Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Novelle.
» Schmeckt die Salat heut' wieder schön!« schnarrte der alte Watzeck los. Dabei schwielte er unter seinen buschigen Augenbraunen, die ihm fast die Augen bedeckten, nach einer Ecke des Herdes. Und gleichsam als Nachklang seiner Worte gerieten dort unter den zitternden Händen einer alten Frau ein paar Pfannen an einander, daß ein kräftiger Metallton durch die Küche fuhr.
»Das freut mich ja recht, den Jeschmack des Herrn Watzeck jetroffen zu haben!« versetzte geschmeichelt die neue, ihm gegenüber am Tische sitzende Köchin. Sie war zwar erst kürzlich aus der Residenz angezogen, hatte aber durch das übrige Küchenpersonal bereits erfahren, daß Gottfried Watzeck und die alte Lotte, das weibliche Faktotum des Hauses Astenbeck, ein nach zwanzigjähriger gemeinschaftlicher Dienstzeit eingegangenes Verlöbnis aus dem einfachen Grunde wieder gelöst hätten, weil Lotte dem Bräutigam zweimal hintereinander den Salat zu sauer gemacht (den oder vielmehr die Salat, wie Watzeck neuerdings beharrlich sagte, nachdem er bei einem Diner den Herrn Amtsrichter von der salade hatte sprechen hören). Dem betrübenden Mißgriff Lottens waren damals heftige Zankscenen und nach der letzten ein so schroffer Bruch gefolgt, daß die Beiden seitdem überhaupt nicht mehr direkt mit einander verkehrten. Darum hatte Jungfrau Lotte Richelmann auch eben (leider zu Watzecks unverblümter Befriedigung) ihre Antwort den beiden Pfannen anvertraut.
Die feinfühlige Köchin durchschaute diesen Zufall natürlich auch, und bemerkte, jedoch mehr zum Spaß, als um die brave Lotte zu kränken: »Ja, Salatmachen will jelernt sein! ein Löffelken Essig zu viel kann den janzen Brei verderben«
Lotte schwieg sogar zu dieser Narrerei, trippelte nun aber mit ihren gewohnten Jungfernschrittchen noch rascher als sonst zur Küche hinaus. Der arge Ex-Bräutigam lachte hell hinter ihr her, ohne sich dadurch in seinem Salatgenuß unterbrechen zu lassen.
Während er noch in seiner lauten Weise behaglich aß, tänzelte Fräulein Flore, die Zofe der Frau Stadträtin Astenbeck, von der schmunzelnden Lotte gefolgt, in die Küche. Bei Watzecks Anblick faltete sie die Hände geziert über der Tändelschürze und rief: »I Du mein Gott, Sie noch beim Essen? Die Frau Stadträtin hat schon den Hut auf!«
»De Dievel!« fuhr Watzeck aufspringend los und zog seine Uhr heraus. »Et es ja noch völlig Tiet!« Doch schob er hastig nur noch eine Gabel voll des geliebten Gerichtes in den Mund, und trollte sich dann, indem er vor sich hin brümmelte.
Ein wenig später, als der neue Landauer (mit seinen von dunkelgrünem Damast bezogenen Fond) vorgefahren war, hatte die alte Lotte, die ihrer Herrin einen kleinen Fußsack nachtrug, noch eine Genugthuung für den vorherigen Angriff, da die Frau Stadträtin gleich beim Betreten der Freitreppe nicht gerade gnädig sagte: »Sie wissen, Gottfried! Warten ist meine Sache nicht! War Ihre Uhr wieder nachgeblieben?«
»Wir haben noch Zeit die Masse, Frau Stadtrat!« entgegnete Watzeck, den Tressenhut mit der Miene tiefgekränkter Unschuld ziehend. »Es ist kaum Dreiviertel.«
Frau Astenbeck machte nur eine Bewegung, nun zuzufahren. Sie blieb nach ihrer Gewohnheit kerzengerade im Wagen sitzen. Mit einem Blick streifte sie noch die beiden Fenster im ersten Stock, welche zu den Zimmern gehörten, die jetzt – hoffentlich auf einige Wochen! – ihr Jüngster bewohnen sollte. In Gedanken sah sie sich nochmals in ihnen um, ob auch für all die Bequemlichkeiten, die er daheim zu finden gewohnt war, gesorgt, nichts vergessen sei. Als sie Alles und Jedes bis zu dem Kästchen echter Habanas hinab, das ihr der Oberbürgermeister (auch in Zigarren eine Autorität) persönlich besorgt hatte, an Ort und Stelle zu sehen meinte, wandte sie sich mehr den äußeren Eindrücken zu und blickte bald voller Anteilnahme hier und da in einen Garten oder über noch üppige, im Herbsttau glitzernde Wiesen bis zu dem bewaldeten Höhengürtel hinüber. –
Auf dem Bahnhof war der Berliner Kurierzug zwar noch nicht eingelaufen, doch herrschte bereits die Eilfertigkeit des Verkehrs und das erwartungsvolle Treiben, das dem Hauptereignis des Tages vorherzugehen pflegt. Die Frau Stadträtin, eine kleine, untersetzte Gestalt, die aber durch ihre stets abgemessenen Bewegungen und eine gewisse imposante Haltung des Kopfes überall sehr bemerkt wurde, empfing die ehrerbietigen Grüße des Bahnhof-Vorstehers und einiger entfernter Bekannten, dann blieb sie äußerlich vollkommen ruhig unweit des Ausganges der großen Bahnhofshalle stehen und sah unverwandt nach Westen, wo ein Rauchwölkchen den heranjagenden Zug kennzeichnete. Seit drei Jahren hatte sie ihren Hans nicht gesehen und verschiedene Fragezeichen standen für sie fast bedrohlich in der Luft: vor Allem, ob er auch völlig als der alte wiederkehre, und ob er ihren Wunsch erfüllen würde, das große väterliche Geschäft, dessen Oberleitung ihr nun allgemach schwer wurde, endlich selbst zu übernehmen. – Bei der Einfahrt des Zuges trat sie ein paar Schritte vor; bald grüßte auch eine Hand mit der lieb bekannten, stürmischen Lebhaftigkeit, welche die Mutter nicht hatte abgewöhnen können oder wollen, und die fröhlichen Augen ihres Jüngsten strahlten ihr scheinbar ganz so sorglos wie früher entgegen. Denn die stumme Frage in ihnen, die leichte Unruhe, die Frau Astenbeck nicht entgangen waren, setzte sie auf Rechnung der langen Trennungszeit und auf seine stets liebevolle Besorgnis um ihr Ergehen.
Auch ganz in seinem alten Ungestüm sprang er mehr aus dem Wagen, als daß er herabstieg, und zog die Mutter mit einer so zwingenden Innigkeit an sich, daß sie ihr nicht zu wehren vermochte, sondern Momente lang still seinen Zärtlichkeiten Stand hielt, ja, sie halb und halb erwiederte. Das war für Andere kaum bemerkbar, für den Sohn bedeutete es schon den höchsten Grad ihrer Hingabe: voll Übermut blickte er nach dem eben verlassenen Coupé zurück.
Da war eine junge Frau, nach dem Kinde auf dem Arme und ihrem Traueranzuge zu urteilen, eine Witwe, an die Coupéthür getreten und schickte sich an, ebenfalls auszusteigen.
Hans Astenbeck trat rasch näher und sagte: »Ich werde helfen!« Dabei nahm er, während sie mit der freien Hand nach einen Stücke des Reisegepäcks langte, das Kind aus ihrem Arme, reichte es aber gleich, da es das Mäulchen augenscheinlich zum Weinen verziehen wollte, seiner Mutter mit dem Scherzworte zu: »Das ist Frauenamt, bitte!« – »Ich nehme Tasche und Koffer!« wandte er sich dann hastig wieder an die Dame, indem er ins Coupé stieg und sich mit verschiedenen Sachen belud.
Die Frau Stadträtin hatte das lebendige Gepäckstückchen mit stillem Protest übernommen, war aber doch zu sehr Frau und Mutter, um nicht bald mit einer liebkosenden Gebärde das kleine Gesicht zu berühren und dadurch auf ihm ein Lächeln statt des Thränenergusses hervorzurufen. Die junge Mutter trat in sichtbarer Befangenheit zu ihr und sagte leise: »Entschuldigen Sie gütigst! Meinen herzlichen Dank!« Dabei streckte sie die Arme nach dem Kinde aus.
Frau Astenbeck übergab es nicht gleich, sah erst die schlanke, zarte Frau an, deren blasse Wangen sich unter ihrem Blicke röteten, und schaukelte das kleine Geschöpfchen noch ein wenig auf den Armen. – Als es dann wohlgeborgen wieder an der mütterlichen Brust ruhte, fragte die Stadträtin: »Wohl ein Mädchen?«
Die junge Mutter nickte.
»Und denke nur, es heißt wie Du – Christel!« bemerkte nun Hans, indem er herankam. »Dabei hat sich Christel« – er sprach und nickte dem Kinde zu, das ihn anlächelte, als ob es ihn verstände – »auf der ganzen langen Fahrt, wir waren von Anfang an Coupégenossen, ganz ungewöhnlich charming betragen. Kaum einen Laut hat es von sich gegeben! – Aber nach so langer Reise ist Ruhe erste Bürgerpflicht!« Er winkte einem Gepäckträger und befahl ihm, die Sachen, die er zum Teil noch in der Hand hielt, nach einer Droschke zu tragen.
Die Damen verbeugten sich stumm und die junge Frau folgte, nachdem sie Hans zutraulich die Hand gegeben hatte, die er vielleicht etwas länger als nötig hielt, dem voranschreitenden Gepäckträger.
Gleich darauf fuhren auch Mutter und Sohn ab. Hans hatte Gottfried herzlich begrüßt, was dieser mit Respekt und strahlender Freude in den ehrlichen Augen erwidert hatte.
Natürlich war es für Gottfried mit seinem stolzen Trakehner-Gespann eine Ehrensache, nach wenigen Minuten sämtliche nach der Stadt fahrende Hotelwagen und Droschken hinter sich zu lassen – so fuhren sie auch bald an der Reisegefährtin von Hans vorüber. Er lüftete nur mit einer schlicht höflichen Bewegung den Hut, die der Mutter aber angenehm auffiel, weil sie ihr bewies, daß die unbestimmte Beunruhigung, die ihr bei der Scene auf dem Bahnhof aufgestiegen, offenbar grundlos war.
Beim Beginn der Nacht hatte sich ein schwerer Wind erhoben, drüben vom Frischen Haff her: er kam nur stoßweise, schlug dann jedoch Regentropfen an die Fenster der Astenbeckschen Villa und fuhr mit Stöhnen ihre Korridore entlang. Eben mußte er irgendwo eine Thür zugeworfen haben – ein schollernder Ton lief nachhallend weiter, bis er an der Schwelle des Wohnzimmers plötzlich erstarb. Hans, der mit der Mutter an dem Tische inmitten des Zimmers saß, fuhr in die Höhe und sah zu ihr hinüber: sie häkelte aber fort, hatte augenscheinlich nichts gehört. Eine Weile folgte auch er dem Hin und Her der Nadel, dann blickte er auf ihr Gesicht: die Freude des Wiedersehens schien vorüber, es war nun wieder so ernst, wie es stets gewesen war. Das Häubchen mit seiner breiten Spitzenrüsche, dieser glatt anliegende Scheitel, der einfache, starre Kragen, die noch steiferen Manschetten – eins so blütenweiß wie das andere – wie gehörte alles seit jeher zusammen! Nichts schien verändert; vielleicht war das Kleid noch schlichter gemacht, sein Stoff zeigte aber die gleiche Würde wie immer.
Hans lehnte sich von neuem zurück. Eine Zeitlang bewegten sich nur die Hände der Mutter leise fort, und die Flamme der großen, unbeschirmten Lampe züngelte wohl einmal höher, sonst war ein totes Schweigen ringsumher, selbst draußen auf der Chaussee und in den Räumen des unteren Stockes, da die Dienerschaft daran gewöhnt war, ihre Arbeit so geräuschlos als möglich zu verrichten.
Lebhaft und eingehend hatte Hans auf die Fragen der Mutter Bericht erstattet: von seinem Aufenthalt in Hamburg sowohl, als besonders von der letzten in Brasilien verlebten Zeit, wohin er von seinem Geschäftshause zur Oberaussicht über Kaffee-Plantagen gesandt war.
Es hatte der Mutter dann geschienen, als sei er abgespannt.
Da sie um diese Abendstunde seit lange an Einsamkeit und tiefste Stille gewöhnt war, verhielt sie sich völlig ruhig, um ihm Zeit zur Erholung zu gönnen. Wie sie aber bei einem Aufblick in seine offenen, mit leichter Spannung auf sie gerichteten Augen sah, fragte sie – als ob sie sich seither nur damit beschäftigt hätte in eingehendster Weise nach einem Krankheitsanfall, der ihn auf seiner Rückreise tagelang bettlägerig gemacht hatte. Hans berichtete geduldig auch dessen Verlauf, dann fuhr er aber lächelnd fort: »Doch jetzt weißt Du beinahe schon alles, was mir in den Jahren passiert ist! Nun dürfte die Reihe zu fragen, nach sehr Vielem zu fragen, endlich an mich kommen!«
»Gewiß!« stimmte Frau Astenbeck ihm zu, »frage nur!«
»Vor allem, wie geht es Lore und Hartwig? In Deinen beiden letzten Briefen war von ihnen gar nicht die Rede, und die kurze Schilderung über Deinen Aufenthalt in Breslau in dem vorhergehenden Briefe, den ich noch in Bahia bekam, ließ allerlei zwischen den Zeilen lesen. Wenigstens schien es mir, als hättest Du beide Haushalte nicht nach Deinem Geschmack gefunden. Oder irre ich mich?«
Ein Zug des Mißmuts lief wie ein Schatten über die Augenbrauen der Mutter.
»Leben Sie etwa nicht glücklich? Ich meine – die Eheleute untereinander?«
»O,« versetzte sie mit bitterem Spott, »das glaube ich doch! Sie verlangen nicht mehr. Es sind Ehen von heute! Jeder der Gatten lebt sein Leben für sich, und da für ihr Auskommen reichlich gesorgt ist, mögen sie sich ja ganz glücklich fühlen. Nur soll niemand zu ihnen kommen, der auf wahre Tüchtigkeit in Haus und Hof hält, dafür fehlt beiden der Sinn.«
»Selbst der Lore?«
Die Mutter nickte. »Sie ist eine dicke, bequeme Person geworden –«
»Unsere Lore? Mein schlankes Schwesterlein?« unterbrach Hans sie auflachend. »Du willst mich necken?«
»Ist das meine Art?« Frau Astenbeck schüttelte den Kopf. »Sie ist schon stärker als ich, dabei auf Schlecken und Naschen versessen: sie hat nur zwei Gedanken – Essen und ihren Salon!«
»Den Salon?«
»So nennen sie es! Zweimal in der Woche kommt ein Kränzchen von verschrobenen Frauenzimmern, alten Professoren und jungen Leuten, die ein ›Talent‹ haben, bei ihnen zusammen; auf Talente nämlich sind alle wie versessen, und wer von ihnen es irgend kann, bringt so einen Schützling mit seiner Violine oder seinem Gedichtbuch mit. Vollständig närrisch darin ist Lore! Und da man bei ihr eben gut und viel zu essen bekommt, so ist der Salon immer vollgepfropft. Mein Urteil über solche gelehrte Dinge bedeutet ja nichts: doch habe ich an den beiden Tagen, wo ich dabei sein mußte, lange Salme von Versen und ähnliches Zeug gehört – von einem Gehabe und Gethue wie in der Komödie, so daß mir vollständig übel wurde.«
»Und welche Rolle spielt ihr Mann dabei?«
»Firsterlin kommt erst gegen den Schluß, und salbadert dann wie gewöhnlich mit einem der alten Herren über seinen Wolfgang Goethe. Mich hat er in den acht Tagen – länger hielt ich es bei ihnen nicht aus – mit diesen Geschichten komplett krank gemacht: nun schreibt er gar ein Buch, worin er genau die Stunde feststellen will, in der sich zwischen Goethe und der Frau von Stein irgend eine Unanständigkeit zugetragen hat. Jeden Mittag – mitunter auch noch beim Abendessen – kam er damit; und hatte er mal gar einen Papierschnitzel aufgegabelt, in dem was davon stand, so stürmte er mit der Neuigkeit ins Zimmer, als ob es im Hause brenne. Mir fiel es schon auf die Nerven; Lore aber hört ihm immer zu, wie wenn er ein Evangelium verkündigte. Es war ein rechter Schwabenstreich von Astenbeck, Lore nach dieser berliner Pension zu geben, die sie neben allem Übrigen auch noch an einen solchen Professor geraten ließ.«
»Wenn sie sich aber, wie Du meintest, glücklich fühlen, was könntest Du mehr verlangen?«
Die Mutter versetzte erregt: »Ich könnte wohl eine Tochter ohne Salon verlangen! Wenn ich ihr nicht die Friederike überlassen hätte, die den Hausstand ja leidlich in Ordnung hält, da möchte ich wohl sehen, wie es bei ihr herginge! Gott bewahre jeden vor einem solchen verrückten Getreibe! – Natürlich hat sie dabei kaum noch eine Spur von Liebe für uns: nach Dir, glaube ich, fragte sie nur einmal und ganz obenhin.«
»Wahrscheinlich habe auch ich nicht oft an sie gedacht!« bemerkte Haus mit einer reuigen Geberde.
»Du bist ein Mann!« entschuldigte Frau Astenbeck. Dann schwieg sie.
Haus horchte eine Weile auf den Sturm, der von neuem einsetzte, und nach dem heftigeren Klatschen des Regens auf das Zinkdach der Veranda, dann begann er wieder: »Nun, und bei dem Bruder? Entspricht wenigstens Hartwigs Häuslichkeit Deinen Anforderungen?«
»O mein Gott!« seufzte die Mutter auf, indem sie ihre Häkelarbeit in den Schoß sinken ließ. »Über die läßt sich erst recht nicht sprechen, ohne daß es Einem gleich einen Stoß ins Herz giebt.«
»Ich bitte Dich! Wie ich Dir auch schrieb – von Hartwig habe ich zweimal Briefe bekommen: in beiden stand nichts als eitel Glück und Genügen. Von Hilda spricht er trotz ihrer langjährigen Ehe noch immer im Bräutigamston!«
»Weil sie ihn um ihren kleinen Finger wickelt!« fiel Frau Astenbeck empört ein. »Wie habe ich Euch immer gepredigt, in allen Dingen Maß zu halten; wie hoffte ich, daß, wenn auch hundert Worte verloren gingen, das hundertunderste doch behalten würde! Es muß gegen die Natur des Mannes gehen: stets das eine oder das andere! – Und Männer, die ihre Frauen nicht lieben, sind zwar ein Greuel vor Gott und Menschen, aber Mannsbilder, die immer verliebt bleiben, sind ein doppelter Greuel!«
»Diese schreckliche Erfahrung hast Du dort machen müssen?« Hans lächelte wieder, indem er die Mutter halb ungläubig, halb von ihrem Eifer ergötzt ansah.
»Leider dort!« entgegnete sie, noch ebenso aufgeregt. »Es ist, als ginge Hartwig mit einer Binde vor den Augen umher, natürlich nur bei dem, was sie angeht! Denn sonst bleibt er die Bravheit und der Ernst selbst. Seit er gar Justitiar geworden ist, kommt Jeder nach Rat oder Beistand zu ihm; so wird es neun Uhr Abends, ehe er seine eigenen Arbeiten anfangen kann! Sein Fenster soll immer das letzte sein, das in der ganzen Regierung beleuchtet ist. Aber die Gnädige unterdeß! Nun sind die vier kleinen Jungen da, glaubst Du aber, die hielten sie zu Hause? Ja vormittags bis zur Besuchsstunde! Dabei wird erst um Neun oder Zehn aufgestanden, immer große Toilette gemacht – dann heidi fort zur lieben Präsidentin oder zu einer Frau Rätin oder sie bekommt selbst Besuch. Das geht so bis zum Mittagbrot, oft essen sie erst zwischen Vier und Fünf. Natürlich weiß sie niemals, was auf den Tisch kommt, ich habe mitunter Dinge essen müssen – zum Totärgern, versichere ich Dich. Und das entschuldigt Hartwig noch! Nie fällt ein kräftiges, höchstens ein sauersüßes Wort. – Wie sie denn gar nur die Kindergärtnerin nach einem kranken Kinde fragen kann, statt sich selbst an sein Bettchen zu scheren, ehe sie von neuem irgend wohin, und oft für den ganzen Nachmittag, davonjagt! Ach, verzeih mir Gott die Sünde, ich glaube aber, die Weiber, die wie sie ihre Kinder so leicht in die Welt setzen, die haben auch keine Liebe zu ihnen! Unsereins hat jedes von Euch mit Schmerzen geboren, und dieweil der Tod zu Häupten stand, darum sitzt Ihr uns im Herzen!«
»Liebe Mutter!«
Frau Astenbeck war aufgestanden und hatte einen Gang durchs Zimmer gemacht. Bei dem herzlichen Ausruf des Sohnes drückte sie mit einer kurzen, aber innigen Bewegung seinen Kopf an die Wange, und sagte, während sie sich wieder setzte: »Das ist einmal nicht anders, auch dort wäre für mich nichts zu holen! – Und freilich ist es Weltlauf, daß Ihr Vater und Mutter verlaßt und dem Weibe anhängt! Ich habe nur noch Dich!« Sie sah mit einer gewissen Gespanntheit, die bald in ein gedankenvolles Forschen überging, in das plötzlich erglühte Gesicht von Hans.
Er ergriff ihre Hand, und wollte augenscheinlich von etwas sprechen, das ihm auf dem Herzen lag, als ein bei der Stille schrilles Anschlagen der Hausglocke bis herauf tönte, und man im unteren Stock Thüren gehen und schließen hörte. Dann trat auch schon die alte Lotte ins Zimmer und meldete mit jener Widerwilligkeit, die darauf gefaßt ist, etwas Unangenehmes vorzubringen, daß eine junge Weibsperson unten auf der Treppe sitze, die recht schwach thue und meine, bei dem Wetter nicht mehr bis in die Stadt zu kommen.
Frau Astenbeck erhob sich und ging von Lotte gefolgt nach unten; diese schien draußen erst ihrem Mißtrauen den vollen Ausdruck zu geben – Hans hörte wenigstens die Worte: »liederlich und zerlumpt«.
Unwillkürlich blieb Hans, der ebenfalls aufgestanden war und das Zimmer auf und nieder schritt, öfters in der Nähe der Thür stehen, wenn es unten lauter zu werden schien: und plötzlich klang ein Schluchzen und Gewimmer herauf, dem bald ein heftiges Weinen, sogar mit Geschrei und unverständlichen Worten vermischt, folgte. Ihn überfiel die Sorge, daß die Mutter irgend welchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sein könnte, so eilte auch er in den Flur hinab.
Ein Blick auf das verkümmerte, sicherlich tief kranke Weib, das sich an den innern Thürpfosten anklammerte, als könne man es nur mit Gewalt davon losreißen, zeigte ihm sofort, daß hier nichts zu fürchten, sondern mit Milde und Barmherzigkeit ein leidlicher Ausweg zu suchen sei. Er trat zur Mutter und bat sie flüsternd, hinauf zu gehen und ihm das weitere zu überlassen. Doch Frau Astenbeck entgegnete in so harter Weise, wie sie selbst bei ihr zu den Ausnahmen gehörte: »Hierbei ist nichts zu überlassen! Ich würde es niemals zugeben, daß eine hergelaufene Person, die mit ihrer Schande noch groß auf Mitleid spekuliert, denn verlassen wird Keins, was es nicht verdient, in meinem Hause ein Unterkommen fände: nicht für eine Stunde, viel weniger für die ganze Nacht. Die paar Schritte bis zur Stadt bringen niemand um; das neue Krankenhaus liegt dicht vornan. Komm, mein Sohn! Watzeck, Sie bringen sie bis ans Hofthor – und das wird gleich hinter ihr abgeschlossen!«
Das Weib hatte seine stechenden schwarzen Augen, die wie Kohlen aus dem wirr darüber hängenden Haar hervorglimmten, auf Hans gerichtet, und mußte wohl aus seinen Bewegungen und Mienen irgend eine Hoffnung schöpfen sie sah mit flehenden Blicken auf ihn und begann wieder leise zu wimmern.
Dieser Auftritt dauerte für das Anstandsgefühl der alten Lotte ihrer Herrin gegenüber schon zu lange, und so versuchte sie unter laut herausgestoßenen Worten höchster Entrüstung das Weib nach der Thür, die sie vorher geöffnet hatte, hinzudrängen. Von draußen schlug der Regen herein, das Weib schauderte unwillkürlich zurück, das schützende Dach zu verlassen und wehrte sich mit mehr Nachdruck, als man ihr zugetraut hätte, gegen das Zerren und die kraftlosen Stöße Lottens. Watzeck, der ebenfalls auf Haus sah, und sogar einmal mitleidig die Achseln gezuckt hatte, rührte sich nicht.
Da befahl Hans, an die Thür tretend: »Kommen Sie mit, Gottfried, wir bringen sie bis ans Krankenhaus!«
»Hans!« rief Frau Astenbeck, »Das geht zu weit!« Ein Zittern in der Stimme sprach deutlich von ihrer inneren Aufregung.
Doch er sagte mit ruhiger Bestimmtheit: »Es geschieht Alles nach Deinem Willen, liebe Mutter! Zu Ende kommen müssen wir aber endlich, darum bitte ich Dich, die Sache nun mir anheimzustellen.«
Die Mutter schwieg, von seinem entschiedenen Ton betroffen; ihre Lippen schlossen sich fest auf einander.
»Gottfried«, wandte sich Hans an den Alten, »meinen Hut und meinen Schirm, wenn er zur Hand ist! Doch warten Sie, kommt da nicht ein Wagen?« Er trat in die Thür und horchte hinaus. »Ja! vielleicht noch eine Droschke aus dem Schützenthal?«
Watzeck war schon nach dem Hofthor gelaufen und rief zurück: »Es ist ein Bierwagen!«
»Auch gut!« erwiderte Hans, »wir kommen!«
Seiner freundlichen Aufforderung folgte die Bettlerin sofort und schritt schwankend hinter ihm her.
Watzeck hatte schon alles Nötige abgemacht, so drückte Hans dem Bierfahrer wie dem Weibe nur noch Geldstücke in die Hand; Beide dankten – das Weib wahrhaft überrascht von der Größe der Gabe, dann fuhren sie rasch ab. –
Während Hans noch einen Moment stehen blieb und dem Gefährt nachsah, strich Watzeck ihm mit einer treuherzigen Bewegung über die Schulter und zuckte stumm noch einmal die Achseln. –
Als der Sohn ins Wohnzimmer trat, fand er die Mutter, ganz gegen ihre Gewohnheit, da sie sich stets mit etwas zu beschäftigen pflegte, müßig am Kamin stehen. Dieser wurde seit dem Tode des Gatten nicht mehr benutzt, so hatte sie den einen Arm auf das vergoldete Gitter gelegt, das seinen äußeren Abschluß bildete. Hans wollte zu ihr treten; doch sie verhinderte es, indem sie in kurz befehlender Weise nach dem Stuhl wies, worauf er vorher gesessen hatte: »Setze Dich!« – Nach einer Pause fuhr sie, scheinbar halb widerwillig, jedoch wie unter einem Zwange stehend fort: »Ich bin Dir eine Aufklärung schuldig! über meine Grausamkeit – so wirst Du es wohl nennen!«
»Nein, Mutter, ich – –«
»Doch, mein Sohn!« unterbrach sie ihn, »ich sah es Dir an, daß Du mein Thun unbegreiflich fandest, ja, es verurteiltest. Es bedarf aber nicht einmal einer Entschuldigung!« In einer Art verächtlichen Hohnes waren die Worte gefallen. Nach einer Weile begann sie von neuem: »Zwar habe ich es stets vermieden, vor Euch Kindern an Dinge zu rühren, die zwischen Eurem Vater und mir leider berührt werden mußten; als Ihr heranwuchst, mögt Ihr Euch aber doch über dies und jenes Gedanken gemacht haben. Mein guter, braver Hartwig gab mir das wenigstens durch eine doppelte Liebe zu verstehen: Du warst damals schon außer dem Hause! – Vertuscheln oder Bemänteln ist aber meine Sache nicht, ist es nie gewesen! Ich wüßte darum auch jetzt keinen Grund, warum Du mich nicht so sehen sollst, wie ich nun einmal bin. Zumal, da gerade wir Beide, was ich nun erwarte, bald zusammenhausen werden! Da ist es ganz gut, wenn man sich gleich bis in die Herzgrube hinein kennen lernt; dann weiß Jeder, wie weit er auf den andern zählen darf, und was er ihm ein für allemal nachsehen muß. Nachsehen, weil Ihr jungen Leute, wie ich's eben auch an Dir erlebte, daran gewöhnt worden seid, über gewisse Sachen leichter zu denken, als wir Alten. Wir sehen die nämlich ganz so schwarz, wie sie's im Grunde sind. Was wißt Ihr auch von unsern hinunter gewürgten Thränen, und von dem Fressen am Herzen, bis es bricht – wenn es nicht gerade ein resolutes ist! Das meinige hielt Stand. – Ein armes, anderes, grundgütiges Herz mußte ich aber, Stück bei Stück, zerbrechen sehen!«
Sie starrte unbeweglich vor sich hin.
Hans erhob sich und trat mit einer teilnamsvollen Bewegung an sie heran. Sie schien das nicht zu beachten, und fuhr, die Worte oft gradezu hervorstoßend, fort: »Ich spreche von meiner Mutter! Deinen Großvater – Du hast den noch im Alter schönen Mann ja gekannt! nannten die Leute in ihrer Blankfärberei nur einen Lebemann! Sie entschuldigten ihn vor wie nach! Ich habe lernen müssen, über ihn und sein Thun anders zu urteilen. Mutter hatte ja eine zarte Natur: Aber so früh krank und elend hat sie nur der Kummer gemacht, ihr ewiger Kampf um das bischen Liebe, das ihr doch von Rechtens gehörte. Denn nur zu bald wußte sie, daß für sie kaum mehr als Brosamen abfielen und daß ihre Ehe der Schleier war, unter dem sich nebenbei eine Liebschaft nach der anderen abspann. Grausam sind in solchen Tagen die Menschen, grausam ist der Zufall, der gleich alles Neuste heranträgt oder aufdeckt, am grausamsten ist aber das eigene Herz gegen uns, wenn wir nicht so stolz werden können, daß wir verachten! Mutter vermochte das nicht! Ja, selbst den Abhub, der ihr noch wurde, konnte sie nicht entbehren – weil sie wohl fühlte, daß er das letzte war, das ihr Leben erhielt bis es auch damit Ende hatte, und sie verlöschte, wie ein Lichtstümpfchen, das längst im Sterben gewesen war. – Wer dergleichen aber mit ansehen muß, der darf auch seine Nächsten hassen lernen und vollends jene verruchten Geschöpfe, die immer und ewig die Verführerinnen zur Sünde und Schande sind.« Sie hob drohend die Hand. – »So hatte es Dein Großvater getrieben! – Und mit Deinem Vater ging es wenig anders: allerdings trieb er es heimlicher und suchte immer zu bedecken. Im übrigen ist es dasselbe gewesen; nur war ich eine gesunde Person und wußte schon von Mutter her, daß in Thränen kein Heil steckt. Darum habe ich selten, und dann nur vor Zorn geweint – doch tief innen genagt hat es kaum weniger als bei Mutter. – Das Alles ist lange begraben! Nun wirst Du aber wissen, warum ich keine Dirne im Hause leide: ich würde lieber eine Pestkranke aufnehmen. Ja, glaube mir aufs Wort: hätten sie da am Kronleuchter solch' ein Geschöpf aufgehangen, und ich brauchte nur die Hand zu heben, um es abschneiden – die Hand sollte mir verdorren, wenn sie das thäte!«
Der Sohn blickte mit einem Ausdruck von Scheu und Mitleid, und zugleich seltsam befangen auf die Mutter, antwortete aber nichts. So schloß diese das Gespräch, indem sie an den Tisch tretend und ihre Handarbeit in ein Körbchen legend mit ihrem gewöhnlichen Tone sagte: »Und nun genug davon! Es ist auch bald zehn Uhr, für mich also Zeit, schlafen zu gehen: darin hat sich hier natürlich nichts geändert. Heute wirst Du wohl auch müde sein? Solltest Du aber künftig Lust haben, abends noch ins Kasino zu gehen – die Schlüssel und der Drücker hängen an dem Kleiderschrank. Vergiß mir nie, sie mitzunehmen, eine Klingelei nachts würde das ganze Haus aufschrecken!«
»Es soll nicht vorkommen!«
Die Mutter stimmte seinem Lächeln nicht zu, und schied wie sonst mit einem Händedruck von ihm; an der Thür wandte sie sich aber nochmals um und nickte in freundlichem Ernst.
In dem größesten Zimmer des kleinen Gasthauses zum »Hochmeister«, das an dem Kreuzungspunkte mehrerer Straßen lag, ging die junge Person, die gestern gleichfalls mit dem Kurierzuge angekommen und in so aufmerksamer Weise von ihrem Reisegefährten beschirmt worden war, immer von einem Fenster zum andern (das Zimmer bildete eine Ecke des Hauses) und sah in leichter Unruhe die Straßen hinunter. Klein Christel lag beinahe in der Mitte des Zimmers in einem sonderbar hochfüßigen, eleganten Gestell, dessen rote Vorhänge halb zugezogen waren, und hatte sich in ihrem süßen, mutterbewachten Schlummer schon ein purpurnes Bäckchen angeschlafen.
Die Kuckucksuhr am Ofen schlug Zehn. Christel rümpfte, ohne völlig zu erwachen, ein wenig die Nase und dahlte mit dem Fingerchen in so lieblicher Weise an ihr herum, daß sich die Mutter nur mit Mühe zurückhielt, das dralle Patschhändchen nicht an die Lippen zu drücken.
Bald ging sie aber von neuem an eins der Fenster: doch sofort trat sie wieder zurück, als dürfe oder wolle sie von Jemand, der draußen daher käme, nicht gesehen werden. Vom Kopfende der Wiege aus lauschte sie nach der Zimmerthür: auf ihrem zarten, von schlichten, hellblonden Scheiteln umrahmten Gesichte lag nichts als glückliche Erwartung. –
Und es währte nicht lange, so kam ein kurzer, kraftvoller Männerschritt den Flur entlang, mit dem Anklopfen wurde die Thür bereits geöffnet und Hans Astenbeck schloß das junge Weib, das ihm entgegen geeilt war, unter einem bewegten Ausruf in die Arme. Das wurde Christel denn doch zu viel; sie erwachte vollends und sah mit ihren großen, tiefblauen Augen ernsthaft auf die beiden Menschen, die sich da zu ihren Füßen so ungeniert küßten. Als sie ihr nach einer Weile freilich bekannt vorkamen, lachte sie über ihr ganzes Gesichtchen, fing vergnügt zu krähen an und streckte ihnen zum Willkommen das rosige Beinchen entgegen.
Hans drückte auch darauf Küsse, nahm die jauchzende Kleine in die Arme, zeigte ihr am Fenster den mächtigen goldenen Adler der Apotheke drüben und hob sie dann ein paarmal fast bis zu der alten, verschnörkelten Holzdecke des Zimmers empor.
Als Christel wieder in ihrem Gestell lag, und nur durch ein lebhaftes Gezappel der Ärmchen und Beinchen um eine Wiederholung der schönen Luftfahrt bettelte, fragte Hans: »Worin liegt sie denn eigentlich? Soll das eine Wiege sein?«
Die junge Mutter bejahte lächelnd. »Die Frau Wirtin kam auf den netten Einfall! Es ist das Puppenbett ihrer Tochter; die hat es Christel großmütig für die paar Tage abgetreten und war schon zweimal oben, um sich die neue Puppe, die sogar kleiner als die ihrige ist, die aber lachen und krehlen kann, ganz still anzusehen!« Sie hatte die letzten Worte an Christel gerichtet, indem sie ihr kosend das dicke Unterlippchen tätschelte. Dann sah sie plötzlich mit einem bangen Blicke auf Hans.
Dieser begegnete ihrem Blick. »Ich habe noch nicht gesprochen!« Indem er sich in eine Ecke des Sophas warf, fuhr er mißmutig fort: »Es ging nicht! Gestern Abend gab es nur eine beiderseitige Berichterstattung und einen häßlichen Auftritt mit einer Bettlerin, der mir Mutters Härte in allen Beziehungen, die ungewöhnliche sind, wieder recht vor Augen führte, wenn sie auch sehr zu entschuldigen ist. Heute den Morgen über hatte sie mit ihren häuslichen Geschäften zu thun, oder es war Besuch da. Der Oberbürgermeister begrüßte mich schon. – Fränzi!« Er streckte die Arme aus und Christels Mutter, die vor sich hinblickend dagestanden hatte, kam langsam näher und setzte sich zu ihm. Er schlang den Arm um ihre Schultern, hob ihren Kopf in die Höhe und sah ihr mit einem treuherzigen Lächeln in die Augen. »Es wird Alles gut!« Auch sie lächelte ihm zu und fuhr sanft über seine Hände. »Ich weiß, daß Du für uns handeln wirst, so bald Du's kannst! Übereile auch nichts! Ich bin hier gut aufgehoben; die Leute sind freundlich zu mir, dabei ohne jede Neugier. An Langerweile, weißt Du außerdem, leide ich nie! Und nun gar jetzt – wie wäre das möglich? Mit Christel und mit den steten Gedanken an Dich und an unsere Zukunft! Die Bücher, die Du so vorsorglich miteinpacktest, werde ich gar nicht herausnehmen.«
»Verschwöre nichts, Herz, denn heute Nachmittag werde ich Dich kaum mehr aufsuchen können – frühstens am Abend!«
»O!«
»Leider! Mutter will bei dem schönen Wetter vormittags ausfahren und mich gleich bei Tante Dore präsentieren, die davon schon benachrichtigt ist. Wer weiß, ob wir da nicht zum Mittag bleiben müssen oder gar für den Abend eingeladen werden. In dem Fall muß ich natürlich auch heute noch schweigen; denn aufs tiefste erregt – das ist mir schon gestern klar geworden – dürfte Mutter darüber werden! Sieh mir nicht gleich so traurig aus! Ein Hehl habe ich Dir aus Mutters Denkart nie gemacht, ich hoffte ja nur, daß sie durch das Alter und die lange Witwenschaft Manches milder anzusehen gelernt hätte. Zu Ende bringen wir es, so oder so, darauf verlaß Dich!«
»Gewiß, Hans!« erwiderte Franziska und sah ihn voll festen Vertrauens an. »Ich bin auch nicht traurig, was getragen werden muß, will ich ohne Klage auf mich nehmen; es ist nur die Furcht vor all den Kämpfen, die nun drohen, was mir wie ein Frost übers Herz läuft.«
»Ohne Kämpfe kein Glück!« versetzte er ermutigend. »Auf der lieben Erde will einmal Alles und Jedes errungen sein. Wir Beide oder vielmehr ich, nur ich war vorwitzig und nahm ein bischen Glück im voraus. Dafür haben wir jetzt Christel, die uns mithelfen wird: Christel und ihren Engel, Schatz! Du glaubst doch an die Engel der Kinder? In unserem frommen Brasilien stehen wir mit denen auf Du und Du!« Wieder ernst werdend, fuhr er fort: »Bleiben wir bloß zum Mittagessen bei der Tante, so spreche ich noch heute! Einmal muß das Gefühl, als würden wir von wilden Tieren zerrissen – so sagen wir drüben! – wohl von uns Allen durchgekostet werden, je früher das also geschieht, um so rascher hat man überwunden.«
»Lieber Hans!« Sie schauerte zusammen.
»Fränzi! Du versprachst mir, daß Du immer tapfer sein – –«
»Und daß ich auch so bleiben wollte!« fiel sie ihm kurz aufatmend ins Wort. »O, ich werde es fertig bringen!« Sie blickte mit unendlicher Zärtlichkeit nach Christel hinüber. »Mein Bangen freilich –? darauf mußt Du gar nicht achten! Daran ist allein der starre Zug um die Augen Deiner Mutter Schuld, den kann ich nicht vergessen. Daß er sich selbst nicht veränderte, als sie Christel auf den Armen hielt – als sie freundlich wurde!«
»Ja, sie ist sich ganz gleich geblieben!« antwortete er gepreßt. »Wie sie schon zu Vaters Lebzeiten stets die Frau war, die Recht hatte, es wenigstens in jeder wichtigeren Frage behielt, so dürfte sie jetzt nur um so fester auf ihren Grundsätzen bestehen. Mit irgend welcher Schwäche oder gar mit Rührseligkeit soll ihr Niemand kommen! – Nun, wir werden es ja erleben! Trotzdem aber, Herz, Kopf hoch! Meiner, das weißt Du hoffentlich wie ich selbst, bist Du sicher! Zwischen uns kann nichts brechen, stets nur neben uns!«
»Bliebe uns auch das erspart!« klagte sie leise, »es müßte uns für immer nachgehen. – Wie jener Mönch, von dem Du erzähltest – der sein Gelübde gebrochen hat, nun stets die Glocke seines Klosters hört.«
»Hinter dem geht Schuld her, hinter uns – –«
»O, laß das!« Unter jähem Erröten eilte sie zu Christel, die sich unruhig hin- und herwarf. –
Gleichfalls voller Unruhe stand indessen die Stadträtin Astenbeck an einem Fenster des Wohnzimmers und sah die Chaussee nach der Stadt hinunter, ob Hans nicht endlich zurückkehre. Doch sie mußte sich noch eine ganze Weile gedulden, ehe die gedrungene Gestalt des Sohnes unter den Pappelbäumen zum Vorschein kam. Dabei ging er viel langsamer als sonst, ja, schien so ganz mit Gedanken beschäftigt, daß sie ihren frischen Hans, der gewöhnlich in halbem Laufe dahinjagte, kaum wieder erkannte. Erst dicht an der Villa, als er die Mutter am Fenster erblickte, wurde er der alte, und beeilte sich unter Grüßen mit Hut und Hand die letzte kurze Strecke zurückzulegen.
Frau Astenbeck ließ nach der Seite des Haffs hinausfahren, wohin Hans als Knabe immer am liebsten gefahren war. Ihn berührte diese Aufmerksamkeit schon angenehm, außerdem aber kam die Mutter in ihrer zwar trocken-spaßigen, jedoch warmen Weise noch auf allerlei Anekdoten und Erlebnisse aus seiner Jugend. So langten sie aufs heiterste gestimmt bei der Tante an. Diese behielt sie, wie die Stadträtin schon angenommen hatte, gleich zum Mittagessen da und es wurde fast Vier, bevor sich die Familie nach lebhaft angeregten Stunden trennte, wozu vornehmlich Hans und der Tante jüngste Tochter Meta, ein ebenso kluges wie gewandtes Mädchen, beigetragen hatten. –
Als Astenbecks nach Hause kamen, ging die Stadträtin, diesmal von Lotte begleitet, da Flore für den Nachmittag beurlaubt war, in ihr Zimmer hinauf, um sich umzukleiden, ersuchte Hans aber, sie noch im Wohnzimmer zu erwarten.
Er war schon längere Zeit darin auf- und abgegangen, und hatte sich zum letztenmal Alles zurecht gelegt, was er nun sagen wollte – die Mutter kam nicht. In Sinnen verloren trat er schließlich ans Fenster und drückte den Kopf an eine Scheibe. So überhörte er der Mutter Eintritt und wandte sich überrascht um, als sie, plötzlich hinter ihm stehend, fragte: »Wie hat Dir Meta gefallen?«
Er bemerkte, daß sie ihn erregt, ja voll Spannung ansah. »O«, erwiderte er nach einer Pause, als hätte er über den Eindruck, den sie auf ihn gemacht, erst nachsinnen müssen, »sonst recht gut! Für meinen speziellen Geschmack freilich wäre sie mir zu quecksilberig und auch zu ›jebildet.‹ Vielleicht, da ich selbst so lebendig bin, bevorzuge ich bei Euch Frauen Sanftmut, wenn Du willst, sogar eine gewisse Hilfsbedürftigkeit. Und Meta ist schon jetzt ganz Selbstbewußtsein!«
Frau Astenbeck sah ihn schweigend an; dann fragte sie von neuem: »Du bist vor unserer Ausfahrt im »Hochmeister« gewesen?«
Er bejahte. »Woher – –«
»Ich vermochte es Lotten nicht zu glauben!« unterbrach sie ihn. »So hast Du dort also auch mit einem Kinde auf dem Arm am Fenster gestanden?«
Er bejahte wieder. »Mit meinem Kinde!«
»Mit Deinem – – Kinde?« wiederholte sie mühsam. »Und die Mutter ist auch dort? Wer – wer ist sie?«
»Die Du an der Bahn gesehen hast!«
»Eine heimliche Ehe?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ah! – Und ein solches Kind wagtest Du mir auf den Arm zu legen? Mir!«
Hans zuckte zusammen, sagte aber: »Ich hätte es auf keinen besseren legen können! Darf ich Dir Alles erklären?«
Frau Astenbeck wandte sich ab und schritt gleichsam tastend dem Sopha zu. Einen Moment später saß sie wieder kerzengrade da; die starren Züge um die Augen lagen nun wie eingegraben in ihr Gesicht, und nur durch eine Handbewegung gab sie dem Sohne, der ihr gefolgt war und sich in einen Sessel ihr gegenüber gesetzt hatte, das Zeichen ihrer Bereitwilligkeit, ihn anzuhören. –
Hans richtete sich energisch auf und begann: »Es liegt so einfach wie möglich! Ich habe Dir mein Zimmer im Heymann'schen Hause, seine Lage und so weiter beschreiben müssen; Du wirst Dich erinnern, daß es nach dem Hofe hinausliegt? Dicht an unserem Hofe, nur durch eine niedrige Mauer davon geschieden, dehnt sich die Seitenfront des Nachbarhauses hin; dort, gerade meinen Fenstern gegenüber, wohnte in ein paar Stübchen eine Lehrerswitwe, Frau Düben, mit ihrer Tochter. Die Mutter, bei ihrer fortdauernden Kränklichkeit, stand nur mit Mühe dem kleinen Haushalt vor, die Tochter Franziska, die eine gesuchte Zeichenlehrerin war, sorgte allein für Beider Lebensunterhalt. Mich rührte es anfangs nur, daß ich auch bei spätester Heimkehr drüben immer noch die Lampe brennen sah, und sich das Schattenbild des Mädchens über irgend eine Arbeit gebückt durch die Gardine abzeichnete. Aus der Rührung wurde Interesse, ich hörte überall das Beste von den Frauen, so suchte ich ihre Bekanntschaft.«
»Was Dir leicht wurde!« warf Frau Astenbeck verachtungsvoll ein.
»Ja, Mutter! Ich will uns selbst im kleinsten Zuge nicht besser, oder vielmehr anders machen, als wir sind. Franziska hatte meine Beobachtungen, die bald in eine stille Huldigung übergingen, auch längst bemerkt, ich gefiel ihr – warum sollte sie also spröde thun? Das überlassen wir der sogenannten großen Welt!«
»Und der ehrbaren!« fiel Frau Astenbeck mit Schärfe ein, »aus der man sich in unsern Kreisen seine Gattin holt. Gott sei's gedankt! Das Liebchen freilich – –«
»Nicht diesen Ton, Mutter!« fuhr Hans stürmisch auf, »der paßt nicht hierher! Fränzi wird meine Gattin.«
Sie sah ihn kalt an. »Vor der Hand fahre fort!«
»Das fällt mir nun doppelt schwer!« Er lehnte sich in den Sessel zurück und sah finster nach den Kamin hinüber.
»Aber noch immer nicht so schwer, wie's mir fällt, Dich anzuhören!« entgegnete Frau Astenbeck, »doch es muß nun wohl sein. Ich werde Dich auch nicht mehr unterbrechen!«
Hans warf nach seiner Gewohnheit, wenn er irgend eine Widrigkeit in sich überwinden wollte, den Kopf wiederholt heftig in die Höhe, bevor er mit gedämpfter und anfangs leicht zitternder Stimme von neuem anhob: »Auf unsere Bekanntschaft folgten einige Monate des Glücks. Mutter, ich weiß nicht, ob Du mir nachfühlen kannst? Wie Du gestern sprachst, vom Vater sprechen konntest, da möchte ich es nicht glauben! – Doch wer so Unvergeßliches erlebte, dem müßte auch bei jedem Anderen Alles verständlich und natürlich erscheinen und ehrbar, ja zwingend, weil uns Menschen eben Alle, Alle unsere Natur zwingt.« Er sah mit festem Blick auf die Mutter. – »Dann kam es in Bahia zu dem Konkurs des Compagnons und zu der heillosen Wirtschaft auf unseren Kaffee-Plantagen. Als der Prinzipal gerade mich dazu auswählte, dort wieder Ordnung zu schaffen, war ich anfangs so bestürzt, daß ich diese augenscheinliche Bevorzugung abzulehnen versuchte: bald sprach mein Ehrgefühl aber doch zu laut, ich fügte mich und traf meine Anstalten, um schon den nächsten Dampfer zu benutzen. Franziska nahm die Sache verhältnismäßig gefaßt auf, weil sie eine resolute Natur ist. Da ging das Schiff aber einige Tage früher, als wir angenommen hatten und es mußte plötzlich, fast von einer Stunde zur anderen, Abschied genommen werden. Das nahm uns Beiden jede Fassung! Die Mutter brachte den Nachmittag, wie stets an dem Tage in der Woche, bei einer Bekannten zu, wir waren uns selbst überlassen, in Schmerz, in der Zärtlichkeit des Abschieds vergaßen wir Alles – ich verließ sie als mein Weib!«
Frau Astenbeck machte eine abwehrende Bewegung, erwiderte aber nichts.
So fuhr er hastig fort: »Die Dauer meines Aufenthaltes war ja, wie Du weißt, auf ein Jahr bemessen; es wurden anderthalb daraus, da ich schließlich nicht bloß die Kaffee-Ernte, sondern auch noch ihre Verwertung abzuwarten hatte. – Als Franzisca mir von einer Hoffnung sprechen mußte, verlangte ich natürlich, daß die Frauen hinüberkämen. Doch die Krankheit der Mutter – sie starb an einem innern Leiden – war so vorgeschritten, daß sie die lange Reise nicht mehr unternehmen konnte und Franziska vermochte es nicht über sich, sie zu verlassen, trotzdem ich ihr aus tiefster Sorge um sie, alle möglichen Vorschläge machte, wie wir für die Mutter, die selbst dafür war, ein anderweites, passendes Unterkommen fänden. Ich will Dir ihre Briefe aus der Zeit vorlegen: in ihrem schlichten Vertrauen zu mir, in ihrer Frömmigkeit, wie in der umweigerlichen Hingabe an diese heilige Pflicht, der sie und ihr eigenes Geschick sich ohne Frage unterzuordnen hätten, zeigte sich erst ganz die Selbstlosigkeit und Stärke ihres Herzens. – Noch ehe dann die Mutter starb, wurde Christel geboren: meine Rückkehr stand nun bevor, so blieb alles Weitere bis dahin verschoben. – Auf meiner Heimreise, in diesen langen Stunden aufgezwungener Unthätigkeit hatte ich viel Zeit, mir das Ganze zurechtzulegen; ob ich das Richtige gewählt habe, weiß ich aber selbst heute noch nicht. Ich glaubte aber an Dich und an Dein starkes Gefühl für Gerechtigkeit. Nur darum stellte ich Dich nicht vor eine vollzogene Thatsache. Wie gern würde ich uns Beiden die fatale Lage er spart haben, die unverheiratete Mutter Deiner Enkelin herzubringen, doch ich wollte, ich konnte Dich nicht dazu verurteilen, durch den Bürgermeister von meinem Aufgebot zu erfahren. Und über das Alles erst zu schreiben, dieses Hin und Her! Mir erschien eine persönliche Aussprache als der mildeste und zugleich der einzig natürliche Ausweg.« Er sah in düsterm Ernst auf die Mutter. »Hätten wir uns geirrt und das Schwerere erwählt? Wir, denn Franziska empfand wie ich, und wollte es wenigstens versucht wissen, Deine Einwilligung zu unserer Heirat zu erbitten.«
Frau Astenbeck hatte die Hand über die Augen gelegt und saß völlig regungslos da. Nach Minuten beiderseitigen Schweigens, welches so tief war, daß man von draußen, von der Chaussee her das Mahlen der Räder eines Lastwagens bis zu ihrem Geknirsche an der zufällig im Wege liegenden Steinen genau unterschied, fragte sie, die Hand von den Augen ziehend: »Und wenn ich nicht einwillige? Weil ich es nicht kann!« Da Hans sofort und augenscheinlich in bestimmt abschließender Weise antworten wollte, kam sie ihm zuvor und sagte in einem bewegten Tone, der darum nur umso eindringlicher war: »Ein Zufall brachte es gestern mit sich, daß ich Dich bis ins Herz sehen ließ; glaubst Du, in dem einen Tage oder durch eine solche Beichte, wie ich sie eben anhören mußte, könnte sich meine Ansicht ändern? Eine Ansicht, die in einem langen Leben unter Kämpfen jeder Art entstanden ist? Auch Du sprachst eben von meiner Gerechtigkeit! Ich hör' es noch heute, wie einmal solch' ein verlorenes Weib den Leuten zuschrie: Eure Frau ist eine verdammt stolze Frau, aber gerecht ist sie doch! – Durch das Wort soll ich geehrt werden! Wer dergleichen anzuerkennen vermag, darf doch selbst nicht anders handeln? Wie steht es aber mit Deiner Gerechtigkeit? Das, wovon ich gestern sprach, war immer mehr oder weniger Geheimnis des Hauses; gelitten haben nur wir Frauen darunter, nach außen hin, hat so lange ich denken kann, bis von den Großvätern her, die Ehre und die Respektabilität der Astenbecks Allen vorangeleuchtet. Gerade wir Frauen haben da gewacht und Jedes abgewehrt, was nach Unehrbarkeit hätte aussehen können. Und jetzt verlangst Du, daß ich mir für dieses unser Haus eine Nachfolgerin aufdrängen lasse, an der ein Makel hängt, wie er stärker an keinem Mädchen hängen kann?«
»Mutter!«
»Es ist so!« unterbrach sie ihn heftig. »Ob Du sie auch entschuldigst, ich kenne uns Weiber! und hierbei gar! Wie sehe ich sie Schlinge an Schlinge legen! Du mit Deiner Ehrlichkeit hattest nur hineinzutappen, bis Du über den Kopf drinsaßest! Vorn wie hinten Plan und Absicht! Den Sohn aus gutem Hause konnte man Dir wohl ansehen, es lohnte sich also! – Und ihre Mutter! Sie ist tot, darum will ich über ihr Thun und Lassen schweigen! – doch ihre Abwesenheit damals? Man kennt die Gefälligkeit solcher Mütter und weiß – –«
»Wie arm mußt Du sein!« rief Haus mit zuckenden Lippen, »daß Dir so traurige Vorstellungen geläufig sind! Du thust Franziska bittres Unrecht, wie noch mehr der Toten, die uns – wie oft – beschwor und warnte, da nicht zu hoffen, wo sie nur Unglück kommen sah. Immer war ich es allein, der auf Dich baute. Und heute? Doch Mutter, es kann nicht sein! Du wirst Dich mit der Zeit hineingewöhnen: ich verlange das nicht sofort, laß uns aber Alles in Frieden schlichten! Bereitwillig wollen wir Dir jedes Opfer bringen, uns in jede Anordnung fügen, die Dir nötig, ja, nur wünschenswert erscheinen könnte, selbst gleich wieder abreisen – nur in dem einen Punkte, daß ich vor meinem Fortgange von hier das zu unserer Heirat Notwendige in Ordnung bringe, darf sich nichts ändern!« Der Eifer, mit dem er gesprochen hatte, ließ sein ehrliches Gesicht geradezu schön erscheinen.
Die Mutter wurde von diesem Ausdruck betroffen: sie sah aber weniger dessen Schönheit, als die tiefe Wahrhaftigkeit das Gefühls darin und zugleich eine Art von Unbeugsamkeit, wie sie dann in den Mienen ihres Vaters hervorzutreten pflegte. Noch niemals war ihr eine Ähnlichkeit zwischen Großvater und Enkel aufgefallen! Dem Vater hatte sie nachgeben müssen, dem Sohn nie und nimmer.
Sie legte die Arme über einander und sagte mit eisiger Entschiedenheit: »Du wirst es mir lassen, daß ich Dich ruhig angehört habe! Thue jetzt das gleiche! – Ich nahm nun an, daß es mit Deinem Leben in der Fremde zu Ende ist, und daß Du dem Hause anfangs noch unter meiner Oberleitung – wieder ein männliches Haupt giebst, bis Du Dich verheiratest und ich mich zurückziehen kann. Dabei halte ich es auch für meine Pflicht, Dir mitzuteilen, daß ich, wie unsere übrige Familie, Tante Dore und Deine Geschwister, hofften, Meta würde an meinen Platz treten, damit sich unser Vermögen, was Dir schon als Kaufmann einleuchten wird, nicht zersplittert. Übrigens würde mir jedes andere Mädchen ebenso willkommen sein, daran zweifele nicht! An der Ehre dieses Mädchens darf aber selbstverständlich kein Makel sein. – Und so laß uns nun vereint darüber schlüssig werden, wie man sich mit Deiner Geliebten auseinander setzt! Sie muß lieber heut als morgen zurückexpediert werden, damit die Geschichte nicht erst in die Lästermäuler der Stadt kommt.«
Er nickte lässig vor sich hin.
Die Mutter nahm das für eine Zustimmung und ihre Augen erhellten sich, als sie hinzufügte: »Auf Lottens Schweigen können wir uns verlasen, und im ›Hochmeister‹ dürftest Du kaum gekannt sein? Wenn das aber auch der Fall wäre – ein Gerede, dem der Kern entzogen ist, fällt bald zusammen. Für das Beste hielte ichs, wir übergeben die ganze Sache unserem Ackermann: er ist aufs Wort verläßlich und in Geldgeschäften – darum würde es sich hier doch nur handeln – seit lange meine rechte Hand. Freilich wüßte Einer mehr darum! Ich fürchte aber, Du steckst noch zu tief in dieser Liebelei, um allein mit Anstand herauszukommen.«
»Du bist zu Ende?« Hans hatte scheinbar ruhig gefragt.
»Ja!« entgegnete die Mutter. »Wir Alten halten es einmal mit der Tugend, gar beim Weibe – und sind unser Leben lang dabei gut gefahren.«
»Ich will Dir nicht widersprechen!« antwortete er bitter. »Für die gewöhnliche, gemeine Notdurft des Lebens, für all die kleinen Leute, ich meine die mit kleinen Herzen und engen Gewissen, ist das wohl richtig, auch statthaft, weil es sie ohne Fährlichkeiten bis an ihr gottseliges letztes Stündlein bringt. Für uns Einzelne, die wir offenen Auges in die Welt sehen, und die wir uns schon durch allerlei Dickicht schlagen mußten, hat dergleichen aber blitzwenig Sinn und noch weniger Verbindlichkeit. Darum glaube nicht, daß es mir leicht ums Herz ist. Für mein Leben gern wäre ich nun heimgekehrt und mein eigener Herr geworden, doch mit einer Ehrlosigkeit vermag ich das nicht zu erlaufen. So muß denn wieder geschieden sein, Mutter!« Er sprang auf, während er mit einer jähen Bewegung seinen Sessel zurückschob.
»Hans!«
»Wir wollen uns nicht gegenseitig noch mehr erbittern!« sagte er fest. »Wie habe ich mich schon zusanmennehmen müssen – bei dem fast Unverantwortlichen, das Du mir vorher anzuhören gabst, um nicht zu vergessen, daß meine Mutter sprach. Jeder Andere hätte daran ersticken müssen!« Die Worte knirschten zwischen den Zähnen, dann fuhr er in der früheren Weise fort: »Ein für allemal also: Franziska wird noch in diesem Monat mein Weib! Jetzt, von hier aus, gehe ich unser Aufgebot anmelden. Mit achtundzwanzig Jahren weiß man endlich selbst, was zu thun oder zu lassen ist. Du sprachst immer von Verworfenen, und mischtest dabei bunt durch einander Dirnen und arme, von ihrer Liebe – meinetwegen sogar von ihrem Blut schlecht beratene, doch unbedingt aber rührend selbstlose Mädchen. Meine Fränzi mindestens war ein solches Mädchen! Das weiß ich, wie ich mich selbst in meiner Schwäche kenne. Ich, nur ich überwältigte sie – ihr Flehen, ihre Gewissensangst, ihren Gott, wenn Du willst! Und das war so herrlich, ein solcher Augenblick aus dem Himmel herabgerissen, daß ich der elendeste Schurke unter der Sonne wäre, wenn ich ihr das nicht dankte, oder mein Unrecht vielmehr einfach sühnte. Das heißt mich mein Gefühl, und dem wäre durch Nichts und durch Niemand auf der Welt beizukommen.«
Auch Frau Astenbeck erhob sich. Es berührte sie seltsam unheimlich, daß sie bei dieser vollen Auflehnung gegen jeden Gehorsam nicht die richtigen Worte der Entgegnung fand, die ihr doch sonst stets zu Gebote gestanden, und ihr oft das Heft wieder in die Hand gegeben hatten. Und was war es, was sie verstummen ließ? Mit einer solchen Entschlossenheit war sonst nur sie verfahren! Nun trat ihr die entgegen, und von wem? von ihrem Sohne! Zum erstenmale sah sie einem Mann ins Gesicht, wie sie sich wohl einst, als sie jung war, einen Mann gedacht hatte – ganz so fest, so klar und ohne Winkelzug. – Dennoch war es unmöglich, nachzugeben! Was blieb dann von ihrer Vergangenheit? von einer so lange streng ehrenwerten Vergangenheit! – Der Verwandtschaft, den Freunden des Hauses, ihren Untergebenen eine solche Tochter zuführen zu sollen – ein unerhörtes Verlangen!
»Da wären wir also wirklich am Ende!« sagte sie langsam. Ihre Stimme klang bei der Anstrengung, die sie machte, sie nicht zu erheben, rauh und heiser.
»Ich fürchte!« erwiderte er, »da Du eben mich und meine Lage nicht begreifen willst. Und doch ist Alles zu tragen, wenn es unser Herz auf sich nimmt – freilich nichts, wenn es schweigt: das Deinige schweigt, Du läßt mich lieber wieder gehen, als daß Du den Kampf mit einer Welt, die Du im Grunde verachtest – –«
»Woher glaubst Du das?« unterbrach sie ihn, indem sie zusammenfuhr.
»Bei dem ewigen Wind auf, Wind nieder dieses Popanzes von öffentlicher Meinung muß das jeder ganze Mensch, mindestens jeder, der von Niemand abhängig ist.«
»Du irrst, Du irrst!« entgegnete sie hastig, als müsse sie rasch über etwas fortkommen. »Uns Frauen stand das nicht zu: Gnade Gott, wenn wir uns jemals über die Sitte wegsetzen könnten!«
»So habe ich nichts weiter zu sagen!«
»Aber ich, mein Sohn!« rief sie nun beschwörend, »Du wirst Deine alte Mutter, die müde ist, und jetzt ganz auf Dich baute –«
»Quälen wir uns wenigstens nicht!« fiel Hans mit unterdrückter Heftigkeit ein, »ich darf und kann nicht anders!«
Frau Astenbeck atmete schwer auf, dann antwortete sie gefaßt: »Ich habe keine Gewalt mehr über Dich, was zerbrechen will, zerbricht! – Einen Wunsch wirst Du mir aber nicht versagen? Du thust die nötigen Schritte auf dem Standesamt erst von Hamburg aus, nicht, wie Du dachtest, gleich heute. – Länger hier bleiben würdest Du nun doch nicht?« Die Frage fiel wie nebenbei. Er schüttelte den Kopf. »So kommt noch Alles zur Zeit!« bemerkte sie, ihn starr ansehend. »Und ich könnte inzwischen die Verwandtschaft vorbereiten. Das eben halte ich für nötig und geziemend. Ich darf selbst hierbei nicht wie eine Landstreicherin verfahren. – Darum erwarte ich auch, daß Du Dich bei ihnen empfiehlst? Einen Vorwand für Deine Abreise wirst Du ja finden! Telegramm von Heymanns – oder dergleichen!«
»Wie Du willst! Ich werde also packen und morgen früh reisen.« Nach einem Augenblicke inneren Kampfes setzte er kurz hinzu: »Lebewohl sage ich Dir selbstverständlich noch!«
Die Mutter nickte nur; so hob auch er nur grüßend die Hand und verließ das Zimmer.
Frau Astenbeck setzte sich wieder; sie war mit den Blicken dem Sohne gefolgt und hielt auch jetzt noch die weitgeöffneten Augen auf die Thür geheftet, hinter der er verschwunden war. Fort? – für immer fort?! Und ein wahrhaftes Grauen vor der nun drohenden Einsamkeit, die sie doch so gut kannte und liebte, überfiel sie plötzlich. Bisher war ihr Hans immer bei ihr gewesen, wenn er auch noch so fern war! Was hatte sie sich Alles auszudenken gehabt, wie es kommen würde und werden sollte, wenn er und Meta erst im Hause wären. Jetzt? – Sie sah tief in sich hinein: da war auf einmal eine Stelle leer geworden, eine Stelle, die bis heute all ihre Gedanken eingeschlossen hatte. Und die Leere schien zu wachsen, und Etwas in ihr fragte schon: was belohnt noch? –
Scheinbar unvermittelt fielen ihr die Worte des Sohnes von dem Glücke seiner Liebe ein, und sein Zweifel, ob sie je Ähnliches erfahren habe – – weil sie sonst milder fühlen müßte. Und aus Grau und Ferne sah sie die Gestalt ihres Gatten auftauchen, seine junge Gestalt, Herzensgüte in den Augen und Zärtlichkeit: so unverändert war er von seinen Reisen heimgekehrt, und hatte immer nur ihrer gedacht! Die Zeit, die dann folgte! Auch sie wußte, was Glück war. – Später freilich, als sie von seiner Untreue erfahren hatte, von seiner ersten Untreue! Ah! – Wie rasch es anders wurde! – So scheu – er, voll verschwiegener Bitten um Nachsicht und trotzdem überall Heimlichkeiten! Und sie! – hätte sie milder sein können? Mußte es nicht hart in ihr werden! bei einem solchen Leid, bei der Schmach ohnegleichen. – Und Ähnliches heute wieder, bis zuletzt dasselbe Weh! O, das hatte sie nicht verdient! –
Sie stöhnte auf. – Als aber nebenan Schritte hörbar wurden, faßte sie sich sofort wieder. Doch die Schritte verloren sich, Hans mußte da nur etwas geholt haben! – Ihr Gatte hatte dort gewohnt – auch gestorben war er dort, mit den brechenden Blicken den geliebten Garten suchend, und zuletzt sie. Wie in dem Blick noch einmal etwas aus der Jugend aufgestiegen war, seine ganze Weichheit! In der Tiefe freilich waren die Vorwürfe stehen geblieben: der Vorwurf über sich und seine Schwäche, doch auch einer über sie! Als ob es besser gekommen wäre, wenn sie barmherzig zu ihm gestanden hätte, als er schuldig wurde, statt daß sie richtete?!
Sie erhob sich und ging mechanisch bis an eins der Fenster. So war auch die Frage wieder da, die ewige Frage! Warum fiel ihr die ein, jetzt ein? So lange hatte sie nicht mehr daran gedacht: es war zehn Jahre her, daß er starb, im nächsten Monat schon zehn Jahre. Ihre Blicke irrten den Stacketenzaun entlang und trafen auf die kleine Gaisblattlaube, in der ihr Gatte vor seinem Ende so oft gesessen hatte. Wenn sie ihn von hier aus sitzen gesehen, den Kopf müde, geneigt, die Hände schwerfällig auf den Stock gestützt – welches Erbarmen sie überkommen war! Wie es sie getrieben, mit ihm davon zu sprechen! Dennoch hatte sie es nicht gethan: allzutief war sie von ihm gekränkt worden. Er mußte sterben, ohne zu ahnen, was in ihr vorgegangen war! Sollte es wieder so kommen? Noch ein solcher Kampf? und wieder nichts, als die Genugthuung, fest geblieben zu sein! –
»Hans!« murmelte sie vor sich hin, »mußtest Du mir das anthun?«
Ihre Gedanken sprangen abermals ab. Es war nimmer, wie Hans es dargestellt hatte! Er war schuldlos, sie allein trug die Schuld, die Schlange, die sich so nach und nach seiner bemächtigt hatte. – Wie hatte sie denn ausgesehen? Blaß, krankhaft: nur in ihren Augen war etwas! Doch eine rechte Erinnerung von ihr besaß sie nicht.
Nur das Kind sah sie deutlich: – das Kind von Hans! Christel hieß es: das erste Mädchen unter ihren Enkelkindern. O Gott, wie schön und gut könnte Alles sein! –
Da hörte sie drüben die Thür öffnen, die auf den Flur führte: Hans ging. Sie trat bis an ihren Schreibtisch zurück und spähte nach dem Hofe hinunter; ja, er ging! – So strack und resolut wie sonst: er schien unbekümmert. Und was brauchte ihn auch zu bekümmern? Das Leben lag vor ihm, tüchtig war er, mit welchem Lobe hatten Heymanns noch jüngst seiner Tüchtigkeit in Brasilien gedacht, wie wünschten sie ihn festzuhalten – und überdies hatte er an Liebe, was er an Liebe bedurfte! So hatte er Alles, sie nichts! –
Unter den Pappeln der Chaussee erschien er nun von neuem, nachdem er eine Weile durch die Hofgebäude verdeckt worden. Da blieb er stehen: ob er herübersah? Was hätte sie darum gegeben, nun seine Gedanken zu kennen! Freilich Gedanken, die sich ihrem Willen fügten, würden es doch nicht sein: er war so fest wie sie – ihr ganzer Sohn! Ihre Augen leuchteten in unbewußtem Stolze auf. –
Und auf einmal fielen ihr allerlei Fälle ein, die sie mit erlebt, wo Eltern nachgegeben hatten und dann alles gut geworden war. Wie auch der Vetter Stein immer verlangte, daß die Alten nachgiebig wären, weil sie die Empfindungen der Jugend nicht mehr verständen und darum ihre Leiden unterschätzten. Er hatte darnach gethan und sich so seine Lisbeth trotz ihrer Mißheirat erhalten; gerade im Hause der Tochter war er in Frieden gestorben. Und in welcher Dankbarkeit hatte sie ihn gepflegt!
Als Haus weiter schritt und seine Gestalt undeutlicher wurde, steigerte sich Frau Astenbecks Angst mehr und mehr. – Vorüber jede Hoffnung: der Vetter hatte grausam Recht – nichts Ernsteres, als der junge Mensch, der weiß was er will! Alle Kraft steht zu ihm, und aller Mut der Jugend. Was stand zu ihr? Ja, es war, als entsänke ihr jetzt selbst ihre letzte Stütze, ihr Stolz, an dem sie sich doch bis dahin stets wieder aufgerichtet hatte. – Dazu kam ein Fragen über sie, erst leise, dann immer dringender, ob sie es überhaupt vermöchte, noch einmal Öde um sich her zu schaffen! Und ob es nicht eine Versöhnung mit ihrem Toten wäre, wenn sie dem Sohne nachgäbe? Auch war es ja so, wie er's ihr auf den Kopf zugesagt hatte! Spottwenig kümmerte sie sich um das Gerede der Anderen, wenn sie nur mit sich einig war. Das aber – das! Wie es erlangen? –
Doch wenn Haus nun die Wahrheit gesprochen hätte, seine Geliebte ganz die wäre, die er ihr geschildert? wie er schon darin Recht hatte, daß sie keine Dirne war! – Oder wenn sie im Rechte bliebe? sich an dem Mädchen nichts als Unwürdigkeit und niedrige Selbstsucht zeigte? – Ein paar Minuten des Sehens, wenige Worte mußten schon entscheidend sein! –
Und warum nicht? Eine bloße Prüfung? Was war da vergeben? Sie vergab sich nichts, eher forderte es die Billigkeit gegen den Sohn und das Weib! – Auch war noch immer gut gewesen, was sie rasch gethan! – Da verschwand Hans auf dem Wege, der nach der Friedensau führte. Er ging also zuerst zu den Verwandten! –
Sie widerstrebte noch einen Moment, dann klingelte sie. Flore mußte dem Klingelzuge etwas Ungewöhnliches angemerkt haben, sie kam in höchster Eile. Frau Astenbeck befahl, von neuem anzuspannen. –
Bald darauf hörte Franziska Düben an ihrer Thür ein festes Klopfen. Sie war Christel hätschelnd im Zimmer umhergegangen, blieb nun jedoch betroffen stehen und rief auch in einem gewissen Zagen: »Herein!« Wer konnte sie hier aufsuchen?
Sobald die Stadträtin aus dem Schatten an der Thür trat, erkannte Franzisca die strenge Frau und barg unter unwillkürlichen Erschrecken Christel an der Brust. »Die Großmutter!« floh es zitternd über ihre Lippen. –
Dann aber legte sie das Kind hastig in die Wiege zurück und sagte, an dieser mit gefalteten Händen stehen bleibend: »Vergeben Sie meinen Schreck! Ich war unvorbereitet!«
»Natürlich konnten Sie nicht ahnen, mich hier zu sehen!« entgegnete die Stadträtin herbe.
Franziska sah ihr angstvoll in die Augen, erwiderte aber in aufsteigendem Zutrauen: »Doch daß Sie selbst zu mir kommen, kann ja nur Gutes bedeuten! Ich weiß es nun schon! O mein Gott, lieber Gott!« Ihre Augen füllten sich mit Thränen und eine solche Anmut und Reinheit war um die stille, noch so jungfräuliche Gestalt, daß Frau Astenbeck sie nur stumm anzusehen vermochte.
Als die Stadträtin nach einer ganzen Weile noch immer schwieg, fuhr Franziska anfangs stockend, bald aber freier, ja, voll bescheidener Würde fort: »Es ist von uns gefehlt worden, ich fühle das am schmerzlichsten! Doch ich habe schon hart gebüßt – Sie werden mir das glauben! Meine arme Mutter! wie hat sie noch auf dem Sterbebette um mich gebangt! – weil sie Hans nicht kannte. Ich bangte nie, nicht einen Augenblick: er hatte mir sein Wort gegeben, das hätte nur einer brechen können – der Tod!«
»Sie waren sehr sicher!« versetzte Frau Astenbeck mit Stirnrunzeln. »Für so gering achteten Sie seine Rücksicht auf mich? die Wünsche der Mutter?«
»Ich verstehe Sie nicht ganz!« antwortete Franziska, sich mit der Hand auf die Wiege stützend, »Wie er Sie mir geschildert hat – bei Ihrer strengen Rechtlichkeit, da hätten Sie zwar Ihren Segen verweigern, doch Hans nie zumuten können, seiner Pflicht zu vergessen!«
»Seiner Pflicht?« wiederholte die Stadträtin in vollem Hohne. »Und Sie glauben, daß er nur Pflichten gegen Sie hat, aber keine gegen das Elternhaus? Gegen dieses Haus, das ihn fünfundzwanzig Jahre vor Ihnen besessen hat, und das jetzt hoffte und sich rüstete, in ihm sein Oberhaupt zu finden! – Unsere Stadt ist nicht groß, wir nehmen hier aber den ersten Platz ein; in Hamburg bliebe er Diener sein Leben lang. Und das Alles halten Sie für nichts? Oder doch gerade gut genug, um für eine einzige leichtsinnige Stunde hingeworfen zu werden?«
In Franziska krampfte sich etwas zusammen; wenn Hans das ebenso ansehen könnte, jetzt schon ansähe? Doch nein, nimmermehr? Keinen unrechten Gedanken über ihn! – So richtete sie sich auf und erwiderte: »Gewiß! unser Loos ist kein leichtes, Wir sind aber Beide entschlossen, alles hinzunehmen, was Sie über uns bestimmen. Denn das Eine könnten doch selbst Sie nicht wollen – einen Sohn zu besitzen, der wortbrüchig würde und damit sein Kind vaterlos machte? Und es handelt sich um Hans, der die Ehrenhaftigkeit selbst ist!« Ihr felsenfestes Vertrauen strahlte wahrhaft aus ihren Blicken.
Durch Frau Astenbecks Gedanken, ja, bis in ihr Herz hinab ging ein Riß: wie anders hatte sie sich dies Mädchen gedacht, wie anders sie noch eben auf der Herfahrt vor sich gesehen! Immer nur in demütiger Reue und alle Gnade von ihr erhoffend! – Vor dieser ruhigen Sicherheit, der ein Zweifel an der Erfüllung ihres Anspruchs überhaupt nicht kam, war sie völlig machtlos. Ein seltsam ungewohntes Gefühl! – Zürnend wollte das Blut aufwallen: war ihre Einwilligung wirklich keiner Bitte wert? Bei einem solchen Opfer! – Dabei sie, die Greisin mit der makellosen Vergangenheit, und diese leichtfertige – – nein! das war sie nicht; kein Zug ihres Wesens deutete darauf – Hans ist der Schuldige! So hatte sie zu fordern, nicht zu erbetteln.
Wenn sich Frau Astenbeck dieser bitteren Erkenntnis nicht verschloß – eine geheime Abneigung grollte noch in ihr nach und sie blickte an der jungen Frau vorbei über das Zimmer hin. Aber selbst da bemerkte sie nichts, was ihr zu wirklichem Mißfallen hätte Anlaß geben können: das Zimmer lag so eigen klar da, wie ein anderes Spiegelbild seiner Bewohnerin. Nirgend war Ungehöriges zu entdecken; die Koffer standen geschlossen, jene verschiedenartigen Gerätschaften, deren es bei einem so kleinen Kinde bedarf, lagen bei einander auf Stühlen an der Wiege, alle Wäsche war sauber und schneeig weiß, auf dem Fensterkopf lag sogar eine angefangene Stickerei – unwillkürlich mußte sie daran denken, wie es in diesem Raume aussehen würde, wenn Lore oder Hilda ihn unter solchen Umständen bewohnten. Und auf einmal empfand sie mit einer Art von freudigem Schreck, daß dies wohl gar eine Schwiegertochter recht nach ihrem Herzen sein könnte. –
Franziska sah erwartungsvoll zu ihr nieder, wagte aber das Schweigen wohl nicht mehr zu unterbrechen.
Doch endlich mußte gesprochen werden, das fühlte Frau Astenbeck: ehe sie aber die rechten Worte fand, um Franziska einzugestehen, daß sie sich von ihr allerdings ein ganz anderes Bild gemacht hätte und jetzt Manches anders beurteile, da hörte sie rasche Tritte näher kommen, die sie nur zu gut kannte. Sie beugte sich in einer, von ihr noch niemals empfundenen Befangenheit über Christel und ließ sich unter einem Sturm der widersprechendsten Gefühle von ihr anlachen, während Franziska dem Eintretenden entgegeneilte. – Eine Minute völliger Fassungslosigkeit ging über die drei Menschen hin, bis Frau Astenbeck dem beweglichen Geangel von Christel nicht mehr widerstand, sie aufnahm und sich mit ihr auf den Armen umwandte.
Hans hielt Franziska umschlungen und hatte ihren Kopf an seine Brust gedrückt. – Er vermochte nur unter einem weichen Lächeln zu sagen: »Als ich drüben den Wagen stehen sah, wußte ich schon Alles!«
»Deinetwegen kam ich nicht!« versetzte die Mutter, indem sie zärtlich auf Christel sah.
Hans trat zu ihr und erwiderte mit bebender Stimme: »Und doch hast Du mich sehr glücklich gemacht!« Er preßte sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. »Dank, tausend Dank! Nun ist Alles gut! Das allein wünschten wir uns! – Es bleibt natürlich bei der morgigen Abreise, Du wie wir sollen keinerlei Demütigungen zu ertragen haben! Vielleicht nach Jahren, wenn die Welt vergessen haben wird, dürfen wir uns noch ein wenig näher kommen, das sei unsere neue Hoffnung!«
Die Stadträtin schüttelte den Kopf: »Nein, Ihr bleibt bei mir!«
»Mutter!« rief Hans halb bestürzt, halb aufs freudigste bewegt. »Legst Du Dir auch nicht zu viel auf?«
»Ich meine nicht!« antwortete sie tief aus ihren Gedanken heraus, vor denen plötzlich wieder ihr Gatte stand. Dann schloß sie mit ihrer gewohnten Energie: »Demütigungen, sagtest Du? Von wem? Ihr habt nach Keinem mehr zu fragen, wenn ich Euch verziehen habe!«
* * *
Der nächste Frühling war ins Land gekommen, nach seiner Art hier zögernd und spät – und doch schien er nun bereits im Gehen. Das Laub begann dunkler zu werden, und selbst die Büsche spanischen Flieders auf dem Rondel vor der Hinterfront der Astenbeck'schen Villa hatte abgeblüht.
Heute gab es aber noch einen echten Frühlingstag, der wie ein Nachzügler der Frühlinge des Südens die Luft ganz mit Licht und wonniger Wärme füllte. Wohl fehlte der Glanz des Südens, doch Wohlsein bis ins Herz hinein schuf er auch hier.
Alle Fenster der Villa standen offen, bis hinunter zu den Bogenfenstern der Küche. Da hatten sich die Astenbeck'schen Leute zum Vesperbrot versammelt und blickten ebenso neugierig wie teilnehmend zugleich nach der großen, halbrunden Weinlaube hinüber, die an dem Rondel lag. Vor dieser war ein dicker Teppich hingebreitet, worauf ein Tisch und Rohrsessel und Christels Wägelchen standen, während diese selbst unter den wachsamen Augen von Mutter und Großmutter auf dem Teppich mit ein paar kleinen Puppen spielte, das heißt, sie hin und herwarf, und dann flugs hinter ihnen dreinrutschte.
Als Gottfried Watzeck seine dritte Tasse Kaffee getrunken hatte, gab er den Empfindungen Aller Ausdruck, indem er schmunzelnd sagte: »Ist das ein Leben jetzt! Über so was Junges und Respektables im Haus giebt's schon nichts! Unsre Frau weiß das auch; heut die ganze Fahrt über hat sie wieder so freundlich ausgesehen und hat komplett gelacht!«
»Ach!« zweifelte die Köchin.
»Ich sag' Ihnen, Malchen, gelacht!« behauptete Gottfried, höchst entrüstet über ihren Zweifel. »Ich seh' doch, was ich seh'! Und hat sie keine Ursach' dazu? Wie führt der junge Herr das Regiment! Es ist der reine Staat – das sagen Alle! – Da kommt er gerade – und die Frau Tante und Fräulein Meta mit!«
Die Köchin, die eben auf einem großen Tablet das Kaffeegeschirr zusammenstellte, sah rasch hinaus und sagte, während sie noch zwei Tassen aufsetzte: »Jetzt nur fix, Trude! ich jlaube, die Frau hat schon herjesehen.« –
Bei der warmen Begrüßung zwischen den beiden Damen und Franziska Astenbeck, die ihnen entgegengegangen war, knurrte die alte Lotte: »Ist das nu schon 'ne Freundschaft: Im Anfang hielt es sich noch sehr damit. Was die liebe Zeit nicht thut!«
»Und die Frau Stadtrat!« entgegnete die Köchin kurz. »Wie die was anjesehen haben will, so wird es angesehen!«
»Da haben Sie wieder mal Recht, Malchen!« rief Watzeck eifrig, der bei Lottens verstecktem Angriff auf die Hausehre seines Hans an liebsten gleich dazwischen gefahren wäre. »Wie's vordem auch gewesen ist, gut ist's gewesen: das sage ich! Denn ein junger Herr wie unserer, der soll noch gesucht werden. Na, und seine kleine Puppe erst! s'ist ja nicht auszuhalten, wenn sie Einen ankräht!« –
Diese Thatsache, mußte selbst Lotte innerlich zugeben. Und so waren die »vergangenen« Liebesleute seit Jahren wieder einmal im Stillen einig. Nach außen ließ sich das Lotte natürlich nicht anmerken. – es stand nur auf ihrem verklärten Gesicht. Denn Christel war ja sofort – mit ihrem Einzuge ins Haus – die letzte Liebe dieses jungfräulichen Herzens geworden.