Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Gabriele fand ihren Gemahl mit Anstalten zu einer großen Reise vollauf beschäftigt. Die Bäder von Pisa und die wärmeren italienischen Lüfte waren ihm als einziges Rettungs- und Linderungsmittel verordnet worden, und er hatte Gabrielens Herstellung bis jetzt mit der größten Ungeduld erwartet, weil er auf ihre Begleitung rechnete. Doch ihre fortdauernde Schwäche schien die Möglichkeit derselben auf viele Monate hinausschieben zu wollen und er, der wenig Zeit zu verlieren hatte, sah sich deshalb durch den Ausspruch der Ärzte genötigt, einstweilen, wenngleich ungern, darauf zu verzichten. Ein geschickter angehender Arzt, der gern diese Gelegenheit benutzte Italien zu sehen, erbot sich indessen, während der Reise die Pflege des Kranken zu übernehmen, und sein Erbieten wurde um so lieber angenommen, da ihn Moritz schon seit geraumer Zeit als einen vorzüglich heitern Gesellschafter und ausgezeichnet-guten Schachspieler kannte.

Nach der Abreise ihres Gemahls blieb Gabriele in so wunderbar-schwankendem Zustande zurück, daß Frau von Willnangen es gar nicht wagen mochte, ihrer Rückreise nach Lichtenfels zu den Ihrigen nur zu erwähnen. Zwar war Gabriele eigentlich nicht mehr krank zu nennen, denn kein merkliches Fieber, kein entschieden-schmerzhaftes Empfinden quälte sie am Tage oder raubte ihren Nächten den Schlaf. Ihr Auge strahlte heller als je, ihr ganzes Wesen zeugte von erhöhtem innern Leben, aber eine unerhörte Mattigkeit lähmte und hemmte jede, noch so wenig anstrengende Äußerung desselben und zwang sie oft stundenlang, nur mit den Augen zu ihren Lieben zu sprechen. Jeder Tag schien sanft und linde die Lösung eines neuen Bandes der gefesselten Psyche zu beginnen, die schon jetzt freier sich bewegte und, halb der ewigen Heimat zugewendet, dem schwindenden Erdenleben noch wie zu guter Letzt alle Liebe und Teilnahme zeigte, die sie ihm zuzuwenden vermochte.

Abends sank Gabriele oft wie halb vernichtet hin, wenn die fragelustige Schar gewöhnlicher Besuche an ihr vorübergerauscht war, denen sie jetzt, während der Entfernung ihres Gemahls wenigstens auf ein Paar Stunden des Tages ihre Türe öffnen mußte, wollte sie um der Welt willen sie nicht auch zugleich Hippoliten verschließen.

Die Kunst der berühmtesten Ärzte der Residenz wurde aufgeboten; Frau von Willnangen wachte mit unermüdlicher Sorgfalt über die geliebte Tochter ihres Herzens und war nur bedacht, Unangenehmes oder Schädliches von ihr zu entfernen. Hippolit brachte alles herbei, war es noch so selten, noch so schwer zu erhalten, was er nur irgend zur Erquickung oder Pflege der geliebten Leidenden ersinnen konnte; doch ihr Zustand blieb immer und unabänderlich derselbe. Früh, beim ersten Morgengruße, fand Frau von Willnangen sie oft in wehmütigem Nachdenken versunken, aber sowie die Freundin sich zeigte, erglänzte ihr Blick wie gewöhnlich; sie winkte sie zu sich und lehnte schmeichelnd das Haupt voll lichter Locken an ihre Brust; ein liebseliges Lächeln glitt über dem bleichen Gesichte hin, wie ein winterlicher Sonnenstrahl über ein Schneegefilde, und die durchsichtig zarte blendende Hand strich freundlich unter beruhigenden Schmeichelworten jede sorgliche Falte von der Stirne der geliebten mütterlichen Frau. So blieb Gabriele gewöhnlich den ganzen Tag über, bis sie abends, gänzlich erschöpft, dem Schlummer sich zuneigte, stets liebevoll, freundlich und ihren Freunden in heitrer Aufmerksamkeit zugewendet. Nur wenn ihr Blick auf Hippoliten, von ihm ungesehen, ruhen konnte, dann zuckte zuweilen ein schmerzliches, dem Weinen nahverwandtes Lächeln um die sanftgeschlossenen Lippen. Eine ängstlich unbestimmte Ahnung ergriff dann oft das Herz der Frau von Willnangen, denn ihrem stets wachen Blicke durfte auch nicht die kleinste Bewegung ihres Lieblings entgehen. Zuweilen stiegen aber auch in solchen Momenten freudigere Hoffnungen in ihr auf, ähnlich denen, welche Ottokar sich zum Troste ersann. Ernestos frühere Briefe aus Italien hatten die edle Frau längst zur Vertrauten Hippolits gemacht, ohne daß dieser es ahnete, und sie bemerkte jetzt in schweigender Bewunderung, wie treu er seine glühende Liebe und seine bange Sorge mit gleicher Anstrengung und, wie sie glaubte, auch mit gleichem Glücke Gabrielen zu verbergen suchte. Nur wenn der Zufall die Freundin der Heißgeliebten mit ihm allein zusammenbrachte, dann rief ein einziger zitternder Druck seiner Hand, ein einziger schmerzenvoller Blick ihr seine innere Qual weit deutlicher zu als Worte es vermocht hätten. Doch blieb jede laute Klage fern von ihm; denn, wo hätte er anfangen sollen und wo enden? Aber das weiche Herz der Frau von Willnangen zerfloß dennoch in Mitleid mit dem Armen. »Lassen Sie uns auf den Frühling hoffen, guter Graf Hippolit!« sprach sie in solchen Stunden ihm oft zum Troste. »Im Frühlinge richten alle Blumen sich wieder auf, auch unsere schöne Freudenblume wird in ihm wieder erblühen, lassen Sie uns nur getrost die nahe Zeit erwarten.«

Der Frühling kam, mit seiner Herrlichkeit, mit seinem milden, belebenden Hauche. Überall sproßten neue Blumen, überall erwachte das schlummernde Leben, aber Gabrielens Zustand blieb sich gleich, ohne alle merkliche Abänderung weder zum Schlimmem noch zum Guten, und die bange ängstliche Besorgnis ihrer Freunde stieg peinlicher mit jedem Tage.

 

Endlich kam es dahin, daß den Ärzten nichts übrig blieb, als die gewöhnliche Zuflucht in Fällen, wo ihre Kunst sie verläßt, der Rat: Heil und Genesung in einem ruhigen ländlichen Aufenthalte und in frischer Waldesluft zu suchen.

»Ja, auf dem Lande!« rief, als sie dieses vernahm, Gabriele mit ungewohnter Lebendigkeit. »Ja, auf dem Lande, da werde ich genesen; in Schloß Aarheim, wo ich geboren ward! Dorthin, liebe Frau von Willnangen, dorthin bringen Sie mich, dort wird es mit mir besser werden, ich weiß es. In den Armen meiner zweiten Mutter werde ich in Schloß Aarheim alles Weh schwinden sehen und ein neues Leben beginnen!«

Eine eigne Bangigkeit bemächtigte sich der Frau von Willnangen bei diesen, in fast prophetischer Begeisterung ausgesprochenen Worten, so tröstlich sie übrigens klangen, und auch Hippolit, der eben zugegen war, fühlte sich sonderbar dabei ergriffen. Gabriele bemerkte es und strebte durch erheiterndes Gespräch den Eindruck wieder zu verlöschen, den sie unwillkürlich bei ihren Lieben erregt hatte. Sie sprach viel von der wilden ernsten Pracht ihres Gebirges und von dem ehrwürdigen Ansehen und Alter ihrer Burg.

»Sie können mich jetzt doch nicht verlassen!« setzte sie hinzu, den bittenden Blick zur Frau von Willnangen erhoben. »Sie müssen ja die Wiege Ihres Kindes sehen und den Ort, wo meine Mutter lebte; ach! wie werden meine armen alten Burgbewohner sich wundern und freuen, wenn sie die Nievergessene in ihrem hochverehrten Ebenbilde wieder unter sich wandeln zu sehen glauben werden!«

»Mein Kind, mein herzliebes Kind, meine Gabriele!« rief Frau von Willnangen und nahm sie recht liebend in ihre Arme; »wie könnte ich jetzt von dir gehen, solange du meiner Pflege noch bedarfst? Mögen die Meinigen noch immer mich ein Weilchen entbehren, Auguste hat ihre Kinder und den Oheim, die geben ihr Freude und Beschäftigung, wenngleich Adelbert, von mancherlei Geschäften behindert, jetzt wenig daheim ist. Ich weiß, sie selbst würde mich schelten, wenn ich ohne die Gewißheit deiner völligen Genesung zurückkäme.«

Beide Frauen vertieften sich nun im Gespräche über die Vorkehrungen zu dieser kleinen Reise, die sie, von Gabrielens sehnsüchtiger Ungeduld getrieben, gleich in den nächsten Tagen anzutreten beschlossen. Hippolit blieb dabei ein stummer Zuhörer, während Gabrielens hochklopfendes Herz ihr nicht erlaubte, ihm nur einen Blick, viel weniger ein Wort, zuzuwenden. In banger Ungewißheit sprach sie immer fort, sie wußte kaum was, bis Frau von Willnangen, die nur zu gut sie verstand, sie aus dieser Verlegenheit zog.

»Und Sie, Graf Hippolit! Wo bleiben Sie?« fragte diese, den freundlichen Blick ihm zugewendet, da Gabriele eben von der Wahl des Fuhrwerks sprach.

»Und ich!« erwiderte er mit einem Ton, in welchem all sein Wünschen, sein Hoffen, sein sehnendes Erwarten lag.

Gabriele fühlte in den tiefsten Tiefen ihres Herzens diesen Ton widerhallen. »Mag Frau von Willnangen entscheiden, ob wir in Abwesenheit meines Gemahls den Grafen nach Schloß Aarheim einladen dürfen«, fiel sie hoch errötend ein und wagte es nicht, die Augen dabei aufzuschlagen, um durch keinen Blick den Ausspruch der Freundin zu leiten.

»Ich sehe nicht recht ein, warum wir es nicht dürften«, erwiderte nach sehr kurzem Bedenken Frau von Willnangen mit möglichster Gleichgültigkeit und blickte dabei recht emsig auf ihre Arbeit, um beide zu schonen; doch niemand antwortete ihr. Es entstand eine für den Moment recht drückende Pause, der Frau von Willnangen nur dadurch ein Ende zu machen wußte, daß sie begann, etwas umständlich ihre Meinung von dem qu'en dira-t-on und von der Nachgiebigkeit, die man ihm schuldig ist, auseinanderzusetzen.

»Diese sogenannte Welt«, sprach sie, »der wir von Kind auf so manches schwere Opfer bringen müssen, ist doch, beim Lichte besehen, ein sehr schwankendes chamäleonartiges Wesen; jeder von uns hat seine eigne, die Hofdame wie die Schneidersfrau, so wie man sagt, daß auch jeder seinen eignen Regenbogen hat; jeder ehrt nur die seine und ignoriert alle übrigen und am Ende läuft es mit allen diesen ideellen Welten, wie mit dem Regenbogen auch, nur auf eine optische Täuschung hinaus. Millionen Regentropfen, von denen ein einzelner doch nur sehr wenig ist, setzen vor unsern Augen das stattliche Phantom zusammen, das in kühnen Bogen die halbe Erde zu umfassen scheint, und wenn wir die einzelnen Glieder der Menge betrachten, deren gesamtes Urteil uns so bedeutend dünkt, daß wir es zur Richtschnur unsrer Handlungen erheben, so möchte die Mehrzahl derselben wohl auch nicht viel größern inneren Gehalt haben als solch ein kleiner farbloser fader Wassertropfen.«

»Sie sprechen aus meiner Seele«, rief Hippolit mit ungewohnter Lebhaftigkeit. »Wahrlich ja, Sie haben recht! Wir brauchen nur die einzelnen recht ernstlich ins Auge zu fassen, die wir in unsrer Idee zu einem Ganzen versammelt, als Richter über Glück und Unglück anzusehen uns gewöhnten, um verachtend und über unsre bisherige Verblendung lachend, aus der schimpflichen Knechtschaft zu scheiden.«

»Sachte, sachte, junger Freund!« erwiderte freundlich, wenngleich mit aufgehobenem drohenden Zeigefinger, Frau von Willnangen. »Was ich andeuten wollte, war nicht ganz so gemeint, wie Sie es nehmen. Nie soll man ohne die äußerste Not, der öffentlichen Meinung den Krieg ankündigen. Eine große Masse, sie sei zusammengesetzt wie sie wolle, ist immer etwas Furchtbares und hat Ansprüche auf unser Nachgeben in billigen Dingen; sie rächt sich schwer und sicher, wenn wir es ihr versagen. Indessen muß ich mich aber doch zu dem Glauben bekennen, daß es Fälle geben kann, in welchen es erlaubt, sogar billig ist, einmal eine Ausnahme von der großen Regel zu machen und sich nicht viel um das zu kümmern, was die andern etwa sagen möchten. Zum Glück aber sind diese Fälle obendrein gewöhnlich solche, bei denen gerade diese aus Leuten zusammengesetzte Welt, trotz ihrer gewohnten Kälte und ziemlicher Absurdität, dennoch zuletzt sich bewogen findet, uns beizustimmen.«

Frau von Willnangen schwieg hier, doch da niemand das Gespräch fortzusetzen den Mut bezeigte, nahm sie nach einer kleinen Pause es wieder auf. »Ich glaube«, sprach sie, »daß die Frage, ob der Graf uns nach Schloß Aarheim begleiten soll oder nicht, gerade zu jenen Fällen gehört, deren ich eben erwähnte. Man hat sich seit langem schon gewöhnt, ihn als zu uns gehörend zu betrachten, man hat sich schon tausendmal darüber so müde gesprochen und gewundert, daß man vielleicht sogar recht erfreut wäre, durch sein Hierbleiben, während wir fortgehen, neuen Anlaß zur Verwunderung und zu Mutmaßungen zu erhalten. Überdem bin ich überzeugt, daß das, was man über seinen Besuch auf Schloß Aarheim sagen könnte, so wenig von dem verschieden sein wird, was man bis jetzt wahrscheinlich schon gesagt hat, daß es deshalb wohl schwerlich der Mühe verlohnen möchte, uns ein Entbehren aufzulegen, welches wir alle drei doch schmerzlich empfinden müßten.«

»Ich bitte, lassen Sie uns in dieser Stunde noch nichts entscheiden«, nahm jetzt Gabriele das Wort. »Morgen sind wir ruhiger, dann sehen wir alle heller, was zu tun ist, was nicht? Ich würde es dann vielleicht am liebsten Hippolits eigner Entscheidung überlassen, ob er sogleich in diesen Tagen uns begleiten will, oder ob er es für besser hält, später meiner Einladung zu folgen, wenn –« Ein kleine augenblickliche Schwäche verhinderte sie, hier zu vollenden und zwang sie Ruhe zu suchen.

Ernestos höchst unerwartete erfreuliche Erscheinung machte am folgenden Tage allem Zweifel und allem Beraten über diesen Gegenstand ein Ende. Er stand plötzlich in der Mitte seiner Freunde, ohne daß einer von ihnen seine nahe Ankunft nur geahnet hatte, denn der Brief, der sie Hippoliten verkünden sollte, war verspätet oder vielleicht verloren; ein gar nicht ungewöhnlicher Fall auf den italienischen Posten. Hippolits beängstende Darstellungen von Gabrielens Zustand, vereint mit Ottokars dadurch veranlaßter und mit jedem Tage wachsender Besorgnis um sie, hatten ihn aus seinem geliebten Rom getrieben. Er wollte selbst sehen, helfen, retten, trösten wo es not tat, und nun schien bei seinem lange entbehrten Anblicke Gabrielen neues Leben zu durchströmen. Sie eilte auf die erste Nachricht seiner Ankunft ihm entgegen, fröhlich und leicht, fast wie ehemals; ihre bleichen Wangen rötete die Freude, und ihr ganzes Wesen schien mit einem Male alle bangen Besorgnisse ihrer Freunde vernichten zu wollen.

Ernesto und Frau von Willnangen erklärten scherzend den Anstand für völlig abgefunden, jetzt da die Damen nicht mehr nur einen, sondern zwei Männer des Glückes würdigten, sie begleiten zu dürfen, und Gabriele hatte ihre eignen stillen Gründe, ihren Freunden hierin nicht zu widersprechen.

Die Reise ging vor sich wenige Tage nach Ernestos Ankunft und unter den frohesten Hoffnungen, zu denen Gabrielens fortwährendes Wohlbefinden alle zu berechtigen schien. Die Luft ihres Geburtsortes, die Ruhe, die Stille, der balsamische Waldeshauch bewirkten augenscheinlich ein Wunder, dessen Anblick alle Bewohner der Burg mit unbeschreiblicher Freude erfüllte. Nur Ernesto hatte dem kleinen Kreise dieser durch die innigsten Bande vereinigten Menschen noch gefehlt; mit ihm war erst das rechte Leben unter sie gekommen, in ernstem Scherze und frohem Ernste, in ewig rascher Teilnahme und stetem unterhaltenden Wechsel der sie aufregenden Gegenstände. Ihnen selbst schien ihr Glück unermeßlich. Doch leider sank es nur zu bald wieder, wie alles Glück dieser Erde.

Gabriele vermochte nur kurze Zeit, alle den Wonnen und Schmerzen zu widerstehen, die stärker als je zuvor heimlich auf sie einstürmten. Ihre Kräfte schwanden ebensoschnell, als sie wiedergekehrt waren, und ihre Lieben begannen von neuem, sie und einander mit immer hoffnungsloserem Blicke zu betrachten, besonders Ernesto. Er allein las deutlich in Gabrielens Herzen alles unausgesprochene Weh, unter dessen Last es erlag, und sein eignes drohte vor Schmerz und Reue zu zerspringen, wenn er daran dachte, daß er Jahre vorher mit prophetischem Geiste alles vorhergesagt habe, was jetzt in trauriger Erfüllung ihn der Verzweiflung nahe brachte und daß er doch dabei verblendet genug gewesen sei, um nicht Hippolits Rückkehr zu Gabrielen aus allen Kräften zu verhindern. Er begriff es nicht, wie es ihm möglich gewesen, die Gefahr zu übersehen, welche die Nähe des schönen, liebenswerten Mannes, verbunden mit seiner heißen, edlen, alles opfernden Liebe ihrem Frieden, ja endlich ihrem Leben bringen mußte. Die drei Jahre, welche, wie er wußte, Gabriele mehr zählte als Hippolit, hatten freilich aus der Ferne ihm ihr Verhältnis zu diesem verschoben und ihn einem Irrtum zugeführt, den Gabriele mit ihm teilte, bis auch sie zu spät ihn erkannte. Das einzige, woran er sich noch aufrecht zu halten vermochte, waren jetzt Ottokars auf Moritzens baldigen Tod gebaute Hoffnungen, die er diesem bis jetzt aus Schonung des Freundes nur halb zugegeben hatte.

Indessen ward in dieser Zeit das Leben in Schloß Aarheim das rührendste und erfreulichste, das schmerzlichste und seligste, das man zu erdenken vermag. Gabriele wandelte unter ihren Lieben wie ein schöner verklärter Geist, der schmerzensfrei nur die Seligkeit empfindet, welche die Gegenwart der geliebtesten Freunde zu gewähren vermag. Niemand wagte es, in ihrem Beisein nur durch einen Blick den bangen vorahnenden Schmerz auszusprechen, der allen am Herzen nagte, ja sie vergaßen ihn oft in ihrer erhebenden Nähe. Es war, als ob Gabriele jetzt, am Rande des Grabes, noch die Quintessenz des Lebens genießen wollte, denn sie sammelte alles, was jemals es ihr verschönt hatte, mit zartem Sinn und fern von aller Ziererei um sich her: erheiterndes Gespräch, bildende Kunst, Poesie und Gesang. Sie nahm an allem teil mit ewig frischem jugendlichen Geist; nichts, was Trauer bezeichnet, keine noch so ferne Andeutung von Scheiden, von Trennung durfte ihr nahen. Ihre innere Heiterkeit stieg mit jedem Tage, je tiefer ihre körperlichen Kräfte sanken; ihr ganzes Wesen bezeichnete nur die innigste Liebe zu ihren Freunden und die reinste Freude an dieser schönen Welt. Ihre Blumen, ihre Vögel, alles, was schon ihre Kindheit beglückt hatte, mußte wieder um sie her gestellt werden, und sie liebte das alles und pflegte es, soviel es ihr möglich war wie sonst. So genoß sie lächelnd, wie zur Zeit ihrer herrlichsten Blüte, jede kleinere Freude, welche die Natur beut, und verlor sich in bewunderndem Entzücken vor der höheren Pracht, die mit unendlichem Reichtum in den wilden Umgebungen ihres Wohnortes sich täglich neu entfaltete.

Hippolit ertrug den Schmerz, den keine Sprache nennen kann, mit unbeschreiblicher Gewalt über sich selbst. Er ging ganz in den Geist der Hochgeliebten ein, lebte nur in ihr, lächelte, wenn sie lächelte, und schien nur von dem Licht ihrer Augen Worte und Bewegung zu empfangen. Nie wich er von ihrer Seite, solange es ihm vergönnt war, bei ihr zu weilen. Ihr nahe, vermochte er es, sein Herz zusammenzudrücken und seinen unaussprechlichen Schmerz wie seine glühende Liebe zu beherrschen; denn Gabrielens heilige Gegenwart erhob ihn über Tod, Trennung und Grab. Keine Klage kam über seine Lippen, keine Träne in seine Augen, bis die Nacht ihn und seinen ausbrechenden Jammer verhüllte.

Gabriele bewachte minder ängstlich als sonst ihr Benehmen gegen ihn und suchte nicht mehr ganz so wie ehemals ihm den Grund ihres Gemüts zu verschleiern. Manche Ahnung des ganzen Umfangs der unnennbaren Seligkeit, die ihm hier vor seinen Augen unterging, durchschauerte den Armen mit allen Freuden des Himmels und versenkte ihn in selige Träume, aus denen er leider mit dem Gefühl des Unglücklichen wieder auffuhr, der im Schlafe den Himmel offen sah und aufgerüttelt zu jahrelanger Pein, im Kerker wieder erwacht.

Nicht minder unaussprechlich als Hippolits Schmerz war auch das tiefe, unsägliche Mitleid, welches Gabriele für ihn empfand, denn sie erkannte wohl den unendlichen Jammer seines treuen liebenden Herzens. Sie selbst war beglückt in der seligsten Hoffnung, und die nahe Trennung, deren Gewißheit ihr an jedem Morgen deutlicher entgegentrat, erschien ihr nur als ein Schritt aus dem Dunkel zum Lichte, zur sicheren, ewigen Vereinigung, deren nahe Seligkeit sie schon hier vorempfand. Abends, wenn wieder einer ihrer Tage zur Ewigkeit hinabsank, wiederholte sie jetzt in der unbelauschten Einsamkeit ihres Zimmers oft die einfachen Worte eines Liedes, welches sie unter den Papieren ihrer verehrten Mutter gefunden hatte. Hier ist es:

Gabrielens Abendlied

Zur letzten Tagesstunde
    Flammt goldner noch das Licht,
    Spricht mit dem Purpurmunde:
    Ich gehe schlafen nicht.

Unsichtbar, zu dem Osten
    Zieh ich den Sternenpfad;
    Auch Du sollst Äther kosten,
    Den frisch der Morgen hat.

Wenn all die Welten schlafen,
    So ist's die Lieb, die wacht,
    Und landet sie im Hafen,
    Sagt sie: Welt, gute Nacht!

Ich mußte still verschließen
    Was schmerzreich mich entzückt,
    Was tödlich mich beglückt
    In tiefster Brust verschließen.

Ich mußt im Dunkel gehen
    Als hell es draußen war,
    Nun Schatten mich umwehen,
    Nun wird es licht und klar;

Aus Sonnenschein gewoben
    Mein Ätherkleid so blank,
    Die Sprache bald Gesang
    In blauen Sphären droben;

Wo mich der Engelflügel
    Leicht trägt auf lichtem Steg,
    Wo Sonnen sind mein Weg
    Fern von der Erde Hügel.

Ich möchte mehr noch singen
    Aus meiner tiefsten Brust,
    Was niemand war bewußt,
    Es sollten's Töne klingen;

Es möchte mehr noch sagen
    Die Lippe treu und bleich,
    Doch sieh, es will schon tagen
    Herauf aus licht'rem Reich.

Denn, wenn die Welt geht schlafen,
    Ist's Liebe noch, die wacht.
    Mein Herz erblickt den Hafen;
    Zu tausend gute Nacht.

Früher schon verdankte Gabriele diesem Liede oft wehmütigen Trost und erleichternde Tränen; jetzt klangen sie in ihrem Innern wie Jubelgesang, wenngleich die atemlose Brust ihm nur leise Töne noch zu leihen vermochte.

So lebte sie hin in stiller Freundlichkeit. Nur wenn sie Hippolits gedachte, des Verlassenen, dann wollte ihr das Herz brechen bei dem Gedanken an den langen, einsamen, freudenarmen Lebensweg, der von nun an öde und düster sich vor dem Freunde durch eine unabsehbare Wüste hoffnungslos ausdehnen mußte; und all ihr Streben ging nun dahin, seine Zukunft ihm wenigstens mit frohen Erinnerungen auszustatten, zu schmücken. Daher zeigte sie sich Hippoliten, wie seine stille Ergebung es glorreich verdiente. Sie war ihm die liebendste Schwester, die innigste teilnehmendste Freundin, und jeder Tag brachte ihm neue rührende Beweise des reinsten, von keinem irdischen Hauche befleckten Vertrauens.

 

Die Tage schwanden, der Sommer flog vorüber, immer tiefer senkte sich die Sonne und der Wald schmückte sich abermals mit Purpur und Gold. Wieder ging der Sterbetag von Gabrielens Mutter auf, doch dieses Mal feierte sie ihn in frommer stiller Heiterkeit, gleich einem Feste der Auferstehung, nicht des Todes. Der kalte Stein, der die geliebte Hülle bedeckte, ward nach ihrer Angabe mit einer Fülle reicher Blumenkränze geschmückt, statt der Zypressen, die sie einst mit frommer Hand gewunden hatte. Von ihr selbst blieben ebenfalls alle ihr sonst an diesem Tage gewohnten äußern Zeichen der Trauer entfernt und kein langes schwarzes Gewand, kein dichter Kreppschleier verhüllte sie. Wie immer in blendendes Weiß gekleidet, saß sie am Abend des festlichen Tages an ihrem gewohnten Platze in einem großen Bogenfenster; die seitwärts in das Eckzimmer fallenden letzten Strahlen der untergehenden Sonne verklärten ihre blonden Locken zur himmlischen Glorie, genau wie an jenem für Hippolit unvergeßlichen Abende, da dieser fast an der nämlichen Stelle bewundernd ihr nachsah, als sie den dunkeln Lindengang hinabschwebte. Sie blickte hinaus in die herbstliche Wolkenpracht, die rosig und golden im tiefblauen Äther verglühte; überirdisches Lächeln schwebte auf dem verklärten Angesicht, ihr dunkelstrahlendes Auge haftete mit dem Ausdrucke des unaussprechlichsten Entzückens auf der schimmernden Ferne, als schwebe aus ihr eine geliebte Gestalt herbei und ihre Lippe regte sich unhörbar leise wie im Gebet.

Ernesto und Frau von Willnangen hatten es nicht vermocht, der heitern Feier dieses Tages länger zuzusehen, deren Deutung sie nur zu wohl verstanden; sie hatten beide sich entfernt, um in gegenseitigen Klagen neue Kraft zu suchen, und niemand war bei Gabrielen geblieben als Hippolit. Schweigend betrachtete er sie und wagte es kaum zu atmen, um sie nicht zu wecken. Auch er ahnte, von ihrem Gefühl durchdrungen, welche Gebilde ihrem Auge jetzt vorüberschweben mochten; ihm war, als empfinde auch er die Nähe der an diesem Tage zur ewigen Freude eingegangenen Mutter, der halb schon Verklärten, und kalt und geheimnisvoll hauchten Schauer aus einer andern Welt ihn, den Lebenden, an.

Wie ein Engel, der vom Himmel herabschwebt, um Sterblichen von seinen Freuden Kunde und Gewißheit zu geben, wandte Gabriele sich dem geliebten Freunde endlich wieder zu; sein Herz erwärmte sich an ihrem Blick, es war, als wolle sie zu ihm sprechen, als wolle sie irgend etwas Wichtiges ihm vertrauen, doch schien sie bald wieder anders entschlossen und bat ihn nur mit den Augen, ihr die Harfe zu reichen, die seit mehreren Tagen von ihr unberührt in einer Ecke lehnte. Hippolit gehorchte wie immer ihren Winken, und nun begann unter ihren schwachen, zarten Händen leise und langsam ein fremdartiges Tönen, gleich dem Nachhall himmlischer Lieder. Endlich erhob sich auch ihre süße Stimme, lieblicher, herzdurchdringender als Hippolit sie jemals gehört hatte, wenngleich unendlich zart und leise. Es war gleichsam ein innerliches Singen, ein wunderbar-ergreifendes Heraufklingen aus der Tiefe ihres Herzens.

In kurzen abgerissenen Sätzen, oft unterbrochen von Harfenklängen, die, der Erdensprache erst Bedeutung gebend, wie zur Erläuterung forttönten, wenn diese wortarm verstummen mußte, sang Gabriele ein regelloses Lied, von der Begeisterung des Augenblicks eingegeben.

Nie hatten ihre Freunde diese Gabe der Dichtkunst in ihr vermutet, die jetzt erst neu in ihr erwacht, der halb schon dem irdischen Leben Entschwebten eine nie zuvor von ihr geübte Sprache lieh. Gleich dem Schwane, der nur dann zum ersten Male mit süßen Klängen die Sterne begrüßt, wenn sie zum letzten Male die stille Flut ihm versilbern, auf welcher er sterbend wogt.

Gabrielens Lied sang alles Hoffen, Sehnen, Erwarten ihrer, in Himmelswonne vergehenden Brust. Es waren Worte, es waren Töne, welche der Unsterblichkeit angehören und der schwache Hauch des Erdenlebens wiederzugeben nicht vermag.

Sie sang, bis sie erbleichend, verstummend in ihren Lehnstuhl erschöpft zurückfiel. Noch eine Weile flüsterten die Harfentöne, endlich verstummten auch sie. Die zarten Lilienfinger entglitten matt den goldnen Saiten und Gabrielens Auge schloß sich einige Minuten lang wie im Schlummer; doch bald öffnete es sich wieder und suchte Ihn, der, zum ersten Mal in ihrer Gegenwart vom Schmerz überwältigt, in einer Ecke des Zimmers in der trostlosesten Stellung hingesunken war.

»Mein Freund! Mein teurer herzlich lieber Freund! Warum so?« sprach sie zu ihm. »Ich dachte Mut und Hoffnung in Ihre Seele zu singen, denn ich selbst bin sehr freudig, sehr hoffnungsreich in meinem Gemüt. Das Leben ist nicht minder kurz als schön, darum sollten wir nie die köstlichen Stunden der Gegenwart in voreiliger Trauer über eine vielleicht nahe, dunklere Zukunft verschwenden. Denken Sie daran, daß ohne Trennung kein Wiedersehen möglich wäre. Und welches Wiedersehen erwartet uns dort über jenen glänzenden Welten, die durch unsere kurze Erdendämmerung leuchten!«

Es war zum ersten Male, daß Gabriele auf die Nähe ihres Scheidens so hindeutete. Hippolit glaubte dabei in neuem, nie gefühlten Schmerze zu vergehen, denn das ausgesprochene unheilverkündende Wort ist weit furchtbarer als unsere trübesten Gedanken es sein können. Doch übte er auch in dieser bangen Stunde die gewohnte Kraft über sich selbst. Er erhob sich und nahete ihr mit Ergebung in seinen Zügen.

»Das Singen hat mich ein wenig angegriffen, weit mehr als ich es vermutete«, sprach Gabriele sehr freundlich. »Und doch sind wir so ungestört, so traulich beisammen! Ich möchte die Zeit nützen, recht gern, recht viel mit Ihnen reden, auch wohl etwas von Ihnen erbitten; ich werde ganz leise flüstern müssen. Doch das tut nichts, setzen Sie sich nur recht nahe zu mir, damit Sie mich verstehen, recht nahe, ich bitte.«

Hippolit schauerte vor innerer ihm selbst unerklärlicher Angst, denn er hatte Gabrielen schon weit ermatteter gesehen als sie es in diesem Augenblicke zu sein schien; aber er nahm sich zusammen, zog ein Taburett aus dem Fenster herbei und setzte sich dicht zu ihren Füßen. Sein Auge ruhte in ihrem, ihre Hand lag kalt und regungslos in der seinen, während sie mit der ihm so bekannten anmutigen Beugung des schönen Hauptes sich gegen ihn hinneigte und ganz leise und vertraulich zu ihm sprach.

»Sehen Sie, wie das Abendrot sich noch so glänzend dort in den Fenstern der Kapelle spiegelt? Ist es nicht genauso wie heute vor vier Jahren –«

»Guter Gott, teure Gabriele, an welche Stunde erinnern Sie mich in diesem Momente!« rief Hippolit erbleichend aus, von unwiderstehlichem Grauen und Schrecken ergriffen.

»Ruhig, ruhig, mein Freund!« erwiderte, ihn beschwichtigend, Gabriele, »Sie können ja jener Stunde immer nur mit Dank und Rührung gedenken, so wie ich es auch tue. Gott würdigte mich damals des Glücks, Sie von einer großen Gefahr zu erretten«, setzte sie mit einem durch die Wolken hindurch leuchtenden, zum Himmel gerichteten Blick hinzu. Dann wandte sie sich wieder an ihn, der, mit seinem Gefühle sichtbar kämpfend, jetzt wieder ruhiger dasaß. »Die Vorsehung führte Sie damals vom Rande des furchtbarsten Abgrundes, in den wir Verblendete versinken können, hin auf den Weg, der zum neuen erhöhten Dasein Sie gelangen ließ. Gottes Führungen sind unbegreiflich und gütig wie er selbst. Wer hat das anschaulicher erfahren als wir beide? Darum, lieber Hippolit! Wollen wir auch nie uns Eigenmächtigkeit oder Widerstand erlauben. Wir wollen immer vertrauen, immer, immer auch wenn es recht dunkel um uns wird; jeder Nacht folgt ein hell leuchtender Tag, der alles Grauen verscheucht.«

Sie schwieg einige Minuten, dann begann sie von neuem. »Vergeben Sie, wenn ich Ihnen wehe tat durch die Erinnerung an jenen großen Wendepunkt Ihrer Existenz, von dem alles Gute und Edle und Schöne ausgeht, das Sie seitdem sich aneigneten. – Ich wollte es nicht, doch was ich von Ihnen bitten wollte, hängt zu genau damit zusammen und ich bin verlegen und weiß nicht, wie ich es aussprechen soll. – Jenes Fläschchen, jener Kristall, der damals Ihren Händen entsank, den ich wenige Minuten später Ihrer Bewahrung anvertraute, bewahren Sie ihn noch? Und wo?«

»Ich bewahre ihn auf meinem Herzen«, erwiderte nach kurzem Schweigen Hippolit mit fast unhörbarem klanglosen Tone.

»Hippolit!« rief Gabriele mit ungewohnter Kraft und richtete sich plötzlich hoch und ernst in ihrem Sessel empor. »Sie tragen das Entsetzliche auf Ihrem Herzen? Und seit wann?«

»Seit – seit den letzten Wochen unsers Hierseins«, entgegnete Hippolit und verhüllte sein Gesicht in die weiten Falten ihres herabhängenden Shawls.

»Mut, armer Freund und Friede Ihrem bangen Herzen«, sprach Gabriele, ihre schwachen Hände strebten ihn aufzurichten, und eine warme Träne sank auf seine Stirne. »Ach Hippolit!« sprach sie mit unendlich sanfter Stimme weiter, »wie oft vergessen wir auf den Himmel zu bauen, wenn uns das Leben hier unten die ernste, dunkle Seite zuwendet! Darum sollten wir es wo möglich nie in unsere Macht stellen, der gefährlichen Wirkung des Augenblicks folgen zu können. Wir Schwachen sollten schon von ferne der Gefahr ausweichen, die ein einziger unbewachter Moment über unser Haupt rufen kann. – Der Tod«, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »der Tod ist immer unserm Herzen nah; warum, lieber Hippolit, warum ihn noch auf demselben tragen?«

Hippolit vermochte nicht, ihr zu antworten. Nach einigem Schweigen fuhr sie fort zu reden.

»Jenes furchtbare Fläschchen, ich habe viel darüber nachgedacht und weiß jetzt, daß es ein Eigentum meines Vaters war. Sie fanden es dort in den Ruinen, die, seinem letzten Wunsch gemäß, in sich selbst versinken müssen mit allem, was sie bedecken; ist es nicht so?«

Hippolit bejahte die Frage mit einer stummen Neigung des Hauptes.

»Nichts von allem, was dort auf ewig begraben ward, darf das Licht des Tages wieder bescheinen; so wollte es mein sterbender Vater«, fuhr Gabriele fort. »Darum bitte ich Sie, mein Freund, ich bitte recht ernstlich, recht dringend, geben Sie der Finsternis wieder, was ihr geweiht ward. Tragen Sie noch heute, noch diesen Abend Ihren schauerlichen Fund zurück zu jenem geheimnisvollen Gemäuer, versenken Sie ihn dort in tiefe, selbst Ihnen unzugängliche Kluft. Dort mag er ruhen, in dem weiten Grabe, wo so vieles ruht. Wollen Sie es? Wollen Sie mir die Freude gönnen, den letzten Wunsch meines Vaters auch im kleinsten Punkt erfüllt zu sehen?«

»Noch heute, noch in dieser Stunde«, erwiderte Hippolit und drückte seine brennenden Augen auf ihre liebe Hand. »Wie könnte ich je Ihrem ausgesprochenen Willen widerstreben!«

»Dank Ihnen, innigen Dank«, erwiderte Gabriele mit einem fast unfühlbaren Händedruck. »Sie haben Nachsicht mit meiner Schwäche«, setzte sie matt lächelnd hinzu, »Sie spotten nicht einer vielleicht kindischen Ehrfurcht gegen den Willen der Toten. Aber das Zuviel ist hier in unserm Dunkel doch noch immer dem Zuwenig vorzuziehen; nicht wahr, lieber Hippolit?«

»Gabriele! Himmlisches Wesen! Nicht diese Engelsmilde gegen mich, wenn ich nicht ganz vernichtet werden soll!« rief Hippolit tief erschüttert. »Ich fühle alles, was Sie mir verbergen und andeuten, vergebens suchen Sie es mir zu verschleiern, um auch nur die Idee eines Vorwurfes von Ihnen mir zu ersparen. Jene noch immer rot schimmernden Fenster der Kapelle! Ihre eigne verklärte Gestalt, sogar die Dämmerung um uns her rufen mir die Vergangenheit zurück. Alles ist wie es war, alles heute wie damals! Und doch, wie ist es auch so furchtbar anders! Kindischer Tor der ich war! Daß ich damals schon das Unglück zu kennen wähnte!«

»Sie kannten es damals nicht«, fiel Gabriele ein: »und glauben Sie mir, es kommt ein Tag, wo alles, was Ihr Herz heute so schwer belastet, Ihnen ebenso erscheinen wird, als jetzt jener Schmerz, der damals Sie in Tod und Verzweiflung jagte, Ihnen erscheint. O mein teurer Hippolit, es kommt eine Stunde, in welcher die Erde mit all ihrem Weh unter uns zusammen sinkt und der Himmel mit seinen Freuden sich uns öffnet. Wie leicht, wie klein sehen wir dann alles, was uns vor kurzem noch so schwer, so unübersteiglich groß dünkte! Geloben Sie mir, mein geliebter Freund, geloben Sie mir, diese meine Worte nie zu vergessen. Lieber, lieber Hippolit, sie nicht zu vergessen, in keiner noch so dunkeln schweren Stunde Ihres Lebens. Ach Sterben ist oft so viel leichter als Leben! Wer würfe nicht gern alles, was uns belastet, von sich, um einer geliebten entschwebenden Seele durch alle Himmel zu folgen? Doch mein edler Freund wird das Schwerere wählen und es tragen, solange die ewige Vorsicht es will.« Gabriele streckte ihre rechte Hand gegen ihn aus, doch er legte nicht versichernd die seine hinein. Dunkel, fast verzweifelnd starrte sein Blick hinaus in die Dämmerung, durch welche die Fenster der Kapelle noch immer im Abendschimmer rötlich erglänzten.

»Undurchdringliche Nacht verhüllt uns das Jenseits«, sprach jetzt mit bewegter Stimme Gabriele, »wir ahnen seine Schrecken wie seine Seligkeit, und es ist verwegen, mit sterblicher Zunge von Göttlichem stammeln zu wollen. Doch den Rand des Grabes vergoldet ein purpurner Schein, der den ewigen herrlichen Ost uns verkündet; er heißt Hoffnung des Wiedersehens! Ach und doch wäre es möglich, daß eigenmächtiges Eingreifen in den Willen der Vorsicht eine Kluft risse, die dieses Hoffen vielleicht vernichtet, vielleicht auf Jahrtausende hinausschiebt. Längere Prüfung in andern Welten erwartet vielleicht den, der ungerufen diese verläßt. – Schrecklich, schrecklich muß es sein, furchtbar über alle Beschreibung«, sprach sie lauter und heftiger; »es würde mir den Tod erst zum Tode machen, wenn ich entschlummern müßte ohne die beruhigende Zuversicht, daß alle, die ich liebe, vertrauend, wenngleich weinend mir nachblicken werden und daß keines von ihnen sich vom Schmerz zu einem Schritt verleiten lassen wird, der mein Hoffen eines nahen seligen Wiedersehens in der ungemessenen Ewigkeit vernichten könnte.«

An allen Kräften erschöpft, bleich, leblos beinah, sank Gabriele mit diesen Worten in ihren Sessel zurück, aber ihr bittendes Auge haftete noch immer mit unaussprechlichem Ausdruck auf Hippoliten.

»Heilige! Verklärte!« rief jetzt dieser, außer sich vor unaussprechlicher Angst, und warf sich, ihre Knie umfassend, vor ihr nieder. »O entschwebe mir noch nicht! Nimm mein Gelübde mit, daß ich deinen Willen erfülle, sei es noch so schwer; daß ich keine Kluft ewiger Trennung zwischen uns reißen will. Ja, ich will noch leben, weil du es gebeutst, ich will noch leben und atmen so lange ich kann, auch wenn du –« Tränen erstickten seine Worte. Gabriele vermochte es nicht ihm zu antworten, aber ihre Hände ruhten segnend auf seinem Haupte, ein dankbares Lächeln umspielte ihre Lippen und ihr gen Himmel gerichtetes glänzendes Auge erhob sich betend für ihn.

 

Bange, leise, wehmütig einander zulächelnd und doch unfähig jeder ausgesprochenen Mitteilung ihres Gefühls, wandelten in den nächstfolgenden Tagen Gabrielens Freunde nebeneinander her. Im Schlosse herrschte eine bange schwüle Stille, wie vor einem Gewitter, und auch draußen war es so in der Natur. Alle Gipfel ruhten, kein Lüftchen spielte in den goldigen Blättern, sie fielen von selbst leise und langsam, man hörte das flüsternde Rieseln ihres Niedersinkens, weil kein stärkerer Ton durch den schweigenden Wald rauschte.

Gabriele blickte täglich aus ihrem Bogenfenster hinaus in die herbstliche Pracht, denn weiter zu gehen verstattete ihr ihre große, wenngleich schmerzlose Mattigkeit nicht mehr. Mit jeder Stunde beinah sahen ihre Freunde die schöne Blume bleicher und immer bleicher sich neigen, aber ihr Geist loderte immer sichrer und heller auf, ihre Teilnahme an dem Leben ihrer Freunde entwickelte sich immer freudiger. Diese durften sie jetzt fast gar nicht mehr verlassen, denn sie schien mit jeder Minute des Beisammenseins noch geizen zu wollen und wendete alle ihr noch immer zu Gebote stehende Liebenswürdigkeit daran, sie alle so lange als möglich in ihrer Nähe festzuhalten. Ihr Auge wandte sich in dem kleinen Kreise mit unaussprechlicher Liebe von einem zum andern. Lächelnd suchte es den treuen Ernesto, der liebenden Freundin Mut und Licht in die Seele zu strahlen; dann ruhte es wehmütig auf Hippoliten, der, ganz in sich verloren, sich und den Schmerz, und jede Klage, selbst Zukunft und Vergangenheit in ihrem Anblick vergaß, während Frau von Willnangen und Ernesto nur mit der mühsamsten Anstrengung aller ihrer Kräfte ihrem tiefen Schmerz gebieten konnten.

Gabriele redete in diesen Tagen ungewöhnlich viel von Ottokar und von einer frohen Ahnung seines nahen Wiedersehens nach so langer Trennung. »Ernesto war nur sein Vorläufer, gebt acht, unversehens ist er da!« sprach sie mit einer eigenen Art von Gewißheit, für die sie doch selbst keinen rechten Grund anzugeben wußte, denn er hatte nur kürzlich geschrieben und den Willen, Rom zu verlassen, auf keine Weise geäußert.

 

Am dritten Morgen nach dem Todestage ihrer Mutter ließ Gabriele etwas früher als gewöhnlich Hippoliten zu sich entbieten. Er eilte herbei. Alles im Zimmer hatte ein eigenes festliches Ansehen. Wölkchen von Wohlgerüchen durchkräuselten es in bläulichem Duft, Gabriele schien auf ihrem gewohnten Sessel im Fenster wie in einer Blumenlaube zu ruhen, denn aller Schmuck des sinkenden Jahres stand in schönen Vasen zierlich um sie her geordnet und Blumen und Früchte fügten sich im gefälligsten Vereine, um ihre Umgebung zu verherrlichen. Die durch die herabgelassenen roten Vorhänge gemilderten Sonnenstrahlen verbreiteten ein lieblich-rosiges Scheinen im ganzen Gemach und liehen auch der bleichen Gabriele noch einmal den flüchtigen Schimmer der Gesundheit. Sie selbst hatte mit mehr als gewohnter Sorgfalt wie zu einem Feste sich schmücken lassen, ihre reichen Zöpfe waren zierlicher aufgeflochten, ihre Locken umkräuselten die schöne Stirn in gewählterer Form und ein weiter, kostbarer Shawl von himmelblauer Farbe umwallte in reichen Falten die im zierlichsten weißen Morgenkleide ruhende schlanke Gestalt. Nie war Gabriele schöner gewesen als in diesem Moment, doch war ihre Schönheit nicht mehr von dieser Welt.

Freundlich winkte sie dem Eintretenden, näherzukommen. Er tat es und sank unwillkürlich zu ihren Füßen hin, in Anbetung und Liebe verloren. Eine eigne Freudigkeit des Herzens hatte sich seiner bei ihrem Anblick bemächtigt, sie leuchtete aus seinen Augen, während er bewundernd die Hochgeliebte betrachtete. »Hippolit«, flüsterte sie leise, »teurer, geliebter Hippolit! Ja, ich fühle es, Sie werden durch ungestümen Schmerz die heiligste, schönste Stunde meines Lebens mir nicht stören; sie ist die Krone unsers Daseins, ihr darf keine andere folgen. Auch gehöre ich den Lebenden nicht mehr an; – erschrick nicht so über dieses Wort, erschrick nicht, daß ich gewiß weiß, ich werde die Sonne, die jetzt uns leuchtet, nicht mehr sinken sehen.«

Mit einem kaum unterdrückten Schrei fuhr Hippolit in die Höhe, der Türe zu, als wolle er Beistand, Hülfe herbeirufen oder suchen, doch ihre sanfte Gewalt, ihr flehendes Auge und die innere Überzeugung, daß jeder Versuch, zu helfen, hier nur quälend mißlingen könne, zogen ihn wieder zu ihren Füßen hin. Sein starrendes Auge, sein Beben, sein tödliches Erbleichen machten ihn einem Sterbenden weit ähnlicher, als Gabriele es war.

»Erwache, o erwache«, rief sie, »geliebtester aller Menschen, erwache und segne mit mir diese Stunde, die den lange gehegten einzigen Wunsch meines Herzens, den Lohn alles meines Strebens mir gewährt. Die Sterbende darf gestehen, was der Lebenden strenge Pflicht war, tief in der Brust, unter unsäglichen Schmerzen zu vergraben.«

Ihr Auge strahlte von neuem himmlisches Feuer, ihre Wangen färbten sich, alle ihre Züge verklärten sich zu unaussprechlicher Schönheit. »Ja dich, dich habe ich geliebt!« sprach sie mit vor Entzücken bebender Stimme, »dich liebe ich, dich allein, du Einziger, Geliebtester, du mein Hippolit, nur dich! Ich liebe dich wie du mich liebst und lange schon trage ich dein Bild im Herzen. Ich sterbe, weil ich dich liebte, ich sterbe beglückt, daß ich nur einmal mein Herz dir öffnen darf, entzückt, beglückt, und nun laß mich enden. Die Erde beut mir nichts mehr nach dieser Stunde, die alle meine Fesseln zerreißt! Ich darf dem Leben nicht mehr angehören, aber ich gehöre dein! Dein! Von nun an, und an diesen Moment grenzt eine wonnevolle Ewigkeit!«

Das seligste Entzücken, der zerreißendste Schmerz, Gabrielens geliebte Stimme rief Hippolit schnell wieder zu klarem Bewußtsein; in Tränen, Seufzern, Blicken mehr noch als in Worten, tauschten die Liebenden alles Weh und alle Wonnen ihres Daseins gegeneinander aus. Die Stunde, die sie so miteinander zubrachten, gehört nicht ins irdische Leben, keine Vergangenheit, keine Zukunft begrenzt sie; sie steht da, einzig, für sich allein gleich der Ewigkeit, jedem Versuch, sie zu schildern, unerreichbar.

 

Es war stille im Zimmer geworden, ganz still. Ernesto trat leise herein, ihm folgte Frau von Willnangen. Die Geschichte eines großen unverhofften frohen Ereignisses glänzte in beider Augen, schwebte sichtbar auf beider Lippen. Sie fanden Hippoliten auf dem Taburett neben Gabrielens Sessel kniend, ihr Haupt ruhte an seiner Brust, einer ihrer Arme hielt ihn umschlungen, die Hand des andern hielt er in der seinen, ein liebes Lächeln umspielte ihre Lippen, sie schlummerte tief und süß. Hippolit regte sich nicht beim Eintritt seiner Freunde. Sie winkten ihm, sie riefen leise seinen Namen, er achtete nicht darauf oder ward es nicht gewahr. Endlich nahte sich ihm Frau von Willnangen leise und behutsam. »Sie schläft«, flüsterte sie, »wie sanft, wie fest, doch auch wie unbequem; sehen Sie, wie ihr Arm, ihre Wangen gedrückt werden.« Mit diesen Worten versuchte sie es, Gabrielen mit großer Sorgfalt, wie ein unter Spielen eingeschlummertes Kind, zurück in die Kissen zu legen. Es gelang. Hippolit ließ es ohne Widerstand geschehen, und Gabriele erwachte nicht.

Ernesto nahte und zog Hippoliten in die fernste Ecke des Zimmers, Frau von Willnangen blieb gleich einer, über die Wiege ihres kranken Kindes gebeugten Mutter neben Gabrielen stehen und bewachte ihren Schlummer; Hippolit folgte gelassen dem Freunde, wohin er ihn führen wollte.

»Gabrielen steht beim Erwachen eine große Erschütterung bevor«, flüsterte Ernesto Hippoliten mit freudig glänzenden Augen zu. »Da gilt es Vorsicht und die sorgsamste Behutsamkeit. Lieber Hippolit! Weiß ich doch kaum, wie ich dir es entdecken soll. Gabrielens Prophezeiung ist eingetroffen, Ottokar ist wirklich da und harrt der Erlaubnis, ihr zu nahen. Was er bringt, wird sie weit später nach und nach erfahren müssen; es ist ein Glück, aber es wird ihr sanftes Gemüt doch verwunden, Ottokar kommt von Pisa. Lieber Hippolit! Moritz ist gestorben, ach! Nun kann alles noch sehr gut werden und –«

»Gabriele ist tot!« schrie Frau von Willnangen mit dem klanglosen Tone des wildesten Schreckens und sank neben ihr hin.

 

Was läßt sich von den Überlebenden ferner sagen? Allein, von niemanden gesehen, verweilte Ottokar eine Weile neben der geliebten Toten, der untergesunkenen Sonne seiner Jugend; dann schloß er den unglücklichen Freund in seine Arme, der bewußtlos und starr ohne Tränen, ohne einen Laut, kaum noch dem Leben anzugehören schien. Seinen mit ihm gekommenen Sohn übergab Ottokar dem treuen Ernesto und bat ihn, den armen, mit den Weinenden ängstlich weinenden Knaben zurück nach Rom zu begleiten, dort seiner Zurückkunft zu harren. Er selbst nahm den durchaus in nichts widerstrebenden Hippolit an seine Brust, führte ihn in den noch dastehenden Reisewagen, in welchem er eben gekommen war, und fuhr mit ihm fort, gleichviel wohin.

Man sagt, Ottokar sei nach etwas mehr als Jahresfrist traurig und ganz allein wieder in seinem Hause in Rom angelangt, eben noch früh genug, um den treuen Ernesto zur Pyramide des Cestius zu geleiten.


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