da der Papa es mir einmal zugewiesen hat, möchte ich nun selbst darauf bestehen: nur heute nicht! Nicht so unvorbereitet. Wenn auch Alles einfach liegt und mir längst jeder Zug, wie es gekommen ist, und gerade so kommen mußte, klar vor der Seele steht – Du wirst begreifen, daß es dennoch einer Mutter nicht leicht wird, dem Sohne gegenüber so Manches zu entschleiern, was sonst der Jugend noch wohlthätig verhüllt zu bleiben pflegt.«

»Wohlthätig verhüllt?« wiederholte Bernhard erblassend, doch nur wie für sich.

So beendigte die Mutter das Gespräch mit den Worten: »Sei es denn! Wenn es Dich wirklich, wie Du vorher sagtest, beruhigen kann, so wollen wir am Mittwoch wieder einmal in den botanischen Garten gehen, und dort auf unserem stillen Plätzchen will ich Dir erzählen, wie es gekommen ist, daß mein Leben so früh in Kummer und Leid unterging.«

Der Sohn küßte ihre Hand, als wollte er damit stumm an sich erinnern, der ihr doch geblieben sei, sie drückte ihm auch einen Kuß auf die Stirn und versuchte wieder zu lächeln, aber die rechte Freudigkeit an einander, das ganze harmlose einstige Glück wollte sich für heute nicht mehr einstellen. Selbst Pausen entstanden, für nichts, was auch berührt wurde, machte sich ein volles Interesse geltend; Frau von Gysenheim spielte weit mehr als sonst, und weher – leidenschaftlicher, lauter Chopin und Schumann. Schließlich brach Bernhard, ohne Widerspruch zu finden, sogar eher als gewöhnlich auf.

Er war jedoch nicht unzufrieden mit sich; die Mutter hatte nun versprochen, seine Forderung zu erfüllen, empfände er dann aber, daß es ihr allzu schwer würde, so konnte er immer noch Cavalier sein und auf nichts bestehen. –

Als er in die Tragheimer Kirchenstraße einbog, in welcher er wohnte, sah er seinen Putzer vor der Hausthür augenscheinlich auf Jemand, wohl auf ihn selbst, warten. Bei seiner Erregtheit rieth er auf alles Mögliche, Dienstbefehle, irgend ein Unglück, nur auf das rechte kam er nicht: der Putzer, sobald er ihn erblickt hatte, lief ihm entgegen und meldete schon von weitem: »Der Herr Vater warten! Sie sind schon ä mal da gewesen, und nu eben wieder gekommen.«

»Warum haben Sie mich nicht gerufen?« fragte Bernhard, seine Schritte beschleunigend.

»Der gnädige Herr haben es nicht gewollt! Sie haben blos gefragt, wo der Herr Fähnrich sind?«

Während Beide die Treppe erstiegen, meinte der biedere Kisstatis noch halb für sich, halb für das Ohr des Herrn bestimmt: »Was der Gnädige ist, Sie gefallen mir heute nicht! wenn mein Olscher so roth aus dem Krug' heim gekommen ist, hat's Feuer im Kathen gegeben!«

»Welche Freude –!« rief Bernhard schon beim Eintritt; dann stockte er jedoch vor dem zornigen Aussehen des Vaters, der auch keine Bewegung machte, die ihm gebotene Hand anzunehmen, sondern mit unterdrückter Heftigkeit und mit einem Blick auf die Thür des Nebenzimmers sagte: »Sind wir allein?«

»Gewiß!« versetzte Bernhard, indem er rasch auf die Thür zuging.

»Schicke Deinen Burschen nach der Kaserne!« befahl der Vater weiter, »wir brauchen keinen Lauscher!«

Als Bernhard wieder hereinkam, hatte sich der Vater gesetzt und wies ihm schweigend ebenfalls einen Stuhl sich gegenüber an, während er fortfuhr, auf den Tisch zu trommeln. Das beruhige seine Nerven, behauptete er wohl, obgleich stets eher das Gegentheil eintrat.

»Ich komme von Berken!« begann er in anscheinender Gelassenheit, verschärfte bei Bernhard's Bestürzung aber sofort die Stimme: »Du hattest vier Wochen Urlaub!«

»Liebster Papa – –«

»Keine neue Lüge!« unterbrach dieser schneidend, »wäre ich das noch, säßen wir jetzt in Gysen!«

»Ich habe wissentlich noch nie gelogen!« bemühte sich Bernhard fest zu erwidern. »Du hast mich nicht genauer gefragt, so verschwieg ich die letzten acht Tage, um wirklich noch einmal in Ruhe Alles durchgehen zu können« –

»Komm mir nicht wieder mit den Examenarbeiten!« fiel Baron Gysenheim ein. »Du hast zu Hause nichts gethan und würdest hier wahrscheinlich ebenso wenig gethan haben. Berken hat mich versichert, Du hättest das beste Tentamen gemacht, also wirst Du wohl das Nöthige zur Hand haben, um auch dieses leichte Examen zu bestehen. Somit Vorwand, weiter nichts!« Als Bernhard zu sprechen Miene machte, setzte der Vater in derselben kurzen Weise hinzu: »Rege mich nicht durch Verantwortung auf! Ich will Dir meinetwegen zugeben, daß Du anfangs in gutem Glauben gehandelt hast, in Gysen wurden aber die Gründe, welche Dich forttrieben, andere! da gab das Examen nur noch den gefälligen Deckmantel ab. Leugne das, wenn Du kannst!«

Des Vaters Augen drohten, die Adern an seinen Schläfen schwollen an, Bernhard sah schuldbewußt zu Boden.

»Ich wußte es!« brach der Vater los. »Was ich aber nicht weiß, nun jedoch wissen will und muß, das ist der Antheil, welchen Deine Mutter an dem Ganzen hat!«

»Meine Mutter?«

»Leider ist es Deine Mutter!«

»Papa!«

In den Augen des Sohnes lag ein so wehrloses Weh, daß es selbst den Vater bewegte, und er weniger hart fortfuhr: »Hast Du mit ihr gesprochen? Ueber das Jahr 70, meine ich?«

»Ja!«

»Und was hat sie Dir gesagt?«

»Noch nichts« – –

Baron Gysenheim lachte verächtlich auf.

»Sie will es aber das nächste Mal!«

»Dann ein demnächstiges Mal und so in infinitum fort!« unterbrach der Vater. »Wann fehlte es Weibern jemals an Gründen, etwas hinauszuschieben oder nicht zu thun? Dazu ist jetzt aber keine Zeit mehr! meine Frau hatte nur zu sehr Recht, als sie mich zu der Reise hierher bestimmte! insgesammt wird uns eine Klärung der Verhältnisse zum Besten dienen. Vor Allem Dir! Der Einfluß, ich möchte nun sogar mit Meta sagen, der unheilvolle Einfluß Deiner Mutter muß erst gebrochen werden, ehe Dir das Vaterhaus, in das Du einzig gehörst, wieder lieb werden kann.«

»Du irrst, Papa, ich schwöre es Dir zu!« entgegnete Bernhard in schmerzlichster Erregung: »Wenn Mama von Euch gesprochen hat, so war das nichts als das Beste! Sie verehrt Dich noch wie immer, ist voll Dankbarkeit und hat mich, bevor ich zu Euch ging, aufs rührendste beschworen, Euch nie einen Anlaß zur Klage zu geben! Hätte sie noch mehr thun können, als daß sie nicht ein einziges Mal an mich geschrieben hat? und nur aus dem Grunde, nicht in unerwünschter Weise an sich zu erinnern!«

»Sie ist stets eine kluge Frau gewesen!« grollte Baron Gysenheim.

»Das kannst Du klug nennen?« rief der Sohn, »nur klug? Ihr edles, reines Herz – –«

»Genug der Phrasen!« versetzte der Vater wieder mit erhöhter Stimme. »Wir kommen nicht von der Stelle, ehe Du nicht die Geschichte dieses edlen Herzens kennst. Vorher noch Eins! Hattest Du sie nach Deiner Rückkehr bis heute nicht gesehen?«

»Wir haben uns am Tage, als ich kam,« erwiderte Bernhard gepreßt, »allerdings gesehen; da jedoch die Woche vorher ausgefallen war, meinte auch Mama –«

»Ich dachte es mir!« fiel der Baron ein. »So war es immer! Für Alles, was sie plötzlich reizte, ob wir auch eben übereingekommen waren, es zu unterlassen, fand sie eine Entschuldigung und flog dann in gewohnter Anmuth und Lieblichkeit davon, zum Entzücken aller Welt, nur zu dem meinigen nicht! Als hätte ich es geahnt! wie in Kleinigkeiten, so im Großen! Darum sah ich bei meiner neuen Wahl auch nicht mehr auf diese trügerische Anmuth, nur auf Ehrbarkeit und Sitte, daß ich die Bürgschaft habe, es gehe in meinem Hause fortan in Ehren zu.«

Eine Pause entstand. Bernhard blickte athemlos auf den Vater: nun war der Augenblick da! Was würde er hören? Konnte es wirklich etwas Unentschuldbares sein? Des Vaters Züge hatten sich nicht gemildert: es war eher, als würde es selbst ihm nicht leicht, davon zu sprechen, wie wenn er noch immer überlegte! – Endlich mußte er zum Entschluß gekommen sein; er lehnte sich in's Sopha zurück, ganz in den Schatten, und begann, zwar mit gewaltsamer Beherrschung, die Sätze aber wie abgebrochen herausstoßend: »Unser Landrath war krank geworden und auf ein paar Monate in's Bad gegangen: ihn vertrat ein Assessor, Holten hieß der Bube, Norbert Holten. Er war mir gleich zuwider; ein Stadtmensch, geziert, weichlich – die Weiber waren aber wohl anderer Meinung. Er begann uns bald öfter und öfter zu besuchen, ohne daß ich übrigens eine besondere Annäherung an Valesca bemerkt hätte! im Gegentheil, er heuchelte auf das geschickteste ein Interesse für meine Wirthschaft und fuhr und ritt darum viel mit mir aus. – Sie waren eben Beide gewiegte Schauspieler, ich in meiner Geradheit ihnen durchaus nicht gewachsen. – Da hatte Valesca auf einmal das Verlangen, ihre Mutter wiederzusehen, kurz vor der Zeit, wo unser Landrath heimkehren mußte: auch das erschien mir nicht auffällig, da Ihr ja fast Jahr für Jahr bei der Großmutter waret! Freilich wartete sie jetzt Deine Ferien nicht ab, wofür sie aber irgend einen Grund gefunden hatte! So reiste sie: bis zum letzten Augenblick heiter und voll Liebenswürdigkeit. Wir hatten Dich ja noch in Braunsberg an den Bahnhof bestellt! – Dann erhielt ich aber einen Brief von ihr, der Allerlei andeutete, bald einen zweiten, der ganz klar war; ich eilte nach Danzig – nur die Mutter empfing mich; schließlich des Anderen wegen, daß ich Den nicht vor die Pistole forderte, auch sie. Doch keine Einzelheiten weiter, eine Scheidungsklage war das Ende! Sie hatte, wie gesagt, darum gebettelt! mein Stolz, die Verachtung halfen mit, vor der Welt blieb der Grund unserer Trennung – bloßer Widerwille, und das Schicksal sanctionirte die Lüge! Holten, der mit in den Krieg mußte, blieb in einem der ersten Gefechte, während die Klage noch im Gange war.«

Auf Bernhard's Gesicht hatten Röthe mit Blässe gewechselt: der Vater sah nur still auf ihn und schloß dann in schlichterer, darum jedoch um so rührenderer Weise: »Ja, Bernhard, wir Beide sind wenig geliebt worden! und von der, für die ich Alles gethan hatte, was in meiner Macht gestanden, an welcher Du von jeher gehangen hattest, wie an Niemandem sonst. Sie hat uns mit einem Lächeln für diesen Elenden hingegeben! Freilich als er dann todt war, und auch die Großmutter starb, da wäre sie vielleicht wieder zu uns gekommen; sie zog deshalb wohl auch nach Königsberg.«

»Sei barmherzig, Papa!« schrie Bernhard auf. »Das ist undenkbar.«

»Es mag auch nur Deinetwegen geschehen sein!« entgegnete der Vater lässig. »Obwohl, wenn Noth an die Thür klopft, immer Vieles denkbar wird – ich bestreite noch heute ihren ganzen Unterhalt.«

»Nicht von der Großmutter Vermögen?«

»Die hat beinahe nichts hinterlassen!«

Bernhard sprang auf, blieb aber mitten im Zimmer stehen; ihm war es, als ersticke er, keine Luft, kein Athem.

Das vermochte seine Mutter anzunehmen? Darum ihr ewiges Flehen, den Vater zu schonen! Nicht aus Liebe, aus nackter Selbstsucht? Und wie hatten sich seine Gedanken an Dem schon vergangen? an diesem Vater!

Er stürzte zu ihm, küßte seine Hand und schluchzte: »Vergib mir! O, Papa! mein armer, lieber Papa!«

Gysenheim strich ihm über das Haar und versetzte nach einer Weile: »Wenn ich einmal sprach, mußte ich Alles sagen! Nimm das aber nicht schwerer, als es ist. Deine Mutter war von jeher ein Blumenleben gewöhnt, und solche Treibhausblume bedarf ja stets der Pflege von Anderen, sie kann nicht für sich sorgen. So fasse ich es auf, und nicht anders wirst Du es auffassen, wenn Du reifer geworden bist! Das Bitterste bleibt immer, daß sie uns verlassen konnte: und mein Gerechtigkeitsgefühl ertrug es darum nicht mehr, wie Du auf meine Frau, deren ganzes Streben dahin geht, gut zu machen, was an mir verbrochen worden ist, herabsahst, jene dagegen überall erhobst, anbetetest! Das hat sie nicht um uns verdient, o, nein! Die ersten Jahre darnach – – ich kann sie ihr nie vergeben! Nun aber genug, Bernhard!« Er richtete ihn mit sanfter Gewalt auf. »Mein geliebter Sohn, noch einmal, nichts schwerer nehmen als es ist! Du wirst zu überwinden haben, wer hat aber nicht zu überwinden? denke immer au mich! Das Leben verlangt Männer, nicht Schwärmer: zudem weißt Du nun wieder, wo Dein Platz ist, der für Dich offen steht, heute wie morgen! Das brauche ich Dir aber nicht erst zu sagen! – Ueberlege! vielleicht möchtest Du den übrigen Theil des Urlaubes nun doch in Gysen zubringen? Ich soll Dich selbst in Metas Namen herzlich einladen! Du weißt jetzt auch, worin sie zu schonen ist, es gäbe also für uns Alle freundliche Wochen!«

Bernhard, der über ein Zittern seines ganzen Körpers noch nicht Herr geworden war, dankte in einer Art, welche eher ein Schauder schien, als eine bloße Ablehnung.

Gysenheim's Züge verfinsterten sich, und er sagte, während er sich erhob, wieder mit der früheren Strenge: »Erinnere Dich stets, daß es nun an der Zeit ist, die Knabenmanieren abzustreifen! Ich kann und möchte Dich auch nicht zu etwas zwingen, was immerhin seine Bedenken hat, vielleicht findest Du Dich gerade allein eher zurecht? Nach Gefallen! Es bedarf jedoch nur einer Zeile, so ist das Fuhrwerk an der Bahn. – Noch eins! über den Bruch Eures Wortes will ich diesmal hinwegsehen, fordere nun aber, daß Du Deine Mutter in der nächsten Woche nicht aufsuchst! nach acht Tagen dürftet Ihr Euch gefaßter wieder sehen. Uebrigens schreibe ich ihr wohl noch selbst von dieser Anordnung! Reizt mich nicht durch Widerstand, ich lasse einmal nicht von Dir und müßte ich Deine Versetzung betreiben, um Dich ihrem Einfluß zu entziehen! – Hast Du noch etwas zu fragen? es ist spät geworden, ich will aufbrechen.«

Für heute hatte Bernhard keine weitere Frage, so nahm er stumm Gurt und Mütze, um den Vater nach dem Hotel zu begleiten. Auch auf dem Wege sprachen sie wenig mehr, verabredeten nur, daß Bernhard ihn am nächsten Morgen zur Bahn abhole, dann schieden sie.


IV.

Mutter und Sohn.

Noch während Frau Valesca nach ihrer Gewohnheit die Chocolade im Bette trank, reichte das Mädchen einen Brief herein. Er kam von Gysen: ein flüchtiger Blick auf die Adresse hatte das gezeigt, so legte sie ihn unerbrochen auf das Nachttischchen. Von Gysen kam jetzt selten Erfreuliches, das Frühstück wenigstens sollte in Ruhe genossen werden, bevor ihre Nerven erregt würden. Endlich öffnete sie mit einem Lächeln, das wohl dem Siegel galt, welches nun das Alliance-Wappen der Gysenheims und Rheinbergs zeigte, den Brief. In beinahe freudiger Ueberraschung las sie den Beginn desselben: daß Bernhard durch den Vater von Allem unterrichtet worden war, nahm ihr etwas vom Herzen, was sie bedrückt hatte.

Gysenheim war eine zu vornehme Natur, um mehr als das Nöthige gesagt zu haben, und das hätte auch von ihr gesagt werden müssen! Dunkel, und dabei drohend wollte ihr aber der Schluß des Briefes erscheinen, der sie zum ersten Mal daran mahnte, wie der Sohn einzig in's Vaterhaus gehöre, das ihn sich nicht nehmen lasse, und wie sie mithin zu meiden habe, was ihn davon abwenden könnte, wenn sie wünsche, daß Alles in der jetzigen Weise fortdaure. Worauf bezog sich das? etwa auf ein sonstiges Aufhören oder doch auf eine Verkürzung ihrer Einnahmen? Von Gysenheim kam ein solcher Gedanke nicht! dem hatte dergleichen stets völlig fern gelegen. Dahinter verbarg sich die Rheinberg!

Mit einem Gefunkel in den Augen, welches bewies, daß in Frau Valesca auch noch andere Kräfte thätig waren, als für gewöhnlich zu Tage traten, blickte sie, auf einen Ellbogen gestützt, bewegungslos nach dem nur vom Store verhüllten Fenster hinüber. Das war der erste klar erkennbare Schlag, den die »Neue« gegen sie führte, kein Zweifel! Wie viel aber mußte da schon vorangegangen, welcher Einfluß auf Gysenheim gewonnen sein! Nie und nimmer hätte sich Der früher zu einem solchen Schritte verstanden! Und sie war in seiner Hand: wohin sie auch gedacht hatte, um diese Bande zu lockern, nichts war eingetroffen, es blieb der Fluch ihres Lebens, in solcher tiefsten Abhängigkeit ausdauern zu müssen. Wenigstens so lange, bis Bernhard frei wurde, und die Sorge für sie übernähme! Aber wie viel Jahre konnten darüber noch hingehen, wenn nicht ein besonders glücklicher oder – – unglücklicher Zufall dazwischen träte! War darauf zu hoffen? Schlug für sie nicht Alles zum Unglück aus? Norbert, Norbert! – Sie warf sich in die Kissen zurück und barg das Gesicht in denselben.

Nach einer Weile schien sie gefaßter und erhob sich auch endlich. Während sie mit Hülfe ihrer Josephe die Morgentoilette beendigte, schweiften die Gedanken von dem Eingange des Briefes, den sie nochmals gelesen hatte, auch zum Sohne hinüber. Gysenheim hatte mit keinem Worte den Eindruck berührt, den seine Eröffnung auf diesen gemacht. So war es wohl kaum ein stärkerer gewesen! Irgend etwas Aehnliches hatte sich Bernhard nun gewiß auch schon gedacht, und war ihr wohl nur dankbar, daß Alles so einfach lag, ohne jede eigentliche Schuld. Die Jugend ist großmüthig und hat immer ein Herz für Leiden des Herzens: das bleibt ja ihr schönes Vorrecht! Zum Guten war es wohl sogar? er schon reif genug, ihr ein Freund sein zu können? Wie hatte sie daran getragen, den entbehren zu müssen! und das schon seit der Mutter Tode, zwei lange Jahre! Er würde sie verstehen? seinem Zartsinn brauchte sie nur Andeutungen zu geben. O, es könnte ein Segen, ein Wohlthun ohne Grenzen sein! Und schon heute? Sicherlich! Was sollte ihn vom Kommen abhalten? Die neue Woche hatte begonnen, sie durften sich wieder sehen, und es mußte ihn ja darnach verlangen, ihr zu sagen, wie sehr er sie und ihr Verhängniß beklage! –

Aber der Sonntag ging hin, der halbe Montag, Bernhard kam nicht, hatte ihr nicht einmal, wie bei viel gleichgültigeren Anlässen, geschrieben. Erst wollte sie zürnen, ihrem Stolze nicht das Geringste vergeben und abwarten, bis es ihn von selbst zu ihr triebe; als es dann jedoch wieder Abend geworden war, und sie immer umsonst von Fenster zu Fenster irrte, er weder hier noch dort um die Ecke bog, da vermochte sie ihrer Natur nach nicht länger Widerstand zu leisten und sandte das Mädchen mit ein paar im Fluge hingeworfenen Zeilen nach des Sohnes Wohnung.

In fieberhafter Erwartung stand sie am Fenster und meinte ihn nun jeden Augenblick irgendwo auftauchen zu sehen, viel früher schon, als das überhaupt möglich gewesen wäre. Wie es dann immer länger währte, nicht die Josephe, nicht er selbst kam, diese ihn also suchen gegangen war, glaubte sie deutlich zu fühlen, wenn sie sich nicht aufraffe, könne sie wieder in jenen Zustand fallen, der sie nach Norberts Tode so lange gequält hatte: dieses Gehämmer und Klopfen des Herzens, als thäte es immer seinen letzten Schlag! Gewaltsam bezwang sie sich und versuchte, in einen Sessel geschmiegt, an Anderes zu denken: wenn ihr das auch nicht gelang, so verfiel sie doch in eine Art von erstarrender Ruhe und blos das Ohr lauschte auf jedes Geräusch. Endlich ging die Flurthür: aber nur die Schritte des Mädchens! wo blieb er?

Ein Billet hatte er geschrieben: wohl erst nach längerem Bedenken, meinte Josephe, darum ihr Ausbleiben! –

Mit Zittern nahm es die Mutter und trat damit in die Fensternische. Es war kurz: enthielt beinahe nur die Frage, ob der Papa ihr nicht geschrieben hätte, daß er ihm verboten habe, vor nächster Woche zu ihr zu gehen? Das hätte der Papa wenigstens vorgehabt!

Frau Valesca schüttelte, wie als Antwort, den Kopf: Gysenheim mußte es vergessen haben. Oder galt diese Bewegung etwas Anderem? eine so einfache Anrede wie »Liebe Mama!« und den noch kargeren Schluß »Dein Bernhard« hatte ihr zärtlicher Sohn, der sich in Schmeichelworten nie genug thun konnte, noch niemals gebraucht! Und das auf ihre sehnsüchtig flehenden Zeilen!

Sie setzte sich wieder und sann und sann, ohne Aufhören. Es war dann fast Mitternacht geworden, ehe sie sich in einer Erschöpfung, welche ihr erst jetzt ganz zum Bewußtsein kam, zu Bette bringen ließ.

Der Morgen fand sie bei weitem frischer, selbst auch gleichmüthiger: als sie aber im Verfolg eines Gespräches mit Josephe von dieser nachträglich erfuhr, daß sie Bernhard gar nicht gesprochen habe, der Bursche sogar etwas gesagt hätte, als müsse es seinem Herrn nicht gut sein – da fiel sie wieder in ihre alte Ruhelosigkeit, und es erschien ihr ebenso unerträglich, auf eine Aussprache bis in die nächste Woche hinein zu warten, als diese schriftlich anzuregen. So befestigte sich der Entschluß in ihr mehr und mehr, selbst zu dem Sohne zu gehen und es unter diesen Umständen auf einen neuen Wortbruch ankommen zu lassen: der mußte und würde verziehen werden, war Bernhard wirklich krank geworden. Am Mittag zögerte sie zwar noch einmal, Gysenheim konnte jetzt so hart sein! dann gab sie aber jeden weiteren Kampf auf, und trat zu Bernhards Erschrecken plötzlich bei ihm ein.

Schon aus der Art seines Erschreckens, in der ebenso Schmerz wie eine gewisse Furcht, ja Grauen lag, noch deutlicher aber an dem ganz veränderten Wesen des Sohnes erkannte Frau Valesca, daß es hier viel mehr zu überwinden gab, als sie angenommen. O, hätte sie damals dem Winke des Schicksals gehorcht und selbst von Allem gesprochen! Doch ihre Macht konnte ja noch nicht verloren, er nur durch zu herbe Darstellung des Geschehenen befangen sein.

Sie ergriff seine Hände und zog ihn neben sich auf das Sopha nieder, während sie in vorwurfsvoller Weise sagte: »Mein armer Sohn, was ist Dir angethan worden! – – Aber wie siehst Du aus?« fragte sie dann, ihn starr anblickend. »Du bist ernstlich krank? Um Gotteswillen! Und warum hast Du es mich nicht früher wissen lassen?«

»Ich bin nicht krank!« antwortete Bernhard, »wenigstens nicht, wie Du es meinst.«

»So weißt Du es selbst nicht!« rief die Mutter, »Deine Hände fiebern, um die Augen« – –

»Laß das!« fiel er müde ein, »glaube mir, es bedeutet nichts! Ich habe ein paar Nächte wenig geschlafen, das ist alles.«

»Um meinetwillen?« forschte sie mit Anstrengung.

»Um Deinetwillen!« Er sah sie dabei an, daß ihr sein Blick unerträglich wurde, und sie die Augen niederschlug. Doch nur einen Moment lang; dann begann sie von Neuem: »So Schweres hat er von mir gesagt?«

»Sehr Schweres!« wiederholte er leise.

»Weil Du es nun wie er siehst!« fuhr Frau von Gysenheim auf. »Hätte ich ahnen können, daß er jetzt schon daran rühren würde, ich hätte neulich meinen Widerwillen zu sprechen bezwungen und es wäre besser für Dich wie für mich gewesen! Du hast gelitten, ich aber nicht weniger. Und um was? Um die paar einzigen Stunden des Glücks, die mir im Leben geworden sind.«

»Mama!«

»Du wirst mir glauben, Bernhard? Dein Vater ist ja ein Ehrenmann durch und durch, ich will Dir Alles zugeben, ich habe ihn aber nie geliebt, nie lieben können. Wir waren Kinder von Nachbarsgütern; es paßte den Eltern, ihrer alten Freundschaft durch unsere Heirath ein noch festeres Band zuzufügen, unsere Herzen waren frei, weder er noch ich hatten einen rechten Grund zu widersprechen, so wurden wir ein Paar wie tausend andere. Es ging auch – viele Jahre: in mir schwieg es, ich sah wenig neue Gesichter, beinahe nur die bekannten von immerher! Dann kam aber der Mann, bei dessen erstem Anblick ich gleichsam erwachte, der urplötzlich Alles, was in mir geschlummert hatte, sich regen, leben hieß! Da gibt es keinen Widerstand, Du wirst es auch einmal erleben.«

»Wenn ich es erlebe,« fiel Bernhard finster ein, »so habe ich ein Recht dazu. Du aber, die Frau des besten Mannes, eine Mutter – wenn wir uns das Alle erlauben wollten« – –

»Die Eine muß es,« unterbrach sie ihn heftig, »nicht ihr Eid, nicht einmal das Kind vermag sie zurückzuhalten; Andere sind stärker oder schwächer, indolenter, was weiß ich! Ich ertrug es einmal nicht, gerade in dem, was mir immer als Höchstes erschien, zu heucheln, und ich bin noch stolz darauf! Sobald ich damals zum Bewußtsein kam, daß ich liebte, war mir eine weitere eheliche Fessel undenkbar, jedes Unrecht werfe ich auf das Schicksal!«

Bernhard sah in's Leere, während seine Hand die Seitenlehne des Sophas umklammerte. Mit höchster Ueberwindung und beinahe tonlos fragte er: »Auf das Schicksal wirfst Du es auch, daß Du von ihm erhalten wirst?«

Sie zuckte zusammen, dann erwiderte sie in derselben gereizten Art: »Gewiß verschuldet mein unglückseliges Geschick auch das! Kann ich dafür, daß meine Mutter unser Vermögen aufbrauchte, daß Norbert fiel? Leben muß ich doch!«

»In jenem bist Du stolz gewesen und hierin« –

»Meinst Du, ich litte nicht darunter?« unterbrach sie ihn leidenschaftlich. »Zu der Zeit, wenn das Geld wieder kommt, vermag ich es noch heute kaum zu berühren! Dann vergißt es sich freilich wieder, zu helfen ist mir ja nicht.«

»Es hätte doch wohl Stellungen gegeben, gäbe es jeden Augenblick« – –

»Stellungen?« wiederholte sie mit grenzenlosem Erstaunen. »Sollte ich etwa um Lohn dienen? Ich? Im Reichthum bin ich aufgewachsen! Niemals hat auch Jemand diesen Anspruch an mich gemacht, und Du könntest das? Oder verstehen wir uns nicht?«

»Wir verstehen uns wohl!« versetzte der Sohn.

»Uebrigens,« entschuldigte Frau Valesca nun, »hat Gysenheim es meiner Mutter auf dem Sterbebette versprochen! ich war ganz unbetheiligt dabei. Was bedeuten auch solche paar tausend Mark für die Einkünfte von Gysen! Es ist ja nur das Nothwendigste! Du hast doch stets gesehen, wie ich mich einschränke! Mit Noth und Mühe erspare ich in jedem zweiten Jahre die Reise nach Metz, und gäbe doch Alles darum, könnte ich Jahr für Jahr gehen!«

»So warst Du im Mai gar nicht in Berlin?«

Sie verneinte. »Da reise ich nur durch! Bisher konnte ich Dir doch nicht die Wahrheit sagen? Er liegt in Gorze! und es ist mein letztes Glück, an seinem Grabe knieen zu dürfen. O mein Sohn, Holten war ein Mann, mit Keinem zu vergleichen! Wie hat er anfangs gegen das Verhängniß angekämpft! vielleicht trage ich die ganze Verantwortung. Erst als er fühlen mußte, wie es auch um mich stand, da trat er zu mir. Gönne mir diese Liebe, sie ist außer der Deinigen Alles, was mir geblieben ist.«

Bernhard erhob sich langsam: es war wie ein Schwindel über ihn gekommen. Selbst heute noch so wenig Stolz, so wenig Feingefühl, so gar keine Reue über das Geschehene, daß sie das Gedächtniß an diesen Mann höher in Ehren halten konnte als die eigene Ehre! Für das Gold des verlassenen Mannes eilte sie zum Grabe dieses Buben: so war des Vaters Ausdruck gewesen, der ja Recht hatte, entsetzlich Recht! Und halfen da noch Bitten oder Vorstellungen, wie er sie sich vorgenommen hatte? Standen sie nicht wie auf anderen Ufern? und so weit ab, daß keine Stimme hinübertrug. Auch ihre Liebe zu ihm konnte nur schwach sein! dem in Gorze gehörte wohl Alles. Dennoch ließ es nicht von ihm und trieb ihn an, noch einen Versuch zu machen, als wäre er sich und ihr das schuldig. So bat er in hastenden Worten: »Ueberlegen wir zusammen, Mama, wie es zu ändern wäre! So kann es nicht fortgehen: darum die Nichtachtung des Vaters, der Rheinberg, wenn nur an Dich erinnert wurde! Das, was Du einst zu thun vermochtest, muß ja als Unabänderliches hingenommen werden, die Schmach aber, von meines Vaters Gaben zu leben – –«

»Bernhard!«

»Ja, Mama! Könntest Du wirklich anders empfinden? Papa hat mich reich gestellt, ich will mich nun aber auf's äußerste behelfen, mir nichts mehr als das Nothwendige gestatten – wie meine ärmeren Kameraden leben! so könnte ich Dir doch über die Hälfte Deines jetzigen Einkommens zur Verfügung stellen! Mir sollte es eine Freude ohne Gleichen sein, ich würde auch nicht ermatten. Und wie viele Frauen haben noch bei weitem weniger

»Es bliebe im Grunde dasselbe und außerdem« –

»Nicht dasselbe!« unterbrach er. »Die Einkünfte von Neu-Gysen gehören mir doch schon allein! Niemand hat da mehr dreinzusprechen. Ob Papa es ahnen würde, woher Du –«

»Das sind Phantastereien, Bernhard!« entgegnete die Mutter ablehnend. »Einmal würde ich unter Deinen Entbehrungen noch schwerer leiden – –«

»Es wären keine!«

»Mit der Zeit würdest Du sie als solche empfinden. Und ferner wüßte ich wirklich nicht, worin ich mich noch einschränken könnte!«

»Wenn diese Reise unterbliebe – –«

»Um nichts! sie gehört nun zu meinem Leben, das Jahr, wo sie bevorsteht, ist für mich ein – –« sie verstummte bei Bernhard's Geberde des Entsetzens.

Nach einer Weile, er war ans Fenster getreten und drückte die Stirn gegen die Scheiben, legte ihm die Mutter die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich weiß jetzt, was Du nicht hören darfst, Du kennst meine Ansichten, wir wollen das fortan wie ein gegenseitiges Geheimniß ehren, bis es von uns fallen darf. Auch die Zeit kommt! und dann werde ich wie erlöst sein und von Dir Alles annehmen, was Du für mich übrig hast.«

»Meine einzige Mama, bat Bernhard mit Thränen im Auge, »wenn Du mich ein wenig liebst, mir meinen Lebensmuth wieder geben willst, laß es mich schon jetzt thun! Ich kann es nicht fassen, Dich, Dich von der Rheinberg« – –

»Was ist die Rheinberg für mich!« fiel sie kalt ein.

»So wäre denn Alles umsonst!« rief Bernhard seiner kaum noch mächtig.

»In diesem einen Punkte kann sich für jetzt nichts ändern!« versetzte Frau Valesca fest. »Alles Uebrige aber darf wie immer bleiben?« fuhr sie wie beschwörend fort. »Deine Liebe läßt Du mir, ich bin so arm – –«

»Noch ärmer ich!« Er faltete die Hände vor sich hin.

Frau von Gysenheim erwiderte in klagendem Tone: »Wir Menschen können nicht immer Idealen nachleben! Es ist mir ein tiefer Schmerz, daß ich das gerade Dich zuerst lehren muß, mein Loos ist es aber einmal, daß Die, die mich lieb haben, um mich leiden müssen. Wenn wir uns wieder sehen, hoffe ich jedoch, wirst Du beruhigter darüber denken? überlege es nochmals und Du wirst mir dann Recht geben? Uns bleibt nur die Hoffnung auf bessere Zeit! Sei mein starker Sohn!«

»O, Mama!« In seinen Augen lag Verzweiflung.

Die Mutter sah es nicht, oder wollte es nicht mehr sehen: ihre Geduld war erschöpft, sie bereute nun, nicht auf sein Kommen gewartet zu haben. Darum hatte sie es eilig mit dem Abschiede und athmete erleichtert auf, als sie die Straße betrat. Auch das noch! Selbst der Sohn möchte nun quälen und meistern! Ah! –

Trotzdem wandte sie sich noch einmal um und grüßte mit ihrem lieblichen Lächeln zu dem todternsten Gesichte Bernhard's hinauf.


V.

Friede.

Die Sonne war schon in dunklem Gewölke untergegangen, mit der heraufkommenden Nacht überzog sich der Himmel mehr und mehr. Dann tröpfelte es auch, um bald in völligen Regen überzugehen. Bernhards Schlafzimmer lag nach einem kleinen Hofe hinaus, und er hörte, wenn einmal in seinem Denken eine Pause der Erschöpfung eintrat, wie Tropfen bei Tropfen eintönig auf die Steine klatschte. Das wollte ihn barmherzig einschläfern, doch gelang es nur auf Augenblicke; er fuhr immer von Neuem empor und lag wieder Stunden lang mit wachen, brennenden Augen.

Wie hatte er an ihr gehangen! wie sie vor allen Uebrigen als etwas Einziges geliebt! Und jetzt? Jetzt! Lieben, voll Mitleid lieben mußte er sie noch immer: doch war es ihm dann wieder, als dürfte er es eigentlich nicht, weil Flecken an ihr wären, nicht auszulöschen! Welche Selbstsucht! eine Schwäche, unfaßbar. Wie Viele hätten seine Hand mit Freude ergriffen! Sie nicht, um sich dieses Grab zu wahren. – War er auch offen genug gewesen? hatte sie es gesehen, wie er litt? Wohl! Es war Alles gesagt, was er sagen konnte: sie liebte ihn nicht genug, um für ihn von dem Todten zu lassen! von einem Todten, der ihn schon im Leben um ihre Liebe betrogen hatte! – Nichts besaß er mehr, Niemand! Und wie schal nun Alles war! Konnte es so fortgehen? Nimmermehr! Welche neue Art gab es aber, die das Leben noch erträglich machte? Nun gehörte er nicht mehr zu ihr, doch auch nicht nach Gysen! Wohl hatte der Vater davon gesprochen, daß er ihn stets erwarte! neben dieser Rheinberg vermochte er aber nicht zu leben: in ihren hochmüthigen Zügen hätte er nie etwas Anderes gefunden, als Hohn oder baare Verachtung. Und trotz Allem, von Der konnte er seine Mutter nicht mißachtet sehen! So verloren Alles, wohin er auch blickte: Qual jeder Gedanke, jede Empfindung! –

In sich gebrochen stand er früh am Morgen auf: ihm war plötzlich gewesen, als vermöchte er die trübe Dämmerung des Schlafzimmers, diese lautlose Stille nicht einen Augenblick länger zu ertragen, als verlange ihn sehnsüchtig nach Licht und Leben. – Doch auch im Vorderzimmer dämmerte dasselbe Grau, es regnete noch immer, und nur dann und wann eilte Jemand unter tropfendem Schirme vorüber.

Mechanisch nahm er ein wenig von seinem Frühstück, ging ebenso mechanisch im Zimmer umher, als sollte sich dabei etwas finden, was ihn von sich abzöge und über die Stunden fortbrächte. Auf dem Schreibtisch lag die »Waffenlehre« aufgeschlagen; er warf sich in den Stuhl davor und las unaufhörlich, bis ihn der Gedanke aufschreckte, daß er gar nicht wußte, was er eigentlich that. Aufspringend trat er wieder ans Fenster, öffnete es, ihm war es zum Ersticken! und ließ sich den warmen Regen ins Gesicht sprühen.

Da begegneten sich unten Zweie, und der Eine rief überlaut: »Guten Morgen! guten Morgen!« Die Wiederholung klang so verhallend nach. Bernhard fuhr zusammen: wie damals das zweite »Gute Nacht« vom Lieutenant Baldingen! – Die seltsame Idee, noch all seinen Freunden vorher »Gute Nacht« hinaufzurufen, und dann in der Stille davon zu gehen! Die kleine Wunde an der Schläfe: wie friedlich er aussah! Und um ein paar hundert Thaler Schulden willen, die man ihm verweigert hatte, zu bezahlen! Wenn der sich Jemand anvertraut hätte, dem hätten Viele helfen können. Ihm, wer konnte ihm helfen? – Um so Geringes gingen sie: neulich der Solbrig, weil ihn sein Lieb verrathen hatte. Und was war ihm geschehen? Es wäre wohl bloße Feigheit, sich damit fortzuschleppen? und feige war er nicht! Auch Frieden gäbe es wieder? So endlos lange war der von ihm gewichen, die letzten Tage schienen nicht Tage, Ewigkeiten. –

Er trat, den Kopf tief herabgebeugt, vom Fenster zurück, drückte die Stirn gegen die Seitenmauer der Nische und stand und stand. Als er dann langsam nach dem Sopha schritt und sich darauf hinstreckte, war es auf seinem Gesichte still geworden; ein Zug scharfen Nachsinnens lag allein darauf. Noch einmal wollte er Alles gegen Alles wägen. Den Treubruch, die geringe Liebe für ihn selbst, die nun beinahe so äußerlich schien wie das Liebliche ihres Wesens, die ließe sich verwinden, dafür gab es wenigstens Entschuldigungen. Aber das Andere. So sehr er sich auch mühte, es nachsichtig zu beurtheilen, im Gegensatz zu Allem, was er bis dahin geachtet, dem er nachgestrebt hatte, blieb es immer stehen, so entehrend wie schmachvoll! Und seine, seine Mutter war dessen fähig. Ihm hätte ein solches Geld wie Feuer die Hand verzehrt, die es berührte, und sie hegte und nährte noch damit ihre verbrecherische Liebe! Zu viel war es, allzu viel: es ertrug sich doch nicht, ob er sie auch wider eine Welt hätte halten und schützen mögen! – Vermochte er das aber nicht? Wenn er ginge, wie die Anderen? Sein volles Geld würde frei, zwar nicht die Dreitausend, aber doch zwei, die sich vielleicht auch mehrten, wenn erst alle Bauten des Vorwerkes beendigt wären! Ohne die Reise ginge es, und die gäbe sie dann wohl auf, hatte sie dafür doch ein anderes Grab. Ein wenig liebte sie ihn, und wenn er darum gestorben war, mußte ihr Stolz erwachen, eine so Verlorene war sie nimmermehr! Es ist etwas Anderes, lebend oder todt! Was dem Bittenden noch verweigert wird, erzwingt der stumme Mund! O, sicherlich!

Und leuchtenden Blickes, mit der Bewegung eines Siegers, an den nichts mehr heran kann, stand er von Neuem auf und ging nach dem Schreibtisch. Scheinbar weit ab mit den Gedanken, und doch sorgsam, wählte er sich Bogen, die Couverts, schrieb dann von seinem letzten Willen, fügte Dank und Gruß an den Vater hinzu, und füllte ebenso rasch und ohne zu zögern einige Seiten an die Mutter. Wie er fertig war, lehnte er sich eine Weile mit geschlossenen Augen zurück, als müsse er nachdenken, ob etwas vergessen sei; dann las er noch einmal seine Schlußzeilen an die Mutter:

»So ist es für mich plötzlich Nacht geworden! Doch ich klage Dich nicht an, es war einmal Deine Art. Versuche nun aber auch mich zu verstehen, daß ich für meine Liebe an Dir und für meinen Begriff von Ehre keinen Ausweg sah, als diesen einen. Und es ist ja für Dich, für Dich! Wie mich das über Alles fortträgt! Wird es auch Dich zwingen? Ich gehe wenigstens in dem festen Glauben, Dich nun in Ehren weiter leben zu wissen. Du kannst mein Vertrauen nicht täuschen? Dürftest Du dann doch um mich nicht klagen, nur stolz auf meine Liebe sein!

In alle Ewigkeit

Dein Bernhard.«

Es war nichts vergessen! So couvertirte er die beiden Schreiben. –

Darüber war es Nachmittag geworden; sein Putzer kam herein und fragte, ob er wieder das Essen holen solle. Bernhard verneinte und befahl die Kleider bereit zu legen, da er heute selbst ausginge. Der Regen hatte aufgehört, hier und da zeigte sich schon ein größeres Stück blauen Himmels.

Als er vorher beim Schreiben auf den Kalender sah, hatte er neben dem Datum gelesen, daß es Mittwoch sei: an wie vielen waren sie nicht mit einander im botanischen Garten gewesen und immer glücklich! Sollte es darum nicht auch dort zu Ende gehen?

Erst hatte er des Gedankens kaum Acht, bald war er bestimmter geworden: warum nicht? So konnte er auch noch zu der Mutter Fenster hinaufgrüßen! Sehen? Er schüttelte den Kopf: sehen wollte er sie nicht mehr. –

Und mit einer Art von Feierlichkeit zog er die Uniform an, steckte das Seitengewehr ein; zum letzten Mal, es war doch eigen! Ebenso langsam nahm er sein Taschenpistol von der Wand.

Nachdem er auch die Briefe zu sich gesteckt und noch einen Blick durch's Zimmer geworfen hatte, ging er leise die Treppe hinab.

An dem nächsten Briefkasten hielt er sich eine ganze Weile auf, ging einmal vorbei, wieder zurück – war er noch nicht mit sich einig? wollte irgend woher ein Rettungsstrahl kommen? Oder that es nur die Sonne, welche jetzt so belebend und funkelnd in neuer Schönheit an dem entwölkten Himmel stand? – Endlich trat er aber mit einer überhasteten Bewegung an den Kasten und ließ die Briefe hineinfallen. Nun war es geschehen, Alles unabänderlich!

Von der Ecke der Straße blickte er nach der Mutter Wohnung hinüber; Niemand war am Fenster, er segnete mit Blick und Gedanken ihren Ein- und Ausgang. – So lag nun Alles hinter ihm: nur noch wie im Träumen – hinaus in der Seinigen Zukunft, zurück in die Vergangenheit ging er den alten Weg an den Kliniken und der Roßgärtner Kirche vorüber.

Es war noch früh, beinahe Niemand im Garten. Heute hielt er sich nirgends auf, schritt geradeswegs nach der Bank oben im Lindengange. Als er wieder die Baumzweige hob, wie es vor kurzen Tagen seine Mutter gethan hatte, fiel sein Blick auf den Gedenkstein mit der Broncevase, der am Wege steht. Ob man auch ihm –? Nein! So viel Gestein müßte zur Last werden! Nur einen Rasenhügel, weiter nichts.

Er setzte sich in die Ecke der Bank: sah einmal hinter sich auf die Doppellinde, deren mächtige Wurzeln wie eine Schutzwehr aufragten, wieder vor sich in das Geschwanke von Schattenblättern, Schattenranken, die im Sonnenschein auf den Boden und die Stämme der Bäume fielen. Wieder war Alles so still, so weltverloren, – und nicht anders war es in ihm: endlich Ruhe im Herzen. Ob auch von Allen verlassen, er war ohne Wunsch mehr. –

Während seine Blicke gen Himmel gerichtet waren, eine Bitte, ein Flehen darin, wie um Vergebung, aber auch ein Funke Trotz, daß er sich nicht anders zu helfen gewußt habe, fuhr die Hand nach der Schläfe: ein leiser Knall – kraftlos sank die Hand herab, hielt das Pistol aber krampfhaft umschlossen. Und auch das Haupt senkte sich ein wenig vornüber, durch das goldschimmernde Haar sickerten ein Paar Blutstropfen, keine Bewegung, kein Laut sonst: einen Vogel, der hoch oben in der Linde gesessen hatte, mußte jedoch etwas erschreckt haben – er flog, einen Schrei ausstoßend, der Sonne zu.


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