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Erwünschteres konnte für Gabrielen nichts geschehen, als daß sie Ernestos Führung übergeben ward, und von ihm geleitet begann ihr Leben bei der Tante sehr bald, sich beruhigend und erfreulich für sie zu ordnen. Bei der Gräfin und Aurelien brach der Tag wenigstens drei Stunden später an als bei ihr; Toilette und Visiten raubten diesen Damen alle übrige Zeit vor der Mittagstafel; es konnte ihnen daher nicht einfallen, Gabrielens Lehrstunden und Übungen zu unterbrechen, und diese behielt also die vollkommenste Muße für sie und für Ernesto, der jeden Morgen mehrere Stunden mit Zeichnen und im Gespräch bei ihr verweilte.
Er sowohl, als die Lehrer, welche er für sie gewählt hatte, staunten nicht wenig bei der Entdeckung, welche Fortschritte Gabriele schon früher bei ihrer Mutter in alledem gemacht hatte, was sie ihr von den ersten Anfangsgründen an lehren zu müssen geglaubt hatten, und mehrere von ihnen befanden sich wirklich mit dieser Schülerin in einiger Verlegenheit. Im gewöhnlichen Sinn des Wortes konnte Gabrielens Erziehung wirklich für mehr als vollendet gelten, aber die Gelegenheit zu fernern Fortschritten und Übung im schon Erlernten war ihr zu willkommen, um sie nicht aufs beste zu benutzen. Übrigens gewöhnte sie sich durch den Umgang mit ihren Lehrern immer mehr an den mit der Welt, und diese hingegen nahmen wieder recht gern den mühelos erworbenen Ruhm an, in unbegreiflich kurzer Zeit ihre Schülerin so weit gebracht zu haben.
Mit allen lebte Gabriele in der vollkommensten gegenseitigen Zufriedenheit, außer mit ihrem Singmeister, einem sehr vorzüglichen Künstler, der aber von der neuen italienischen Methode bezaubert war. Er bestand darauf, ihre ungewöhnlich reine biegsame Stimme an alle die immer wiederkehrenden Verzierungen und Manieren zu gewöhnen, mit welchen jetzt manche unsrer berühmtesten Sänger und Sängerinnen auf Kosten der Melodie und des Ausdrucks ihren Gesang oft so überladen, daß der ursprüngliche Gedanke des Komponisten eigentlich ganz dabei zugrunde geht und nur noch das Tempo und die Worte eine große Arie von der andern unterscheiden. Gabriele hingegen war von ihrer Mutter nach der ältern reinern Methode unterrichtet, sie suchte nur, den echten Sinn des Gesanges einfach, wahr und gefühlvoll so wiederzugeben als der Meister, der ihn niederschrieb, ihn sich dachte und wollte sich auf keine Weise zu jenen künstlichen Schnörkeleien bequemen. Dies gab Anlaß zu unzähligen ziemlich lebhaften Zwistigkeiten zwischen ihr und ihrem Lehrer, bei welchem aber Gabriele nie von ihrer Überzeugung abweichen wollte. »Glauben Sie«, sprach sie zu ihm, »daß Gluck oder Mozart diese krausen Läufer, diese Vorschläge und Triller nicht hätten vorschreiben können und es auch nicht getan haben würden, wenn sie sie für zweckmäßig hielten? Niemanden fällt es je beim Vorlesen ein, sich an Goethen oder Schillern durch den eigenmächtigen Zusatz nur eines einzigen Wortes zu versündigen. Sollten die Meister der Tonkunst, die so klar ohne Worte zu uns zu sprechen wissen, daß wir sie deutlich verstehen, uns weniger heilig sein?« Vergebens bekämpfte der Musikmeister diese Meinung seiner Schülerin mit allen nur ersinnlichen Gegengründen, keiner derselben schien ihr bedeutend genug, um ihre eigne Überzeugung umzustoßen.
Ernesto war zufällig einmal Zeuge eines solchen Zwistes, und da der erzürnte Sänger ihn endlich zum Schiedsrichter aufrief, so erklärte er sich mit wenigen Einschränkungen für Gabrielen. Dies beendete wenigstens den Streit, aber der Lehrer seufzte doch jedesmal über den Eigensinn seiner sonst so gelehrigen Schülerin, wenn er gezwungen sich ihrem Willen fügen mußte.
Eigensinnig! So hatten auch die Tante und Aurelie sie mehrere Male genannt, und dennoch war sie es nicht. Gabriele scheute nur das Unrecht und war, bei aller ihrer Furchtsamkeit, in ihrem Gemüte fest genug, um sich durch keine Überredung von dem abwenden zu lassen, was sie für das Rechte anerkannte, sobald sie aber ihren Irrtum einsah, war auch niemand bereitwilliger, ihn abzulegen, und Ernestos welterfahrnem, klarem Sinne gelang es immer, sie zum Besseren zu leiten.
Eines Morgens traf sie dieser in sehr lebhaftem Gespräch mit ihrer Kammerjungfer. Er fürchtete, in einer wichtigen Toilettenangelegenheit zu stören und wollte eben bescheiden sich zurückziehn, als er zu seiner großen Verwunderung entdeckte, daß die Rede von nichts Geringerem sei als von Alexanders des Großen Zug nach Indien.
»Um Gottes willen, was hat die kleine, hübsche Annette mit dem großen krummhälsigen Alexander zu tun?« fragte Ernesto, sowie er mit Gabrielen allein war. Lächelnd erzählte ihm diese, wie sie das Mädchen bei allen Stunden ihres eignen Unterrichts habe mit seiner Handarbeit im Zimmer bleiben heißen und wie es anfangs aus Langerweile, endlich mit wirklicher Teilnahme, eifrig zugehört und vieles gelernt und behalten habe. In freien Stunden machte es sich Gabriele jetzt zum angenehmen Geschäft, die oberflächlichen Bruchstücke, welche Annette, oft nur halb gehört, auffaßte, in ihrem Köpfchen zu ordnen und sie gründlicher zu unterrichten. Jugendliche Freude am Lehren des eben Erlernten mochten an diesem Unternehmen wohl vielen Teil haben, mehr aber noch der Wunsch, dem artigen Mädchen nützlich zu sein, das mit großer Liebe an seiner jungen Gebieterin hing und sich dabei als eine äußerst gelehrige Schülerin bewies.
»Sie glauben da etwas recht Vortreffliches zu stiften, liebe Gabriele«, sprach Ernesto zu seiner jungen Freundin, »ich aber fürchte, Sie bereiten dem armen Mädchen eine traurige Zukunft. Lassen Sie sich freundlich von mir warnen und an Annettens einstige Bestimmung erinnern. Wahrscheinlich wird sie die Frau eines Handwerkers, wenn es hoch kommt eines Krämers oder eines untergeordneten Beamten; Höheres darf sie nicht erwarten und heiraten wird sie doch wollen, denn das will jedes Mädchen. Und nun denken Sie sich Annetten mit der geistigen Bildung, die Sie ihr zu geben im Begriff stehen, ein paar Kinder um sie her, eine große Wäsche im Hause, und auf dem Herde das Mittagsmahl für ihren Mann und vielleicht für noch ein Dutzend Gehülfen bei seinem Gewerbe!«
»Und warum sollte ich sie mir so nicht denken können?« unterbrach ihn ziemlich lebhaft Gabriele; »warum sollte diese geistige Bildung sie in der Übung ihrer Pflicht hindern? Sagt man mir doch, es stünden oft die geistreichsten Männer in Ämtern, welche ihrem Genius gerade entgegen streben, ohne daß weder ihre Pflicht noch ihr Talent darunter leiden.«
»Sie vergessen, oder vielmehr Sie wissen noch nicht, liebe Gabriele, wie viel günstiger das Los der Männer als das der Frauen fiel«, erwiderte Ernesto; »wie viel Freiheit jenen außer dem Hause bleibt, und wie schneckenartig diese das ihrige immer mit sich herumtragen müssen, wenn Reichtum sie nicht von den drückendsten Banden befreit. Sie kennen den Mittelstand nicht«, fuhr er fort; »Ihr vornehmen Leute kennt ihn überhaupt alle nicht; bittre Armut, das höchste Elend, so wie alle Extreme kann eure Phantasie euch allenfalls malen. Mitleid führt euch auch wohl ein paarmal in eurem Leben in Hütten, aus denen ihr mit einer Hand voll eures überflüssigen Goldes alle Not verbannt, aber das beschränkte Wesen von Menschen, welche einen sogenannten kleinen Haushalt führen müssen, bleibt euch ewig verborgen. Ich aber kenne es, denn Künstler und Handwerker sind einander im Leben näher verwandt, als unser Hochmut es eingestehen will. Schütteln Sie nicht so vornehm das Köpfchen, liebe Gabriele, es bleibt dennoch wahr, beide haben gleiche Hülfsmittel und oft gleiche Not. Von dieser bezwungen, sinkt der Künstler in unsern Tagen nicht selten zum Handwerker herab, dafür aber erstanden auch in frühern Zeiten viele große Meister aus der engen Werkstatt des Handwerkers.«
»Aber gerade den Mittelstand dachte ich mir immer als den glücklichsten«, wandte Gabriele, das Gespräch wieder zurücklenkend, ein. »Mann und Frau, jeder auf seine Weise, bringen den Tag im emsigen Bemühen für das Wohl der Ihrigen zu. Die Ruhestunden führen sie abends wieder zusammen, sie erzählen einander die Geschichte ihres wohlgelungenen Tagewerks und vergessen alle Mühe des Lebens beim gemeinschaftlichen Lesen eines Buchs, das ihren Geist aus dem Werkeltags-Staub wieder erhebt. Bei Musik, im geistreich erheiternden Gespräch, beim Zauber der Poesie, schwinden ihnen die Feierstunden, und jedes geht am folgenden Morgen frisch und fröhlich an die Arbeit und freut sich den ganzen Tag über auf den Abend.«
»Sie malen da ein Bild, das Ihrer Phantasie alle Ehre macht«, sprach lächelnd Ernesto; »leider aber ist es im wirklichen Leben ganz anders. Wenn Sie die höhere Klasse des Mittelstandes meinen, zu welcher der reiche, angesehene, große Kaufmann, der wohlhabende, auf den ersten Stellen stehende Beamte gehören, so haben Sie recht, dort ist es zuweilen und könnte es immer sein. Aber zu den niedrigem Klassen, in welchen Annette einst leben wird, paßt dieses nicht. Können Sie sich wirklich einen Schneider oder Tischler denken, der das Leben führte, welches Sie eben geschildert haben? Und setzen Sie selbst den Fall, daß Annette einen untergeordneten Beamten oder einen Landprediger heiratete. Was diese Männer auf Universitäten an geistiger Bildung gewannen, geht sehr oft in überhäufter Arbeit und Nahrungssorgen wieder zugrunde, was sie von geistiger Unterhaltung brauchen, gewähren ihnen, mit seltnen Ausnahmen die politischen Welthändel, und abends verlangt der abgemattete Mann gewöhnlich nur nach einer guten Suppe, während die Frau ihrerseits auch froh ist, wenn sie die Kinder erst zur Ruhe weiß.«
»Meine arme Annette!« rief Gabriele dazwischen. »Und nun die Frau Basen, die Frau Gevattern«, fuhr Ernesto fort, »von diesen Leuten hat ein hochgebornes Fräulein, wie Sie sind, keinen Begriff. Familienbande sind im eigentlichen Bürgerstande viel fester und dabei weiter umfassend als in dem Ihrigen. Was miteinander in einem Grad von Verwandtschaft steht, sei er auch noch so entfernt, das muß an Ehrentagen und bei Kaffeevisiten zusammenkommen, da gilt keine Ausnahme. Und nun denken Sie sich die hochgebildete Annette, als die Frau eines wohlhabenden Handwerkers, in einer solchen Gesellschaft. Die gelehrte Frau Meisterin, welche französisch und italienisch kann, von den Griechen und Römern zu reden weiß und dabei vielleicht einmal den Festkuchen verbrennen ließ, wie würde es ihr ergehen! Wie müßte ihr selbst in diesen Umgebungen zumute werden! Und welche Qual wäre es für sie, den ewig unbefriedigten Hang zum Höhern, zum geistig Schönen mit sich herumzutragen, während sie den ganzen Tag arbeiten müßte, um ihr Hauswesen zu beschicken, und bei noch unerwachsenen Kindern selbst nachts auf keine sicher ruhige Stunde rechnen könnte. Ihr Mann mag sie noch so herzlich lieben, er mag noch so gut und brav in seiner Art sein, er wird doch oft gar nicht wissen, was sie meint, wenn sie von etwas anderm als dem ganz Alltäglichen mit ihm zu sprechen versucht.«
»So sehe ich denn keine Rettung für meine arme Annette, als daß sie immer bei mir bleibt«, rief schmerzlich bewegt Gabriele. »Nichts hat je mein innigstes Mitleid mehr erregt«, fuhr sie fort, »als wenn ich las, wie Jean Paul das vernähte, verwaschne, verkochte Leben der armen Weiber schildert, die nur einmal im sonnenhellen kurzen Tage der Liebe ihr Haupt erhoben und dann mit beraubtem Herzen auf ewig in die Tiefe versinken. Ich hoffte, es könne in der Wirklichkeit anders sein, Sie, Ernesto, lehren mich das Gegenteil, ich traue Ihrem erfahrnen, weltklugen Sinn; aber ich möchte darüber weinen, daß der größte Teil meines Geschlechts so elend sein muß.«
»Sie gehen in ihrem Eifer wieder zu weit, gute Gabriele«, sprach Ernesto, »gerade wie an jenem ersten Abend bei den Tableaux. Erinnern Sie sich noch, wie Sie um einiger unschuldig-boshafter Anmerkungen willen die ganze Gesellschaft für lauter maskierte Tigerkatzen ansahen? Und doch haben Sie jetzt schon gefunden, daß ich recht hatte, indem ich Sie versicherte, daß jene Leute wirklich so übel nicht sind, und daß sie, ihrer Lust am Medisieren unbeschadet, für Unglückliche nicht nur einen Dukaten in der Hand, sondern sogar eine Träne im Auge in Bereitschaft halten, wenn man ihnen den Jammer nur recht deutlich zu machen versteht. So wie damals die Verderbnis der Welt, so denken Sie sich jetzt das Unglück, sich nicht auf Ihre Weise des Lebens freuen zu können, wieder viel zu groß. Und nehmen Sie denn die Mutterfreuden, welche eine Handwerkersfrau ebensogut empfindet als eine Gräfin, für gar nichts? Für nichts das Gelingen in ihrem Hauswesen? Die treuherzige, ehrliche Liebe eines guten, wenn gleich nicht geistig gebildeten, Mannes? Selbst bei Ihrem Jean Paul können Sie des Trostes genug finden; gegen die eine Stelle, welche Sie anführten, will ich Ihnen zwanzig, andere zeigen, wo er die Freuden dieser Frauen an schönen neuen Hauben und Kleidern, an festlichen Gastereien, an einem wohleingerichteten Hausstande ebenso wahr schildert als ihr mühseliges Alltagsleben. Rauben Sie Ihrer Annette nur nicht die Fähigkeit, an dem Glück sich genügen zu lassen, das ihrem Stande gebührt. Entbehrt sie die Freuden höherer Bildung, so entgeht sie auch vielen aus ihr entspringenden Schmerzen, und es ist noch immer nicht entschieden, wohin die Waage sich neigt.«
»Soll ich sie denn so ganz ohne allen Unterricht lassen?« fragte Gabriele. »Lehren Sie sie richtig deutsch schreiben und sprechen«, war Ernestos Antwort, »aber um des Himmels willen keine fremden Sprachen, die sie nur dazu bringen könnten, sich über ihresgleichen zu erheben. Annette wird in Deutschland leben und sterben, und sollte ein seltsames Geschick sie ins Ausland versetzen, so lehrt Not nicht nur beten, sondern auch Englisch und Französisch. Lassen Sie ihr artiges Stimmchen mit den Waldvögeln um die Wette singen, aber wie diese, ohne Noten und ohne Gitarre, Mann und Kinder werden sich an ihren Liedern doch ergötzen. Von Alexander dem Großen und seinesgleichen braucht sie vollends keine Silbe zu wissen, um eine tätige, freundliche Hausfrau zu werden, deshalb kann sie aber doch sonntags manches gute Buch beim Strickstrumpf lesen, das ihren literarischen Horizont nicht übersteigt, und wenn es sein muß bei Lafontaines rührenden Geschichten ihr bitter-süßes Tränchen weinen, obgleich ich ihr gerade diese am wenigsten anpreisen möchte.«
»Aber Annette hat doch soviel Anlagen«, wandte halb besiegt Gabriele ein.
»Sie ist auch hübsch und wohlgewachsen«, erwiderte schnell Ernesto. »Wollen Sie sie deshalb in die kostbarsten, feinsten Stoffe kleiden, die eine schöne Gestalt am vorteilhaftesten bezeichnen? Liebe Gabriele!« fuhr er fort, »alle Welt schreit jetzt über den alles entnervenden äußern Luxus in unsrer der höchsten Kraft bedürftigen Zeit, ich aber halte den geistigen Luxus für weit gefährlicher; mir graut weit mehr, wenn ich die Töchter unsrer wohlhabenden Handwerker in französische Schulen, als wenn ich ihre Mütter in gestickten Kleidern gehen sehe. Schöne Kleider lassen sich allenfalls erwerben und bezahlen, wie aber setzt man ein durch halbes Wissen verdrehtes Köpfchen wieder zurecht?«
»Und doch redeten Sie noch gestern abend bei der Tante allem Luxus gar sehr das Wort«, wandte lächelnd Gabriele ein.
»Das tat ich und werde es immer tun«, antwortete Ernesto, »aber nur bei denen, welche Zeit und Geld genug dazu haben. Alles, was wir zu besitzen streben, ohne es zu brauchen, ist Luxus, aber in unsern Tagen ist vieles Bedürfnis geworden, was noch vor dreißig Jahren Luxus war. Auch sprach ich jetzt gar nicht vom äußeren Luxus, denn jedes Kind weiß, daß wir ohne ihn wieder zum eichelnessenden Naturzustande unsrer Vorfahren herabsänken. Ich spreche vom innerlichen, geistigen, den sollen und müssen die Reichen freilich treiben. Was würde sonst aus Autoren, Verlegern und aus Künstlern, wenn niemand ein Buch oder ein Kunstwerk kaufte, als wer Freude und Genuß davon hat? Sehen Sie nur Ihre Tante an, die treibt den rechten geistigen Luxus, und ich kann sie darum nicht genug loben und ehren, denn sie hat Geld und Zeit im Überfluß. Für sich bedarf sie weder Bücher noch Kunstwerke, weder Gelehrte noch Künstler zum Umgange, im Gegenteil, sie sind ihr alle recht lästig, dennoch kauft sie die erstern, bereitet den zweiten ein angenehmes Dasein und ahnet nicht einmal, wieviel Gutes sie damit stiftet. Aber eine Frau des arbeitenden Mittelstandes darf ihr das nicht nachtun. Wenn eine solche Bildchen malt, Gitarre spielt und Lektüre treibt, so verschwendet sie wenigstens die Zeit, welche ihrem Haushalt gehört und oft köstlicher als Gold ist; obendrein bereitet sie sich eine traurige Existenz, weil sie gegen ihren, ihr bestimmten Kreis anstrebt, von welchem sie sich doch nicht losreißen kann. Darum, liebe Gabriele, bitte ich Sie nochmals, versuchen Sie es nicht, aus einer niedlichen Wiesenblume eine Prachtpflanze zu erkünsteln, die in dem rauhen Klima zugrundegehen müßte, in welchem sie in ihrem natürlichen Zustande recht ergötzlich blüht! Lehren Sie Annetten weder Französisch noch Italienisch und sagen Sie ihr kein Wort mehr von Alexander dem Großen.«
Gabriele versprach endlich, ihrem erfahrnen Freunde zu folgen, obgleich mit innerm Widerstreben, denn er hatte nur ihren Verstand, aber nicht ihr Gemüt besiegt; obendrein erschwerten sowohl Annettens Eitelkeit, als die wirkliche Lust des jungen Mädchens am Lernen ihr diesen Entschluß, aber sie blieb ihm treu, nicht nur weil sie es versprochen hatte, sondern auch weil sie einsah, daß es wirklich so besser sei.
Ottokar blieb noch immer Gabrielens Hausgenosse. Als den Sohn eines entferntlebenden, aber mit ihrem Gemahl innigst verbunden gewesenen Freundes hatte die Gräfin Rosenberg ihn dringend eingeladen, in ihrem sehr geräumigen Hause bei ihr zu wohnen, solange er in der Stadt verweilen mußte, in welcher er seine nahe Anstellung zu einem Gesandtschaftsposten erwartete. Aus den wenigen zu seinem dortigen Aufenthalt bestimmt gewesenen Wochen wurden Monate, ohne daß weder er noch seine gastlichen Freundinnen es zu bemerken schienen. Ottokar befand sich zu wohl in ihrer Nähe, um über dieses Zögern der Entscheidung seines Schicksals in Ungeduld zu geraten. Die Gräfin sowohl als Aurelia hatten ebenfalls ihre eignen triftigen Gründe ihn gerne bei sich zu sehen, und so lebten alle drei in großer Zufriedenheit nebeneinander hin, ohne die Tage zu zählen.
In der ersten Zeit sah Gabriele Ottokarn weit seltener, als sie es im stillen gehofft und gefürchtet hatte, denn der geselligen Abende im Hause ihrer Tante gab es jetzt sehr wenige.
In großen Städten tritt zwar nie eine gänzliche Ebbe der Vergnügungen ein, aber oft eine alles mit sich fortreißende Flut, während welcher Feste an Feste sich reihen, und die Zahl der Tage für alle kaum hinreichen will. Solch eine Flut fiel gerade in die Zeit, wo Gabriele noch nicht öffentlich erschien. Bälle, große Soupers, auffallende theatralische Neuigkeiten zogen die Gräfin und ihre Tochter an jedem Abende aus dem Hause, ohne ihnen Zeit für ihre eignen Zirkel zu lassen, und auch Ottokar ward von dem Strome mit fortgerissen. Gabrielen entging dadurch jede Gelegenheit, ihn anders als an der Mittagstafel zu sehen, und auch an dieser vermißte sie ihn oft. Sowohl seine persönliche Liebenswürdigkeit, als seine äußern Verhältnisse zogen ihm vielfältige Einladungen in andern Häusern zu, und die Gräfin hielt ihn nie davon zurück, solche anzunehmen. Sie blieb auch in Hinsicht seiner ihrem Systeme treu: keinen ihrer Gäste in seiner Freiheit zu beschränken, denn Erfahrung hatte sie gelehrt, daß dies der sicherste Weg sei, sie immer fester an sich zu binden.
Mit gewaltigem Herzklopfen hörte Gabriele jedesmal die Stunde schlagen, welche sie in den Speisesaal rief; ihre sonst ziemlich überwundne ängstliche Blödigkeit kehrte dann mit verdoppelter Gewalt zurück, und nur heimlich wagte es ihr Blick, unter den Anwesenden nach Ottokar zu suchen. Stumm und traurig nahm sie ihren Platz ein, wenn er abwesend war; die Unterhaltung rauschte unbeachtet an ihr vorüber, und nur Aureliens lustiger Übermut versuchte es zuweilen, sie hinein zu verflechten. Die übrigen, mit Stadtgesprächen beschäftigt, schienen fast gar nicht sie zu bemerken. Ohnehin war die Gesellschaft nie zahlreich, die Gräfin liebte keine Diners, sie schimmerte lieber bei Kerzenschein, und auch Ernesto war ein seltner Gast an ihrem Tische.
Ganz anders aber gestaltete sich die Unterhaltung, wenn sie durch Ottokars Gegenwart belebt ward. Mit Entzücken sah dann Gabriele, wie alles in seiner Nähe sich veredelte, wenn sie auch dabei bald erglühte, bald erblaßte, und ihr Herz sich zitternd in ihrer Brust bewegte. Es konnte ihr nicht entgehen, daß alle strebten, sich vor ihm vom Gemeinen entfernt zu halten und ihn offenbar als den Ersten unter sich anerkannten, obgleich er mit der anspruchlosesten Bescheidenheit sich über keinen zu erheben suchte. Sein Platz an der runden Tafel zwischen der Gräfin und Aurelien war dem von Gabrielen gerade gegenüber. Ihr entging fast kein einziges seiner Worte, und wenn er im Gespräch sich gegen seine Nachbarinnen wendete, so konnte sie dem freundlichen Strahlen seiner Augen, dem anmutigen Spiel seiner Gesichtszüge zusehen, ohne daß jemand es bemerkte. Oft wünschte sie recht sehnlich, daß er auch an sie mit freundlichen Worten sich wenden möge, und wenn er es tat, so raubte süßes Erschrecken ihr den Atem zur Antwort. Ottokar konnte nicht umhin, ihre ewige Verlegenheit zu bemerken, er sah, daß sie auch mit den übrigen Anwesenden nur dann sprach, wenn sie gefragt ward, und immer in möglichst wenigen Worten. Er schrieb ihr Benehmen einzig der unüberwindlichen Furchtsamkeit zu, die er an einem so jungen, in der tiefsten Einsamkeit erzogenen Mädchen sehr natürlich fand, und begnügte sich endlich, aus Mitleid mit ihrer Angst, sie nur mit einem freundlichen Lächeln zu begrüßen, ohne sie ferner durch Anreden in Verlegenheit zu setzen.
Gabriele bemerkte dies, ohne zu wissen, ob sie sich darüber freue oder betrübe. Immer mehr verstummte sie in seinem Beisein und strebte nur, nichts von dem zu verlieren, was er zu den übrigen sprach. Ihr war dabei, als ob er dennoch nur sie damit meine, als wenn nur sie den Sinn seiner Rede vollkommen verstünde, weil nur sie so an jedem seiner Worte hing, denn die andern konnten doch manches zuweilen achtlos überhören. Jeder seiner Gedanken war wie aus ihrer tiefsten Seele herausgesprochen, bei jedem vorkommenden Gegenstande fühlte sie im voraus, wie er sich darüber äußern würde, und doch war und blieb sie die einzige, zu der er niemals mit Worten sich wendete.
Träfe er mich nur einmal im Zimmer allein! Dann müßte er doch zu mir reden, ich hätte gewiß dann auch den Mut, ihm zu antworten, und alles wäre anders! So dachte sie oft, während alles blieb wie es war.
Auch wußte sie nicht, was denn eigentlich anders werden solle. Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen schwammen formlos vor ihrem sonst so klaren Sinn, aber tief in ihrem Gemüt herrschte eine unaussprechliche Sehnsucht nach jenem seligen Moment, ohne daß ihr nur von ferne der Gedanke kam, ihn auf irgendeine Weise herbeiführen zu wollen.
Keiner von denen, welche sie kannte, schien ihr würdig, an Ottokars Seite zu stehen, selbst Ernesto nicht, in dessen hellem, scharfem Blick sie die milde Güte oft vermißte, durch welche Ottokar ihr vor allen liebenswert erschien, und so stieg dieser nach jedem Wiedersehen immer höher in ihrer Verehrung, und ihr Anerkennen seines seltnen Wertes ward immer demütiger.
In ihrem einsamen Zimmer rief sie sich jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen zurück, aber sie vermochte es nie, vor andern seinen Namen zu nennen, selbst nicht vor der sich immer fester an sie schließenden Auguste von Willnangen. Es betrübte sie, sie schalt sich undankbar, wenn es ihr unmöglich war, das herzliche Vertrauen im gleichen Maß zu erwidern, mit welchem diese, mädchenhaft traulich, sie auf den tiefsten Grund ihres reinen Herzens blicken ließ. Aber sie war an das Leben mit einem Wesen gewöhnt, das ohne Worte sie verstand und dessen jetzt ruhendes Herz sonst mit dem ihrigen in stetem Einklänge schlug, wie zwei gleichgestimmte Saiten, die nur eines Hauches bedürfen, um zugleich im nämlichen Tone zu erbeben. Es blieb ihr unbegreiflich, daß nicht Ernesto, Frau von Willnangen, deren Tochter, daß nicht alle nur von Ottokar sprachen, daß sie ihn nicht alle als den Einzigen, Seltnen laut anerkannten, wie er ihr schon beim ersten Anblick auf der Reise erschienen war. Aber da jedermann schwieg, so verstummte auch sie.
Nur in der stillen Nacht ergoß sich ihr volles Herz in dem Tagebuche, welches sie schon früh zu führen gewöhnt worden war und in welchem sie von jeher alles Merkwürdige aus ihrem äußern und innern Leben oft nur in kurzen Sätzen niederschrieb. Oft glaubte sie bei dieser einsamen Beschäftigung, die beseligende Nähe des Geistes ihrer Mutter zu fühlen, der, ihrer Überzeugung nach, als schützender Engel sie umschwebte. Dann redete sie die Mutter als noch lebend an, ihr und den Blättern ihres Tagebuchs vertraute sie allein das glühende Gefühl, welches sie jetzt allmächtig beherrschte, dem sie immer wehrloser sich hingab, weil sie es nicht erkannte. Ottokar ward gar bald durch das Schreiben von ihm zum Geschöpf ihrer jugendlichen Phantasie, zu einem himmlischen Gebilde; er stand in einer Glorie vor ihrem Sinne, zu welcher sie ihm selbst die Strahlen lieh, ohne sich dessen bewußt zu werden.
Alles, was wir in der Einsamkeit dem Papier vertrauen, übt dadurch tausendfache Gewalt an uns, Liebe, Freude, vor allem der Schmerz. Wir selbst schärfen bei dieser stillen Beschäftigung jeden Stachel des Lebens, wir drücken ihn immer tiefer in das wunde Herz, während wir uns alles verhehlen, was ihn sänftigen könnte. Und so kommen wir bald dahin, in fruchtlosem Mitleid mit uns selbst zu vergehen, und kein Strahl aus der hellern Wirklichkeit erleuchtet mehr die sternlose Nacht, die wir selbst immer dichter und dichter um uns und unser Geschick ziehen.
So war es auch mit Gabrielen; aber keiner von den wenigen, die an ihr Teil nahmen, konnte vor dieser Gefahr sie warnen, denn allen blieb sogar das Dasein ihres Tagebuchs ein Geheimnis und mußte seiner Natur nach es bleiben.
Alle die Abende, an denen Feste und Lustbarkeiten ihre Hausgenossen entfernt hielten, brachte Gabriele bei der Frau von Willnangen zu. Das Gefühl, mit welchem die edle Frau zuerst der Tochter Augustens entgegen kam, hatte sich bald in wahrhaft mütterliche Liebe zu dem verwaisten Mädchen umgewandelt, und oft betrachtete sie es mit ängstlicher Sorge. Ihrem tief eindringenden Blick entging es nicht, daß Gabriele, von einer einzigen, vielleicht ihr ganzes künftiges Dasein bestimmenden Empfindung beherrscht ward; aber vergebens strebte sie, den Gegenstand ihrer jugendlichen Neigung zu entdecken, denn bis jetzt hatte sie in Ottokars Gegenwart sie fast nie gesehen, auch kannte Frau von Willnangen letztern ohnehin nur oberflächlich, da er so ganz zu den nächsten Umgebungen der Gräfin Rosenberg gehörte. Ahnendes Vorgefühl ließ sie wenig Erfreuliches für Gabrielens Zukunft hoffen, desto fester aber begründete sich der Vorsatz in ihrem Gemüt, dieses so vereinzelt und hülflos dastehende anmutige Wesen in keinem des Trostes bedürfenden Moment zu verlassen und bei Gabrielen, wie ehemals bei Ferdinand, an die Stelle der früh verklärten Auguste zu treten, soviel die Möglichkeit dies erlaubte.
Im nähern Umgange mit ihrer welterfahrnen Freundin ward Gabrielens Blick in das Leben allmählich immer mehr erweitert. Blieb sie allein mit ihr und Augusten, so verlebte sie Abende, während welchen sie sich in ihre frühere Zeit auf Schloß Aarheim wieder versetzt glaubte. Musik, gemeinschaftliches Lesen, vertraulich heitres Gespräch und Übung mancher weiblichen Kunst liehen den Stunden dann Flügel. Oft aber erweiterte sich auch der kleine Kreis durch das Hinzukommen mehrerer Freunde der Frau von Willnangen, und freie, frohe Mitteilung belebte dann die kleine Gesellschaft. Gabriele fühlte sich in ihr weit heimischer als im Hause ihrer Tante, aber sie vermochte es doch noch nicht, ihr zurückhaltendes Wesen im Beisein mehrerer ganz abzulegen und blieb darum gewöhnlich nur eine stumme, wenngleich fröhlich teilnehmende, Zuhörerin.
So verging der Anfang des Winters; immer näher kam das neue Jahr, welches bestimmt war, Gabrielen diesen stillern Freuden zu entreißen, um sie in größere Zirkel einzuführen. Sie sah ihm deshalb mit bangem Widerstreben entgegen.
Eines Abends ward die Gesellschaft weit größer und glänzender als gewöhnlich, viele, die sonst mitten im Geräusch lebten und selten Frau von Willnangen besuchten, traten nach und nach in ihr Zimmer, denn ein ungewöhnlich spät anfangender Ball ließ ihnen zufällig den Abend frei, und sie benutzten diese Gelegenheit, sich vorher hier zu versammeln, wo sie die Frau vom Hause immer zu finden gewiß waren. Unter mehreren Personen, welche Gabriele schon im Hause ihrer Tante gesehen hatte, erkannte diese vorzüglich die Gräfin Eugenia und den jungen Mann, welcher den Antonius vorgestellt hatte; ganz zuletzt kam auch Ernesto hinzu und mit ihm Ottokar.
Frau von Willnangen wurde Gabrielens Erschrecken bei Ottokars Eintritt, ihr hohes Erröten und ebenso plötzliches Erbleichen gewahr, und das bis dahin vergebens gesuchte Geheimnis des jungen Herzens lag nun entschleiert vor ihrem Blick. Ihre Ansicht von Gabrielens Zukunft klärte sich auf, denn ohne Ottokarn genau zu kennen, wußte sie doch genug von ihm, um ihn günstig zu beurteilen. Zum ersten Mal fiel es ihr ein, daß er und Gabriele in einem Hause lebten; daß die ihr eigne Liebenswürdigkeit bei diesem steten Zusammensein sich ihm offenbaren müsse; und daß auch er von ihr sich bald mächtig angezogen fühlen würde, schien ihr gewiß. Sie beschloß daher, von nun an Ottokarn genauer zu beobachten und keine Gelegenheit dazu entschlüpfen zu lassen. Der Gedanke, Gabrielen recht bald unter dem Schutz, am liebenden Herzen eines edeln Mannes zu sehen, war ihr zu tröstend, zu erfreulich, als daß sie sich nicht hätte geneigt fühlen sollen, auf das tätigste dazu mitzuwirken, sobald die Gelegenheit sich darbot. Fürs erste aber wollte sie sich auf bloßes Bemerken beschränken.
Das Gespräch wandte sich diesen Abend sehr bald wieder auf die Tableaux bei der Gräfin Rosenberg. Als die ersten und bis jetzt einzigen, welche man hier gesehen hatte, waren diese Darstellungen noch unvergeßlich, und in den Gesellschaften ward viel herüber und hinüber, preisend und tadelnd, darüber gesprochen. Gräfin Eugenia fand es seit jenem Feste für gut, überall so wie hier, als die erklärteste Widersacherin dieses neuen geselligen Vergnügens aufzutreten. »Ich war herzlich froh«, sprach sie, »als ich einen schicklichen Vorwand ersonnen hatte, mich von der Teilnahme davon loszumachen. Nie hätte ich es ausgehalten; mich bewegungslos von mehr als hundert Augen anstarren zu lassen, dazu gehört ein Grad von Mut, welchen ich mich wenigstens nicht rühmen darf zu besitzen.«
»Und doch waren Sie so gütig, uns auf unserm Privattheater recht oft durch Ihre Erscheinung zu entzücken«, wandte mit einer höflichen Verbeugung der Antonius jenes Abends ein. »Das ist ja ganz etwas anders«, erwiderte Eugenia, »dort auf den Brettern bin ich nicht mehr ich, die Dichtung, die Kunst reißen mich hin, ich sehe die Zuschauer und ihre Blicke nicht mehr. Überdem gehört ein gewisses Talent dazu, um auf der Bühne aufzutreten; aber schön geputzt einige Minuten bewegungslos dastehen, kann jedes Gänschen vom Lande, wenn es nur hübsch ist.«
»Vor allen Dingen ist der hohe Grad von Eitelkeit und Leichtsinn wohl zu erwägen, welcher dazu gehört, sich in phantastischer, oft unanständiger, ja sogar heidnischer Kleidung zur allgemeinen Bewunderung hinzustellen«, sprach langsam bedächtig ein Fräulein Silberhain. Diese junge Dame stand schon seit einiger Zeit auf der zweiten Grenze ihres Lebensfrühlings. Früher war sie eine Naturphilosophin, jetzt wandte sie sich zur Frömmigkeit, weil diese moderner ist, aber sie hatte Schelling und Thomas a Kempis in ihrem Köpfchen noch nicht recht zu einigen gewußt und warf daher Redensarten aus beiden im Gespräch verwirrt und wunderlich durcheinander. Übrigens hing ein fein gearbeitetes Kruzifix an einer goldenen Kette von ihrem Halse herab, ein zweites krümmte sich sehr widerwärtig zu einem Ringe an ihrer Hand, und ihre gemessenen Worte drängten sich mühsam durch die kaum geöffneten, fast regungslosen Lippen.
»Ich begreife nicht, wie man um so nichtigen Zweck seine Identität zu opfern vermag«, fuhr Fräulein Silberhain in ihrer Rede fort, »wie kann ein in seinen tiefsten Tiefen vom Höchsten erfülltes Gemüt so ganz dieses vergessen und dem prunkenden Schimmer irdischer Vergänglichkeit huldigen! Die Stille des Gemüts, das beseligende Gefühl dessen, was unser Ein und Alles sein soll, müssen ja in der aus Tand und flüchtigem Glanz entstehenden Verblendung auf lange von uns weichen, und der verirrte Sinn braucht vielleicht viele Monate, ehe er wieder zur anschauenden Klarheit gelangt.«
»Hätte ich nur einen recht schönen türkischen Shawl gehabt, ich wäre für mein Leben gern dabei gewesen, wenn ich auch nur ein ganz unbedeutendes Nebenpersönchen hätte vorstellen sollen; und was wetten wir? Mein frommes, gelehrtes Schwesterchen würde sich unter dieser Bedingung auch wohl dazu haben bewegen lassen«, rief überlaut das sehr junge Fräulein Fanny Silberhain, indem es sich lachend hinter Gabrielen vor den zürnenden Blicken der viel ältern Schwester verbarg.
»Allerdings«, sprach ein ansehnlicher, schwarz gekleideter Mann, »allerdings wüßte ich wenigstens keine bessere Gelegenheit, um sowohl jene kostbaren Hüllen als überhaupt alle Pracht der Gewänder und auch körperliche Vorzüge ins schönste Licht zu stellen als solche Tableaux. Bei Maskeraden verlieren die ausgesuchtesten Masken sich im Gewühl, und obendrein verhüllen die häßlichen Larven das Gesicht, hier aber wird uns der ungestörteste Genuß der Anschauung des Schönen, verbunden mit der ästhetischen Freude an dem Kunstwerk, welches, gleichsam ins Leben gerufen, vor uns tritt.«
»Echte Freude an der Kunst ist allemal religiös, hier aber, Herr Professor! sehe ich nur die traurige Erscheinung ungebändigten Weltsinns und unverhüllter Eitelkeit«, sprach, sanftmütig zürnend, das Fräulein mit dem Kruzifix.
»Erlauben Sie indessen, meine Gnädige!« erwiderte der Professor, »daß ich Sie daran erinnere, wie untrennbar die Neigung zur Eitelkeit von jeder höhern Natur ist, die man die organische zu nennen pflegt; bemerkt man sie doch sogar an einigen der edleren Tiergattungen. Sie ganz ausrotten zu wollen, wäre ebenso vergeblich als schädlich, so wie alles, was gegen die Natur anstrebt. Es ist vielleicht unschicklich, hier den nackten Wilden als Beweis, wie tief der Hang zum Putz in unserem Wesen liegt, anzuführen, der sich tattowiert und mit grellen Farben bemalt, um sich zu verschönern, aber blicken Sie nur um sich her, Sie finden bei Reichen und Armen dasselbe, nur anders gestaltet. Daß man sich, schön geschmückt, auch andern gerne zeigt, ist ebenfalls natürlich und war es vom Anbeginn der Welt. Damals, als Weichlichkeit und Prachtliebe das alte Rom seinem Untergange näher führten, war es unter den vornehmen Römerinnen gebräuchlich, sich, wenn sie einander besuchten, nicht nur auf das herrlichste zu schmücken, sondern sich auch durch ihre Sklavinnen mehrere reiche Gewänder und Schmuck nachtragen zu lassen, die sie im Hause der den Besuch empfangenden Dame alsdann sich anlegen ließen, wie Sie alle, meine Gnädigen, aus der weltberühmten Anekdote der Mutter der Gracchen längst wissen werden. Man behauptet, daß diese Sitte auch unter den, allen männlichen Augen verborgen lebenden, vornehmen Frauen des Orients noch heutzutage im Schwange sei. Aber wie ärmlich, wie unbequem, wie ungraziös selbst erscheint diese Art von Schaustellung gegen eine Reihe von Tableaux, welche die glücklichste Wahl unter den Kostüms aller Völker, aller Jahrhunderte frei lassen. Die Pracht der Steine und der Gewänder erscheint in ihnen nur als das begleitende Attribut der Schönheit, des geistreichen Ausdrucks und der anmutigsten Stellungen, und wir können es in der Tat der Gräfin Rosenberg nicht genug verdanken, daß sie mit diesem erhöhten Genuß uns bekannt machte.«
»In welchen wunderlichen Zeiten leben wir! Ein Professor muß gegen Damen die Eitelkeit in Schutz nehmen!« rief ein alter Herr.
»Mich dünkt, wir leben in einer in dieser Hinsicht recht verständigen Zeit, in welcher man endlich einmal aufhört, die Frauen allein eines Fehlers zu beschuldigen, den ich am liebsten eine Tugend nennen möchte«, erwiderte schnell Ottokar. »Wir Männer mögen uns noch so weise anstellen«, fuhr er lächelnd fort, »wir sind ebensowenig frei von ihm als die Frauen, und ich danke Gott dafür. Der Hang zum Gefallen erscheint mir als die Würze des geselligen Lebens, als die Wurzel aller seiner Freuden und Tugenden, die ohne ihn zugrunde gehen müßten. Man täte ja am besten, in Höhlen und Wälder zu ziehen, wenn niemand mehr das Bestreben zeigen wollte, liebenswürdig zu erscheinen und sogar durch den bloßen Anblick zu gefallen.«
»Sollte denn aus diesen Tableaux, über welche wir so viel streiten, nicht auch für die Kunst manches Gute entstehen können?« fragte Auguste von Willnangen.
»Doch wohl nur, indem sie mehr Teilnahme an ihr und ihren Erzeugnissen aufregen«, erwiderte Ottokar, »sonst glaube ich nicht, daß sie in dieser Hinsicht von großem Nutzen sind. Sie bleiben doch nur die Kopie einer Kopie der Natur, und zwar eine unvollkommne, denn vieles muß aus jedem Gemälde hier wegbleiben, das doch durchaus dazu gehört, die Hintergründe, die Architekturen, die Landschaften, das Gewölk.«
»Eine angenehme, gesellige Unterhaltung zur Abwechselung mit den ewigen Charaden und Sprichwörtern scheinen sie mir doch wenigstens zu bieten«, sprach Frau von Willnangen, »auch hoffe ich, sollen sie dazu beitragen, die unseligen Jeux d'esprit aus der Gesellschaft zu verbannen, in welchen der arme Geist so gemartert wird, um zu erscheinen, daß er sich endlich ganz in Langeweile auflöst. Nur tut es mir leid, daß die Vorbereitungen zu Tableaux für die kurze Dauer ihrer Erscheinung zu viel Zeit und Mühe kosten.«
»Alles läßt sich vereinfachen«, erwiderte Ernesto, »und ich getraue mir mit sehr wenigen Vorrichtungen, ganz aus dem Stegreif, dennoch manches Ergötzliche in dieser Art Ihnen vorzuführen. Wir brauchen zum Beispiel nur die Flügeltür auszuheben, einen Vorhang vorzuhängen, eine große spanische Wand dahinter zu stellen, und wir haben das Lokal dazu. Einige große Lampen, oder ein paar Dutzend zu einer Fackel vereinigte Wachslichter, und die Beleuchtung ist fertig. Schminke und etliche falsche Bärte für die Herren sind bald herbeigeschafft, und wenn die Damen ihre schönen Shawls zur Garderobe herleihen wollen, so läßt sich mit diesen wenigen Requisiten schon manch guter und glänzender Effekt hervorbringen. Auch für die Kunst selbst könnte auf diese Weise Bedeutendes geschehen, wenn die Gesellschaft einem Künstler erlaubte, mit ihrer Hülfe nicht bloß schon vorhandene Gemälde nachzubilden, sondern seine eignen Gedanken, die oft noch beinah formlos ihm vorschweben, auszuführen. Manches erfreuliche Kunstwerk könnte diesem Spiele seine Entstehung verdanken, wenn ein talentvoller Künstler auf diese Weise gleichsam ein Vorbild von dem sähe, was er auszuführen willens ist; der Zufall würde manches ordnen, manches in ihm erwecken, an das er außerdem nie gedacht hätte, und der aus solchen Proben für die Kunst entstehende Gewinn könnte leicht unschätzbar werden.«
Kaum hatte Ernesto geendet, als schon Auguste von Willnangen und Fanny Silberhain fröhlich aufsprangen und ihn mit Bitten bestürmten, gleich auf der Stelle eine solche Darstellung anzuordnen. Ottokar, Antonius und der größte Teil der Gesellschaft, selbst Frau von Willnangen nicht ausgenommen, vereinigten ihre Bitten mit jenen, und Ernesto mußte dem allgemeinen Wunsche nachgeben; nur tat er es mit der Bedingung, daß es ihm erlaubt sei, seine Figuranten selbst zu wählen. Fanny sammelte sogleich aufs eifrigste alle Shawls ein und wählte dabei in Gedanken den glänzendsten unter ihnen für sich aus; Auguste besorgte so schnell als möglich alles Übrige und trug noch eine Menge zweckdienlicher Sachen herbei, die von frühern Maskenanzügen und kleinen theatralischen Vorstellungen her sich noch in der Garderobe vorfanden. In weniger als einer halben Stunde war alles zum Anfangen der Vorstellungen in Bereitschaft. Mehrere Tableaux folgten nun einander, ernste und heitere, im mannigfaltigen Wechsel, denn Ernesto war unerschöpflich im Erfinden, und Ottokar sowohl als der Professor standen ihm bei der Anordnung treulich bei. Die ganze Gesellschaft geriet in eine so fröhliche Stimmung, daß alle die Wagen überhörten, welche allmählich herbeirasselten, um sie zu einem glänzenderen Feste abzuholen. Nur Fräulein Silberhain saß ernst in sich gekehrt, und wies im voraus alle Einladungen zur tätigen Teilnahme unerbittlich ab, ehe noch eine an sie gelangte. Gräfin Eugenia hingegen hatte eine Weile zugesehen; da es aber Ernesto nicht einfallen wollte, ihr eine Rolle anzubieten, winkte sie Antonius herbei, der eben müßig dastand. Leise flüsterte sie ihm den Auftrag zu, Ernesto auf nicht auffallende Weise an sie zu erinnern und ihm zu verstehen zu geben, daß sie in einem so kleinen, aus lauter Freunden bestehenden Zirkel ihren Widerwillen wohl überwinden werde, und nötigenfalles sich entschließen könne, etwa als Grazie oder Muse aufzutreten. Antonius erklärte ihr sein Entzücken über diesen Auftrag, versicherte, nicht mit Worten ausdrücken zu können, wie geehrt er sich durch dieses holde Vertrauen in seine Geschicklichkeit fühle, und flog in das Nebenzimmer, um ihren Befehl zu vollbringen. Leider aber gelang es ihm durchaus nicht, Ernesto nur auf eine Minute allein habhaft zu werden, es kam ihm sogar vor, als ob dieser ihm geflissentlich ausweiche. Vielleicht hatte Ernesto wirklich von dem ausgesprochenen Wunsch der Gräfin etwas gemerkt und vermied mit Vorbedacht die Gelegenheit, ihn an sich kommen zu lassen, vielleicht lag aber auch die Schuld an der gar zu höflichen Unbeholfenheit des Abgesandten; genug, Eugenia blieb den ganzen Abend unangefochten als Zuschauerin, und war die erste, welche die laute Bemerkung machte, daß die zum Anfange des Balls bestimmte Stunde schon längst geschlagen habe.
Gedankenvoll saß Frau von Willnangen dicht neben Gabrielen in der fernsten Ecke des Zimmers. Sie sah, wie jene jedem Tone Ottokars lauschte, wie ihr Auge entzückt auf ihm ruhte, sooft er in den Tableaux erschien, und das unruhige, fast hörbare Klopfen des jungen Herzens erregte so tiefes Mitgefühl, so bange Sorge in ihrem Gemüt, daß sie fast ebensosehr als Gabriele selbst erschrak, als Ernesto plötzlich vor beiden stand und sie zur tätigen Teilnahme an dem Tableau aufforderte, welches für heute die Reihe derselben beschließen sollte. Doch bald faßte sie sich wieder und stand mit gewohnter Freundlichkeit auf, um ihm mit ihrer jungen Freundin in das Nebenzimmer zu folgen. Gabrielens Hand zuckte in der ihrigen, ihr Blick bat, sie frei zu lassen, doch er ward nicht erhört, und Ernesto erinnerte sie mit komischer Feierlichkeit an das ihm zugestandene Recht, seine Figuranten nach Belieben wählen zu dürfen.
Das Tableau stellte die Nacht vor, die ihren dunkelblauen Sternenschleier über ihre Kinder, den Schlaf und den Tod, ausgebreitet hält. Der Frau von Willnangen hohe Gestalt, der ruhige, milde Ausdruck ihres noch immer schönen Gesichts eignete sich ganz zum Bilde einer stillen, heitern Sommernacht. Zu ihren Füßen schlummerten zwei liebliche, blonde Genien, der eine war mit Mohnblumen geschmückt, der andre, mit der ausgelöschten Fackel, trug einen Kranz von Zypressen. Bunte, phantastische Traumgestalten drängten sich hinter ihr, unter ihnen stand Gabriele, als ein trüber, Unheil verkündender Traum, in ihren langen, schwarzen Schleier gehüllt, unter welchem die goldglänzenden Locken tief herabrollten. Beim Lampenlicht, mitten unter rosenwangigen, schimmernden Gestalten schien sie, ohne alle Schminke, noch blässer als sonst. Sie glich Pygmalions Meisterwerk bei der ersten Regung des erwachenden Lebens. So glühend strahlte ihr dunkles Auge aus dem Marmorgesicht, denn ihr Blick traf auf Ottokarn, der in einiger Entfernung in ihrem Anschaun verloren stand.
Alle Anwesenden erklärten einstimmig dieses Tableau für die Krone von allen, welche dieser genußreiche Abend an ihnen vorübergeführt hatte.
»Ich stimme gern mit Ihnen ein«, sprach Ernesto, »denn die Erfindung dieser Gruppe ist nicht mein, ich habe nur die Träume hinzugefügt. Ich bildete sie nach einer Zeichnung meines leider viel zu früh unter der Pyramide des Cestius zur Ruhe gegangenen Freundes, Carstens«, fuhr er mit bewegter Stimme fort. »Lange fesselte ihn ein trübes Mißgeschick, das wie ein böser Zauber auf seinem Leben ruhte und ihn verhinderte, aus dem Reich der Formen in das der Farben zu dringen. Und da es endlich überwunden war, da sein hoher Genius die Flügel freier zu regen begann, da entschwand er uns ganz. Die Kunst wird ewig um ihren Liebling trauern, um so mehr, da jetzt ein dem seinen ganz entgegengesetztes verderbliches Streben unter ihren Jüngern täglich herrschender wird.«
Die Gesellschaft mußte nun ernstlich zum Aufbruch eilen, denn das Stampfen der Pferde unter den Fenstern mahnte sie immer lauter. In dem dadurch entstehenden Gewimmel fand sich Gabriele plötzlich neben Ottokar. Er beugte sich freundlich zu ihr herab und ergriff ihre zitternde Hand. »Ich fürchte keine bösen Träume mehr«, flüsterte er ihr zu, »seit ich die Vorbedeutung des Unglücks so anmutig erscheinen sah.« Der fortwogende Strom der Gesellschaft riß ihn im nämlichen Moment fort, ohne daß Gabriele zur Antwort Zeit gewann.