Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Aus gleichzeitigen Briefen Ernestos an Frau von Willnangen

»Ich weiß es, teure Freundin! Sie lachen über meine Bedenklichkeiten und Besorgnisse, aber ich lasse es mir gefallen, und gebe ohne Widerstreben Ihrem gutmütigen Spotte mich preis, wenn ich nur nach gewohnter Art Ihnen vertrauen darf, was Herz und Sinne mir trübt. Und dies ist jetzt Aureliens blendendschöne Erscheinung, unerachtet ihres zuvorkommenden Betragens gegen mich und des schmeichelnden Klanges ihrer Worte. Ich kann mich nun einmal des peinlichen Gefühls in ihrer Nähe nicht erwehren und seit ein Zufall, den ich durchaus boshaft und unheilbrütend nennen muß, uns hier in Florenz ihr entgegen warf, habe ich innerlich weder Ruhe noch Rast.

Schon seit sie aufhörte, ein Kind zu sein, spürte ich bei ihr etwas Unheimliches, das meinen Unmut erregte, obgleich ihre äußere Liebenswürdigkeit mir oft recht hinreißend erschien. Jetzt wird dieses Gefühl lauter in mir als je, ihr Lachen, ihr Scherzen klingen mir wie bittrer, dem Leben gesprochener Hohn, der sich nur in erzwungene Lustigkeit zu verkleiden sucht, und ihr ganzes Wesen hat in meinen Augen etwas so Verstörtes, Unheilweissagendes, daß ich weder mich selbst, noch die, welche ich liebe, in ihrer Nähe wissen mag. Vor allem ängstigt es mich, wenn ich Hippoliten, verloren in ihrem Anschauen und in dem Klange ihrer Worte, neben ihr sitzen sehe; dann drängt es mich, ihn von ihr fortzureißen, und müßte ich auch mit meinem geliebten Zöglinge von irgendeinem Felsen herabspringen, wie einst der weise Mentor mit dem Sohne des Odysseus. Daß es übrigens mit dem Einflusse dieser neuen Kalypso bei meinem Telemach keine große Gefahr hat, weiß ich, gottlob, sie wird ihn mir weder bezaubern noch verhexen, obgleich sie zu beidem wohl Lust und auch Talent hätte, denn er steht zum Glück unter höherem Schutze. Wäre mir dies auch früher nicht schon klar geworden, so hätte es mir ein Lied gesagt, welches er sich schrieb mitten in einer rauschenden Gesellschaft, wo Aurelia und andere schöne Frauen ihn aufforderten, mehr teil an der Geselligkeit zu nehmen. Es war an dem Ufer eines kleinen Flusses, wo er sich unter überhängende Pinien setzte und in seine Schreibtafel die Worte aufzeichnete, die er mir beim Nachhausegehen als Antwort auf die Aufforderung der Damen stumm überreichte, die ich ihm wortlos zurückgab und die ich ihn seitdem oft nach einer Melodie singen höre, welche er dazu fand. Ich schließe die einfachen Worte diesem Briefe bei.

Trotz alledem such ich doch absichtlich, aber unmerklich, die Gelegenheiten zu entfernen, wo Hippolit mit Aurelien zusammentreffen kann; denn der Umgang mit Wesen ihrer Art bringt nichts Gutes, macht niemanden besser; und darum soll man ihn nach meiner Überzeugung meiden, soviel man nur immer kann.«

Hippolits Lied

Laßt mich, ob ich auch still verglüh,
        Laßt mich nur stille gehn;
        Sie seh ich spät, Sie seh ich früh
        Und ewig vor mir stehn.

Was ladet ihr zur Ruh mich ein?
        Sie nahm die Ruh mir fort;
        Und wo Sie ist, da muß ich sein,
        Hier sei es oder dort.

Zürnt diesem armen Herzen nicht,
        Es hat nur einen Fehl:
        Treu muß es schlagen bis es bricht,
        Und hat des nimmer Hehl.

Laßt mich, ich denke doch nur Sie;
        In Ihr nur denke ich;
        Ja! Ohne Sie wär ich einst nie
        Bei Engeln ewiglich.

Im Leben denn und auch im Tod,
        Im Himmel, so wie hier,
        Im Glück und in der Trennung Not
        Gehör ich einzig Ihr.

Fortsetzung von Auszügen aus Briefen Ernestos an Frau von Willnangen

»Ich fange an, recht tiefes Mitleid für diese Aurelia zu empfinden, die denn doch vielleicht etwas Vorzügliches und Glückliches hätte werden können, wäre ihr Gemüt minder verwahrloset von Jugend an. Allein dieses Mitleid ist nicht jenes schöne, erwärmende Gefühl, mit dem ich Gabrielens gedenke, Schauder und Widerwillen mischen sich darein, und ich möchte auf immer von einem Wesen mich abwenden können, welches so ganz hoffnungslos in sich zerfallen ist, daß kein Gott und kein Sterblicher hier mehr rechten dauernden Trost gewähren kann.

Mit kalter Brust, mit einem Herzen, das nie, weder Liebe noch Haß empfand, das von frühester Jugend an nur mit der unersättlichsten Eigenliebe erfüllt war, stand Aurelia stets in hoher Selbstzufriedenheit da, auf eine Tugend gestützt, die bei ihr, so wie sie einmal ist, kaum noch den Namen derselben verdient. Wer ihr nahte, huldigte ihrem Geiste, ihrer Schönheit, auch wohl oft nur dem Standpunkte, auf welchen das Schicksal und ihre in Eitelkeit versunkene Mutter sie gestellt hatten, und der Stolzen schien die Welt zu Füßen zu liegen. So sind bis jetzt die Jahre, eines nach dem andern, an ihr vorübergezogen, von ihr unbemerkt. Doch jetzt ist die Zeit des Erwachens endlich gekommen und das, woran sie früher in ihrem Leben nicht gedacht hatte, erfüllt sie mit ängstlichem Grausen vor einer Zukunft, der sie doch nicht auszuweichen vermag. Unter dem triumphierenden Lächeln, das sie noch immer beibehält, sehe ich deutlich ihre innere Herzensangst hervorblicken. Und wissen Sie, wem diese Angst gilt? Dem dreißigsten Geburtstage, dem fürchterlichen, der als Schreckbild am Lebenspfade aller Frauen steht, die Aurelien gleichen. Er naht unaufhaltsam mit schnellen Schritten, dieser entsetzliche Tag, denn Aurelia zählt wenigstens volle vier Jahre mehr als unsre Gabriele und sie beneidet ihr gewiß keinen der übrigen Vorzüge so ganz von Herzen als diesen flüchtigsten von allen.

Im Grunde quält sie sich viel zu früh, denn nie war ihre äußere Erscheinung brillanter. Auch ist die Klippe, die sie scheut, eigentlich nur im gewöhnlichen bürgerlichen Kreise des Frauenlebens recht gefährlich, wo es Tanten und Basen gibt, die über alle Familienereignisse Buch und Rechnung halten und alle Data nachzuweisen wissen. In der Welt, in welcher Aurelia lebt, gleitet man über alles leichter hin; man ist toleranter; man gewinnt kaum Zeit, an sich selbst zu denken, geschweige an andere, und jeden, der sich nur geschickt zu benehmen weiß, läßt man gern für das gelten, wofür er sich geben will. Geist, Witz, Leichtigkeit und Vielseitigkeit im Umgange werden über alles geschätzt, darum trifft auch die glänzendste Periode im Leben berühmter, schöner Frauen der großen Welt sehr selten mit ihrer ersten Jugendblüte zusammen, denn man muß gelebt haben, wenn man sich aufs Leben genugsam verstehen will, um es wie ein Kunstwerk behandeln zu können. Aurelia weiß dieses alles so gut und besser als ich, aber sie denkt nicht daran oder achtet es für einen traurigen Trost. Sie ist noch immer von einer bewundernden Schar demütiger Verehrer umgeben, über die sie nach Lust und Laune unumschränkt gebietet, aber sie fühlt dennoch ihren Thron unter sich wanken und ich sehe deutlich, wie das trübe Vorgefühl einer dunkeln, freudenarmen Zeit sie Tag und Nacht unablässig quält und nagt. Mit ängstlicher Hast wirft sie sich nun auf alles, wovon sie noch in späteren Jahren Glanz und Bewunderung sich versprechen zu können glaubt, auf Musik, Literatur, Kunststudium; sogar Chemie und Astronomie hat sie eine Zeitlang getrieben, weil diese Wissenschaften einmal zufälligerweise Mode wurden. Ihr mangelt, wie Sie wissen, weder Geist noch Talent zu allem, was sie unternehmen möchte, aber sie ist unfähig, irgend etwas sich selbst zum Trost festzuhalten. Ihre rastlose Natur trieb sie von jeher immer von einem zum andern und erlaubt ihr jetzt sogar kaum, länger als einige Monate an dem nämlichen Orte zu verweilen. Daß sie in manchen Stunden die Unzulänglichkeit eines so zerstückelten Strebens tief empfindet, vermehrt noch ihr Unglück auf jede Weise, denn dieses an sich peinigende Gefühl reizt und erbittert sie innerlich mehr und mehr, und treibt sie zu seltsamen, ihrem Zweck ganz entgegenarbeitenden Launen.

Manche ihrer Anbeter, welche ihre wirklich zuweilen unwürdige Mißhandlungen nicht ertragen mögen, ziehen sich allmählich zurück und dadurch wird das Übel immer ärger. Sie muß mit ungewohnter Anstrengung die so Verlorenen durch neue Eroberungen wieder zu ersetzen suchen und sie treibt dies mit einem Eifer, einer Ungeduld, die deutlich beweisen, wie anschaulich ihr jetzt mit einem Male die Flüchtigkeit der Zeit geworden ist. Die arme Frau gerät dabei oft außer Atem und Takt, obgleich nicht jedermann dies gewahr wird.

Daß mein glänzender Hippolit gleich auf ihre Liste kam, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Bei seiner Jugend mußte sie ihn für einen vollkommnen Neuling in der Welt ansehen, und bei dem sichtbaren Eindrucke, den ihr erstes Erscheinen auf ihn machte, hielt sie seine Eroberung für ein leichtes Kinderspiel. Um so größer war ihr Erstaunen, als sie alle ihre kleinen Künste an ihm abgleiten sah. Ich bin überzeugt, daß sie bis diese Stunde noch nicht weiß, wie sie eigentlich mit ihm daran ist, doch eben dieser Zweifel gibt ihm in ihren Augen ein erhöhtes seltenes Interesse.

Ich sehe zuweilen mit wahrem Vergnügen dem kleinen Kriege zwischen beiden zu. Allen den haarfeinen Schlingen, die Aurelia mit unendlicher Klugheit und tiefer Berechnung ihm legt, weiß mein junger Held mit so unbefangenem Gesicht und so gewandt aus dem Wege zu gehen, daß es mir oft schwer wird, meinen innern Triumph darüber zu verbergen. Wenn ich ihn aber wiederum in den Assembleen hinter ihrem Sessel stehen sehe, wie er jede ihrer Bewegungen belauscht, jedes ihrer nicht zu ihm gesprochenen Worte von ihren Lippen wegzuhaschen sucht und dabei immer tiefer in sich selbst sich verliert, so daß zuletzt außer Aurelien nichts mehr für ihn zu existieren scheint, dann werde ich wieder irre, auf Augenblicke wenigstens. Zwar weiß ich, Aureliens Zaubergewalt über Hippoliten liegt nur in einer nie zuvor von mir bemerkten Familienähnlichkeit mit Gabrielen, die sich erst später entwickelt haben muß und über die er imstande ist, stundenlang in Ekstase zu geraten; aber solche Ähnlichkeiten haben doch auch ihre Gefahren, und ich wollte, wir oder Aurelia hätten die Terrasse des Gartens Boboli nie gesehen.

 

Wünschen Sie mir Glück, liebe Frau von Willnangen, ich atme freier! Aurelia hat heute in aller Frühe Florenz verlassen, um die große, lange beabsichtigte Reise durch Sizilien nach Griechenland endlich anzutreten, und es scheint mir, als ob Hippolit das trügerische Schattenbild Gabrielens, das in der letzten Zeit ihn wohl öfterer betrübt als erfreut haben mag, zuletzt nicht ungern schwinden sah. Ein kleiner Mißgriff, zu welchem Aurelien ihre Unsicherheit in Hinsicht seiner wohl verleitet haben kann, ist wahrscheinlich die nächste Veranlassung dieses plötzlichen Aufbruches gewesen. Vermutlich ward sie ungeduldig über seine anscheinende Blödigkeit, die ihn, wie sie meinte, verhinderte, eine Bitte auszusprechen, welche sie ihm oft genug so nahe legte, daß ich kaum begreife, wie er ihr ausweichen konnte, nämlich die, sie auf der Reise nach Griechenland begleiten zu dürfen. Ihre Ungeduld brachte sie dahin ihm anzubieten, was sie freilich lieber seinen dringenden Bitten zögernd gewährt hätte, und nun stellen Sie sich das bittere Erstaunen vor, mit dem sie den für so furchtsam gehaltenen Jüngling das Anerbieten von sich weisen sah, und zwar auf die feinste aber auch bestimmteste Weise! Ich gestehe Ihnen, ich selbst muß dieses feste Entsagen bewundern, denn sowohl die Reise als die Reisegesellschaft können schwerlich reizender erdacht werden.

Daß Aurelia nach der ersten bitteren Sekunde, die sie benutzte, um sich von ihrem Erstaunen zu erholen, genug Fassung behielt, um aus dem ganzen Anerbieten einen gar nichts sagen wollenden Scherz zu machen, war ihr wohl zuzutrauen, doch scheint sie den Verdruß über Hippolits Benehmen recht tief empfunden zu haben. Dies schließe ich unter andern auch aus der Eile, mit der plötzlich alle so lange vernachlässigten Reiseanstalten betrieben wurden, und aus ihren wiederholten Versicherungen, daß sie die englische Familie, mit der sie schon längst diese Reise verabredet hatte, unmöglich länger auf sich warten lassen könne. In der Tat hatte sie diese, unter allerlei nichtigen Vorwänden, von einer Woche zur andern hingehalten, und ich mußte schon längst die Geduld der guten Leute im stillen bewundern.

Genug, die Wagen wurden gepackt und sie ist fort! So fahre sie denn hin! Recht glücklich – aber – wenn es sein kann, auch recht weit und auf recht lange von uns und auch von meinem Ottokar, auf dessen Frieden ihre Gegenwart doch störender wirkt, als er es sich selbst vielleicht gestehen mag.

Ist es aber nicht entsetzlich, daß dieses durch so viele seltene herrliche Gaben ausgezeichnete Wesen weder glücklich ist noch glücklich macht? Wie weit steht Aurelia in dieser Hinsicht hinter ihrer Mutter, der Gräfin Rosenberg, zurück! So weit, als diese wohl von jeher, selbst in ihren blühendsten Zeiten, in jeder andern Hinsicht hinter dem zurückgestanden sein mag, was Aurelia ist und war. Und doch ist die Mutter, selbst jetzt noch, schwerlich weniger gefallsüchtig und eitel als die Tochter, nur äußert sich diese ihre Gefallsucht auf andere Weise. Die Gräfin wollte von jeher nicht sowohl bewundert als gesucht sein, nicht sowohl blendend erscheinen als liebenswert, und dies gibt ihr bei allen ihren übrigen Schwächen einen Anstrich von Gutmütigkeit, welche jedem wohltut, der ihr nahen darf. Aurelien hingegen beten selbst ihre alleruntertänigsten Sklaven nur mit Furcht und Zittern an. Sie reizt, sie entzückt, aber wohl ist noch keinem bei ihr geworden. Sie fahre hin.

 

Wunderbar! Dieses Zusammentreffen mit der gefährlichen Dame, das mir so viel Sorge ohne Not machte, hat meinen Hippolit mir nur noch inniger verbunden, statt mir ihn zu entfremden. Ich glaubte, je länger ich darüber dachte, seine Verweigerung, Aureliens Einladung zu folgen, zum Teil auf meine eigene Rechnung setzen zu dürfen, denn ich war nicht ausdrücklich darin mit einbegriffen gewesen. Ich wollte ihm darüber etwas Freundliches sagen, und da gesteht er mir mit der liebenswürdigsten Offenheit, daß ich gar keinen Anteil an dieser seiner Entsagung habe, daß ich sie ihm überhaupt viel zu hoch anrechne, weil durch eine frühere Reise mit einer französischen Dame ihm jede ähnliche auf Lebenszeit verleidet sei. Mein Erstaunen über diese unerwartete Entdeckung brachte die Geschichte seines frühern Lebens zur Sprache. Guter Gott! In welches Labyrinth von Gefahren und Verirrungen haben Unbedacht, Eitelkeit, jugendlicher Übermut den zu früh sich selbst Überlassenen geführt! Welch ein Glück, daß die Folgen einer frühern streng tugendhaften Erziehung seine, im Grunde doch sehr edle, reine Natur, mitten in all der Verworrenheit bei Kräften erhielt, daß es nur einer hülfreichen Hand von außen bedurfte, um ihn aus dem Sumpfe von Torheit zu erretten, an dessen Rande er in jugendlicher Unvorsichtigkeit und kindischem Mutwillen herumgaukelte.«

 

Daß Gabriele dieser rettende Engel gewesen sei, brauchte Hippolit seinem weltklugen Freunde nicht zu vertrauen, um ihn davon zu überzeugen. Auch schwiegen beide über diesen Punkt, aber es entstand zwischen ihnen jenes zarte wortlose Verstehen, das einem wunden Gemüte so wohl tut. Ernesto machte es sich von nun an zur heiligsten Pflicht, durch ernste Vorstellungen und anhaltendes Beschäftigen mit einem großen Gegenstande den ihm mit jedem Tage werter gewordenen Jüngling dem mutlosen Schmerz, der trübsinnigen Verworrenheit zu entreißen, in die er nur zu oft noch versank. Der klassische Boden, den sie jetzt langsam durchzogen, bot ihnen Anlaß und Stoff zu geisterhebender Betrachtung einer kolossalen Vorwelt, und Ernesto benutzte alles, um seinen Liebling auf das gründlichste und vielseitigste auszubilden. Es währte nicht lange, so entdeckte er in ihm einen jener Seltenen, von der Natur Hochbegünstigten, denen das Schwere leicht wird, denen das unerreichbar Scheinende von selbst zufällt und die ohne Anstrengung, ja beinahe ohne Fleiß, alles Wissenswerte nicht sowohl erlernen als es sich aneignen mit Kraft und Geist. Dabei bemerkte er abermals mit großem Wohlgefallen, wie ihm Hippolits erste fast gelehrte Erziehung kräftig vorgearbeitet habe. Bei jedem Anlaß dazu entwickelte dieser Kenntnisse, von deren Besitz er kurz vorher kaum selbst eine Ahnung gehabt haben mochte, weil sie in ihm geschlummert und nun, durch den Zufall geweckt, wie neu gewonnen ihm erschienen. So knüpfte jede miteinander verlebte Stunde beide fester aneinander, und Ernestos Blick ruhte oft mit wahrhaft väterlichem Stolz auf dem geliebten Zögling, der ihn dafür, wie ein liebender Sohn, treu und innig verehrte.

 

Moritz zog indessen von einem Bade in das andere, um seine neuerfundene Theorie des Spieles zu vervollkommnen, jedoch ohne dabei auf Gabrielens Begleitung Ansprüche zu machen; eine Schonung, die sie ihm um so herzlicher verdankte, da sie dadurch zu der lange gewünschten Reise zu ihren Freundinnen in Lichtenfels Zeit gewann. Der kleine Kreis, in dessen Mitte sie einst so schöne Tage verlebte, fand sich dort wieder ungetrennt beisammen, denn der General hatte Adelberten mit dem Anfange des Frühlings den Seinigen wiedergegeben.

Alle empfingen Gabrielen, wie man ein lang vermißtes Glück empfängt, und das Leben ging im Äußern wieder den lieben gewohnten Gang; doch im Innern war es anders geworden.

Adelbert und Auguste wandelten so still, mit so ängstlicher Schonung nebeneinander her, als wären sie von Todkranken umgeben. Die Liebe war geblieben, aber das Vertrauen war entflohen, und eben weil es entflohen war, strebten sie sich zutraulicher als je zuvor gegeneinander zu bezeigen, um nur keinem geliebten Herzen wehe zu tun. Nur der von allen gleichverehrte Greis, der General Lichtenfels, trat mit gewohnter Sicherheit, fröhlich und nichts ahnend, unter ihnen auf. Weil keine Klage laut ward, weil aller Blicke ihm lächelten, glaubte er jede Wunde geheilt. Und wenn er auch zuweilen das ehemalige rege Leben unter ihnen vermißte, so schob er dieses auf die zu große Einförmigkeit, in der sie so lange Zeit hingebracht hatten. Gastfrei, wie in glücklichern Tagen, suchte er diesem bald abzuhelfen; er öffnete von neuem sein Haus; Freunde und Bekannte strömten wieder herbei und aufs neue wurde das frühere gesellige Treiben in Gang gebracht, das einst Augusten und Adelberten zusammenführte. Alles zeigte sich ihm heiter und fröhlich wie damals, und so glaubte er gern an ein Glück, das er so innig wünschte und so angelegentlich herbeizuführen sich bemühte.

In stiller Wehmut betrachtete indessen Gabriele das zerstörte Lebensglück ihrer Freunde; obgleich man ihre Ehe nicht eigentlich unglücklich nennen konnte. Nie ward ein Zwiespalt zwischen ihnen laut, vielmehr suchte jedes von ihnen dem unausgesprochenen Wunsche des andern mit geschäftiger Emsigkeit zuvorzukommen. Mit ängstlicher Sorgfalt vermied Auguste jedes Wort, jede Miene, die in ihrem Gemahl den leisesten Argwohn erregen konnten, als gedenke sie noch jener Verirrung, die er so schmerzlich bereute und so streng zu büßen im Begriff gewesen. Adelbert war seinerseits ebenfalls lauter Liebe und Aufmerksamkeit und beide erschienen in der Gesellschaft als Muster des schönsten ehelichen Verhältnisses. Nur das scharfblickende Auge inniger Freundschaft konnte hier ahnen, daß jenes sonst sie beseligende Empfinden gegenseitigen Glücks, jenes Leben des einen in dem andern, den laut Gepriesenen auf ewig entschwunden sei. Sie liebten sich noch, aber wie Verstoßene aus dem Paradiese einer Unschuldswelt sich lieben können. Das stille, ruhige, vertrauensvolle Gefühl war zu einer Art Leidenschaft umgewandelt, die in Momenten des glühendsten Aufwallens oft in der Tiefe ihres Gemütes einem verbissenen Hassen glich. Trotz aller Anstrengung konnte Adelbert nie vergessen, daß Auguste ihm vergeben habe, so wie sie stets daran denken mußte, daß sie ihm etwas zu vergeben gehabt. Beide fühlten den Zwang, auf etwas achten zu müssen, was ihnen sonst nie in den Sinn gekommen war, auf ihr Benehmen gegeneinander. Und so geschah es denn oft, daß sie mit ausbrechender Wehmut sich voneinander abwandten, wenn der Zufall sie ohne Zeugen einmal zusammenführte und sich dann mit wilder Hast mitten im Strudel der Gesellschaft vor dem eignen Herzen zu retten suchten, welches ihnen ihre ehemalige Seligkeit und ihr jetziges Elend laut zurief.

Frau von Willnangen sah anfangs tief bekümmert dem Verhältnisse ihrer Kinder zu, dessen trübe Seite ihr nicht entgehen konnte. Bald aber bewährte sich von neuem ihr glückliches Talent, stets das Beste zu hoffen; sie gedachte ihrer eignen Ehe an der Seite eines über alles geliebten Gatten, dem sie mit Freuden ihr Leben weihte und dadurch unendlich beglückt war, obgleich er ihre glühende Liebe nicht in eben dem Maß zu erwidern vermochte. Ihre Phantasie spiegelte ihr in dem jetzigen Verhältnisse ihrer Auguste eine trügerische Ähnlichkeit mit dem eignen früheren vor, und so kam sie nach und nach zu der beruhigenden Überzeugung, daß Zeit und Liebe zu den, mit jedem Tage sich anmutiger entwickelnden beiden Kindern, alles bald wieder auf das schönste ordnen und beruhigen werde. Sie versuchte es auch, Gabrielen ihren heitern Glauben an die Zukunft mitzuteilen, und diese ließ ihr gern den beruhigenden Irrtum, dem sie selbst sich hinzugeben nicht vermochte.

Gabriele durchschaute zu klar die tiefe, nie wieder herzustellende Zerrüttung eines einst seltnen Verhältnisses, das, so wie die Dinge jetzt standen, sich höchstens nur noch zu etwas sehr Gewöhnlichem gestalten konnte, zu einer leidlichen Ehe, in der man aus Gewohnheit und um der Kinder willen einander gegenseitig erträgt. Ihr Herz blutete für Augusten, deren gegenwärtiges Los ihr sogar trauriger als das eigene dünkte, weil der zur Armut herabgesunkene Reiche weit beklagenswerter ist als der in Dürftigkeit Geborene. Aber sie hütete sich ebensosehr, das Herz ihrer mütterlichen Freundin durch diese ihre eigene Ansicht zu verwunden, als sie jedes Gespräch mit Augusten sorgfältig vermied, das zu irgendeiner Erklärung über diesen Gegenstand führen konnte. Gabriele wußte aus eigner Erfahrung, daß es Seiten im menschlichen Herzen und Verhältnisse im Leben gibt, welche selbst die zarteste innigste Freundschaft nicht mit einem Hauche zu berühren wagen darf.

 

Den Schmerz um ihre Freunde abgerechnet, erfreute Gabriele sich indessen noch eines Zustandes, der mit den letztvergangenen unruhvollen Jahren sehr angenehm kontrastierte. Augustens Kinder waren die Freude ihres Lebens, mit ihnen und in der stillen Beschäftigung mit sich selbst, welche ihr durch das zerstreute Leben in der Residenz so erschwert worden war, brachte sie die erste Hälfte des Tages in der ruhigen Einsamkeit ihres Zimmers zu. Der Abend wurde ihren Freunden geschenkt, besonders der Erheiterung des freundlichen Oheims, den sie, seit sie ihn näher kennengelernt hatte, gleich einer liebenden Tochter verehrte. Die Verlängerung von Moritzens Reise, die sich auf unbestimmte Zeit über den Winter hinaus ausdehnte, erlaubte ihr, den Bitten ihrer Freunde nachzugeben und bis zu seiner Rückkehr bei ihnen zu verweilen. Sie tat dieses um so lieber, da sie wohl einsah, wie erfreulich ihre Gegenwart den armen Verstörten, wenigstens momentan, den Schein vergangener Glückseligkeit zurückgab.

Hippolits tagebuchähnliche Briefe waren ihr jedesmal wie ein lieber Besuch, dem sie immer zur bestimmten Zeit mit froher Erwartung entgegen sah; und auch wenn er nicht schrieb, gedachte sie seiner mit einer eignen Rührung. Nie konnte ihr dankbares Gemüt des hochherzigen Jünglings zarte Aufopferung vergessen, mit der er ertragen hatte, was seiner kühnen Natur das Unerträglichste sein mußte, um nur sie nicht in ihrer Freundin zu betrüben. Für die wilde Leidenschaftlichkeit, der er sich bis zur höchsten Verblendung überlassen hatte, fand ihre nachsichtsvolle, alles gern ausgleichende Natur von jeher tausend Entschuldigungen und seine jetzigen Briefe bekräftigten diese. Aus jedem derselben leuchtete die höhere Entwickelung seines Geistes unter Ernestos Leitung hervor. Sie sah aus ihnen, wie der bis jetzt nur in seinen Gefühlen lebende Jüngling heranreifte zum festen, edlen Manne, der mit hellem Blicke die Welt anschaut und aufhört, sich und sein Herz für den Mittelpunkt derselben zu halten. Ihr selbst unbemerkt, regte sich dabei oft der Wunsch baldigen ruhigen Wiedersehens in ihrem Gemüt und ward allmählich zur süßen Sehnsucht, die ihrem Leben neuen Wert gab. Das Gefühl, dessen Bekenntnis Hippolits Entfernung veranlaßt hatte, schimmerte zwar noch fortwährend aus seinen Äußerungen hervor, aber es glich einem goldnen Faden, der das ganze Gewebe seiner jetzigen Existenz zusammenhielt, und es schien, als sähe er es doch als seiner und ihrer unwürdig an, ihr länger nur von sich und seinen Empfindungen zu schreiben. Dabei waren seine Bemerkungen über Natur und Kunst, über Welt und Leben von einer Tiefe und Originalität, über die sie oft in freudiges Erstaunen geriet.

Ernestos Briefe bestärkten von Zeit zu Zeit ihr frohes Hoffen von der Zukunft ihres jungen Freundes. »Sie sind noch immer die hohe Dame seiner Gedanken, an der er mit der tiefsten Verehrung eines echten Chevaliers der Tafelrunde hängt«, schrieb er ihr einst »Leugnen Sie mir nicht ab, obgleich ich auch nicht fordere, daß Sie es mir gestehen sollen, daß ich Ihnen hiermit nichts Neues verkünde. Machen Sie es wie er, geben Sie es mir schweigend zu. Weiß ich doch auch nicht, ob er jemals mehr als ein solches schweigendes Geständnis gegen Sie gewagt haben mag; obgleich ich es aus dem Stottern, das ihn allemal befällt, wenn ich der nächsten Veranlassung seiner Reise nach Italien nachforschen will, ebensowohl schließen könnte als aus einer gewissen reuigen Wehmut, die ihn leicht bis zu Tränen bewegt, wenn er der letzten Tage gedenkt, die er in Schloß Aarheim verlebte. Dem sei, wie ihm wolle, ich danke den Göttern, für ihn und mich, daß wir einander fanden. Was ich für ihn tue, ist alles und nichts; das hohe Gelingen lohnt mir tausendfältig. Schön und traurig, wie ein Antinous, stand er vor mir bei unserm ersten Zusammentreffen und erregte schon durch seine äußere Erscheinung das lebhafteste Interesse; aber sein Festhalten an mir, da er in mir Gabrielens Freund erkannte, sein Ergeben in meinen Rat, in meine Leitung, gewannen bald bei dieser seiner rüstigen Jugendkraft etwas so unaussprechlich Rührendes, daß ich mich seiner hätte annehmen müssen und hätte es mich auch das höchste Opfer gekostet. Und so entstand denn eine Verbindung, die mir jetzt gegen das Ende meiner irdischen Laufbahn die höchste Freude gewährt. Denn was kann belohnender sein als der Anblick einer edlen kräftigen Natur, die aus geistiger und irdischer Verirrung mancherlei Art sich tapfer loswindet, und dabei das selige Bewußtsein, ihr hülfreich und schützend zur Seite zu stehen. Sie, Gabriele! mögen immer das schöne Gefühl mit mir teilen; Sie haben mir kräftig vorgearbeitet, so kräftig, daß ich oft Sie zu sehen und zu hören glaube, wenn er recht aus dem Herzen spricht oder handelt. Und so ist es billig, daß auch Sie sich Ihres Werks erfreuen mögen.«

 

Still und ruhig hatte Ottokar indessen seit mehreren Jahren in Rom gelebt, in selbsterwählter Zurückgezogenheit von öffentlichen Geschäften und Ehrenbezeugungen, nur mit sich, seinem Knaben, der Natur, der Kunst und wenigen auserwählten Freunden. Tausend sehr ernste Erfahrungen hatten ihn endlich überzeugt, daß nur in der Kunst, entsagen zu können, der echte Stein der Weisen verborgen liegt. An Aureliens marmorglatter und kalter Natur waren alle seine Versuche fruchtlos abgeglitten, sie sich und dem echten Genusse des Lebens zu gewinnen. So hatte er sie denn endlich aufgegeben und begnügte sich damit, seine Gemahlin nach der von ihr selbst gewählten Weise das Glück suchen zu lassen, indem er ihr Geld und Freiheit gab, soviel sie bedurfte oder verlangte. Ersteres machte sein großes Vermögen und eigene Genügsamkeit ihm möglich, und daß Aurelia ihre unumschränkte Freiheit nicht auf eine seine Ehre verletzende Weise mißbrauchen könne, dafür bürgte ihm ihr Stolz auf die einzige Frauentugend, die sie eigentlich anerkannte und zu deren strenger Richterin sie sich überall aufwarf. Der kleine Herrmann, Ottokars sehr anmutig heranwachsender Knabe, gewährte ihm wenigstens einen Teil des häuslichen Glücks, nach dem er sich stets gesehnt und das er leider an Aureliens Seite nie hatte finden können. In der Freude über ihn vergaß er gern alles, was die Welt sonst noch ihm versagt hatte. Er näherte sich jetzt dem Alter, in welchem die Stürme in der Brust, denen er früher mit Mut und Kraft entgegen kämpfen mußte, allmählich von selbst sich beschwichtigen. Seine Jugend lag hinter ihm wie ein halb schöner, halb ängstlicher Traum, aus dem Gabrielens kurze Erscheinung gleich einem hellen Sterne hervorleuchtete. Er gedachte ihrer, wie einer himmlischen Gestalt, die auf irdischem Pfade ihm einst segnend vorüberschwebte und von höhern Sphären Kunde und Gewißheit verlieh.

Von ihrem ferneren Leben auf Erden seit jener Stunde, in der er sie gefunden um sie zu verlieren, wußte er nur wenig. Ernesto hatte immer vermieden, ihm genaueren Bericht davon zu geben; er wollte gern dem ohnehin auf mancherlei Weise Verletzten unnütze Schmerzen ersparen und konnte es schweigend nur, da er ihm so wenig Erfreuliches zu melden hatte. Ottokar wußte nur, daß Gabriele vermählt sei, daß sie mit diesem Schritte ihrem Vater und ihrer Pflicht ein schweres Opfer freudig und willig gebracht. Dies war ja einst sein eignes Los auch gewesen, und nach der ihn dafür beseligenden Ruhe seines eignen Bewußtseins mußte er auch sie für beglückt halten. Freilich vergaß er dabei der Verschiedenheit des Verhältnisses, welches den Frauen das als eine sehr schwere drückende Last aufbürdet, was das freie glücklichere Los der Männer diesen auf tausendfache Weise erleichtert.

So fand ihn Ernesto, als er gegen Weihnachten mit seinem jungen Freunde in Rom anlangte. Denn die Reise nach Sizilien war aus mehreren bewegenden Gründen einstweilen aufgegeben. Bis jetzt hatte Ernesto sich von innerem Bangen immer abhalten lassen, Hippoliten mit Ottokar bekannt zu machen. Von diesem Gefühle geleitet, hatte er sogar die Reise nach Rom so weit hinausgeschoben und Ottokars nur immer in sehr allgemeinen Redensarten gedacht. Eigentlich fürchtete er, daß Gabrielens Name, zur Unzeit genannt, bei beiden Gefühle und Erinnerungen aufregen, ja vielleicht Szenen herbeiführen könne, die wenigstens ihrer mühsam errungenen Ruhe neue Gefahr brächten. Doch jetzt mußte er sich endlich entschließen, den Schritt zu wagen, den er schicklicherweise nicht länger zu vermeiden wußte. Er führte beide einander zu und hoffte dabei, weil er es wünschte, daß jeder von ihnen das heiligste Geheimnis seiner Brust wohl zu bewahren wissen werde.

Hippolit fühlte sich gleich in den ersten Minuten ihres Beisammenseins von Ottokars Erscheinung mächtig ergriffen. Kein sterbliches Wesen, selbst Gabriele nicht, hatte sein Herz mit so unaussprechlicher Ergebung, mit so ganz rücksichtsloser reiner Neigung beim ersten Anblick erfüllt als der schöne, ernste und dabei so unsäglich milde Mann, aus dessen hell leuchtendem Auge jugendliche Kraft und Wärme sprach, während er ausgerüstet mit aller Würde und allen Vorzügen des reifern Alters vor ihm stand.

Auch Ottokar ward von Hippolits liebenswürdigem und bescheidnem Wesen angezogen, dieser kam ihm wie ein jüngerer Bruder vor, zu dessen vollendeter Bildung mitzuwirken er mit der lebendigsten Teilnahme sich verpflichtet fühlte. Und so erbot er sich, mit Ernesto sein steter Begleiter zu allen jenen Wundern der Vorwelt zu werden, welche keine feindliche Macht dem heiligen Boden entführen konnte, der eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch sie treu aufbewahrte und aufbewahren wird. Innigst erfreut über Hippolits reges und richtiges Gefühl, schwelgte er an seiner Seite im frohen Nachempfinden jener Tage, in denen er selbst zuerst dies klassische Land betrat. Dafür teilte Hippolit Ottokars Freude an dem kleinen Herrmann, der sich sehr schnell gewöhnte, ihn als seinen liebsten Spielgefährten zu betrachten. So ordnete sich bald ein für alle sehr genußreiches Zusammenleben; nur Ottokars Nähe schien Hippoliten noch gefehlt zu haben, um ihn ganz auf die Stufe der Bildung zu heben, für welche seine Natur ihn bestimmte; bei ihm fand er im glücklichsten Verein den würdevollen Ernst des vollendeten Mannes mit fast weiblich weichem Zartgefühl auf das innigste verbunden; und während Ernesto Hippolits Geist, dessen Verstand und Wissen mit alle dem Reichtum ausstattete, den er selbst in so hohem Grade besaß, wirkte Ottokar nicht minder wohltätig auf sein Gemüt. Er verhalf ihm zu jener Klarheit in seinem Empfinden, welche er selbst mühsam errungen hatte und weihte ihn dadurch zu jedem Opfer, jeder Entsagung, welche das Leben im Laufe einer wahrscheinlich sehr langen Zukunft von ihm ferner noch heischen mochte.

So waren mehrere Wochen vergangen, während welchen sich Hippolit immer fester an Ottokar anschloß, als dieser zufällig von einer leichten Unpäßlichkeit gezwungen ward, einige Tage zu Hause zu bleiben. Hippolit eilte auf die erste Nachricht davon herbei und fand ihn allein, in einem abgelegenen Kabinett, zu welchem sonst jedermann der Zutritt versagt ward und das auch selbst er noch nie vorher betrat.

Eine einzige Zeichnung über dem Schreibtisch schmückte die mit grüner Seide ganz einfach bekleideten Wände des kleinen traulichen Gemachs, sie mußte dem Eintretenden gleich in die Augen fallen, und erstarrt, bleich wie ein Sterbender, blieb Hippolit wie eingewurzelt vor Gabrielens Abbildung ihrer väterlichen Burg stehen; dem einzigen Angedenken von ihr, das Ottokar vor jedem fremden Blick hier wie ein Heiligtum aufbewahrte.

Ottokar fuhr, über den Zustand seines Freundes erschrocken, vom Divan auf, auf welchem er lag. Er mußte ihn von einem plötzlichen Übel befallen glauben und wollte ihm zu Hülfe eilen, als dieser in aller früheren, mühsam bekämpften Heftigkeit seines Wesens in seine Arme sich warf und ihn fest umklammerte.

»Ja, du bist es«, rief er, und das Weh eines ganzen Lebens lag in dem schmerzlichen Ton dieser Worte, »du bist es! Wer anders konnte es sein als du? Wie war es möglich, daß ich dich nicht gleich erkannte! Nun ist mir alles klar, ja nur dich, nur dich konnte Gabriele lieben und nur du konntest ihr entsagen. O ich Verblendeter! Daß ich erst jetzt dieses weiß!«

Auch Ottokar erstarrte, als er diesen Namen von diesen Lippen so nennen hörte. »Gabriele!« rief er, »kennst du Gabrielen? Kennst du dies Schloß?«

»Ob ich es kenne? Ob ich Gabrielen, ob ich Schloß Aarheim kenne?« antwortete Hippolit; seine Augen blitzten und alles Blut aus seinem Herzen färbte die erblichenen Wangen in Purpurglut. Er sprang auf und riß sein Taschenbuch hervor, in welchem er eine kleine Kopie von Ernestos Virginia aufbewahrte, die er auf Schloß Aarheim heimlich zu zeichnen Gelegenheit gefunden hatte. »Sieh her«, rief er, »blick her, und du, du bist ja Icilius, unverkennbar; mein Gott! wie gehen mir jetzt erst die Augen auf!«

Ottokar betrachtete das Blatt; auch er erbleichte, tieferschüttert, und kaum vermochte die zitternde Hand es festzuhalten; denn eine Ahnung des ganzen Umfanges von Gabrielens traurigem Geschick ging ihm zum ersten Mal aus diesen Zügen auf. Mit einer Art Beschämung fühlte er plötzlich, wie vergleichungsweise glücklich er diese Reihe von Jahren verlebt hatte, während sie den bittersten Kampf mit dem Leben bestand. Schweigend standen beide einige Minuten einander gegenüber, doch dem geprüften festeren Manne gelang es eher Fassung zu erringen als dem wild bewegten, sturmvollen Herzen des Jünglings. Ottokar nahm ihn an seine Brust wie ein Vater sein liebes verwundetes Kind, er zog ihn zu sich, er sprach ihm liebkosend zu, mit seiner sanften beruhigenden Stimme. Hippolit erkannte die Töne, die einst auch in Gabrielens Herzen widerhallten, er konnte ihrem Zauber nicht widerstehen, sie beschwichtigten allmählich das Toben in seinem Innern, und nun begann zwischen beiden edlen Menschen eine Szene des innigsten Vertrauens. Ihre Seelen, alle ihre Gedanken ergossen sich ineinander; was nie über ihre Lippen gekommen war, gestanden sie sich hier, offen, wahr, ohne Rückhalt, alles tief im Herzen Verborgene kam zur Sprache und diese Stunde, die bei minder Vorzüglichen vielleicht eine ewige Trennung bewirkt hätte, verband sie einander für Zeit und Ewigkeit.

Den ganzen Tag hindurch ließ Ottokar den jetzt ganz Gewonnenen nicht von seiner Seite. Ernesto kam hinzu, es war unmöglich ihm, was vorgegangen, zu verhehlen, und er sah mit freudiger Rührung neues, ihm unerwartetes Heil aus einer Entdeckung entstehen, die er nur deshalb so ängstlich abzuwenden gesucht hatte, weil die Erfahrung eines langen Lebens unter den Menschen ihn um den Glauben an die hohe Reinheit des Gemüts gebracht hatte, die ihm doch hier, fast am Ende seiner Laufbahn, aus der Brust seiner Lieblinge so hell entgegen strahlte.

 

Ottokar nachzustreben, in allem nur Erreichbaren, war von nun an Hippolits felsenfester Entschluß.

»Sie hat ihn geliebt und er konnte ihr entsagen«, sprach er in einer ernsten Stunde des reinsten Vertrauens zu Ernesto. »Auch ich entsage, ich der Ungeliebte, der hoffnungsloser als je, doch ewig ihr Bild im Herzen tragen muß. Ich kann sie nie gewinnen, nun so sei all mein Streben, ihrer wert zu werden, wie Ottokar es ist. Kein Laut, kein Blick verrate von nun an meinen stillen Schmerz, auch Sie, Ernesto, ich flehe darum, auch Sie ehren ihn durch Schweigen.«

Andere Pläne, andere Hoffnungen reiften indessen in Ottokars edler Brust. Erst jetzt, durch die Zeichnung Ernestos zur Sprache gebracht, hatte er von diesem treuen Freunde vernommen, welche lange Reihe von Entsagungen und Opfern jeden Tag in Gabrielens Leben bis zu dieser Stunde bezeichnete. Seine reuige Wehmut, wenn er den Abstand zwischen seinem und ihrem Geschick betrachtete, steigerte sich zu einer ängstlich drückenden Höhe, ihm war, als habe auch er ihr Unglück mit verschuldet und müsse jetzt nur suchen, sie zu erretten. In aller unerträglichen Lächerlichkeit und Widerwärtigkeit sah er Moritz neben Gabrielen, unablässig wie ein Schreckbild stand dieser vor seiner Phantasie. Er vermochte es nicht, sich von ihm abzuwenden; im Gegenteil ward er nicht müde, Ernesto über seine Persönlichkeit auszufragen, als hoffe er, dennoch endlich etwas zu vernehmen, das ihm Trost zu geben vermöchte. Und zuletzt blitzte wirklich während eines solchen Gesprächs wenigstens ein Hoffnung verheißender Strahl in ihm auf.

»Nein«, sprach er endlich, sich selbst zum Troste, »die Natur wird nicht ungerecht sein, sie wird nicht die Lebenszeit des kränklichen Greises bis an die äußerste Grenze des menschlichen Lebens hinaus rücken, um die Qual jenes himmlischen Wesens zu verlängern. Gabriele wird frei, vielleicht bald, und wer wäre dann des Glückes würdiger, die trübe Erfahrung ihres Lebens auszugleichen, jede qualvolle Erinnerung zu verlöschen, als dieser seltne Hippolit, mit seiner unendlichen Liebe!« An sich selbst dachte Ottokar nicht dabei, von jeher glich sein Gefühl für Gabrielen mehr der anbetenden Bewunderung als irdischer Liebe. Jugendlich schön, fast noch in holder Kindlichkeit, wie sie in jener einzigen unvergeßlichen Stunde ihm erschienen war, um schnell wieder zu verschwinden, schwebte ihr Bild noch immer unverändert vor seinem inneren Sinn; es konnte ihm nicht einfallen, sich selbst noch würdig zu halten, ihr alle ihre Leiden zu lohnen, sogar wenn ein unerwartetes Geschick die Bande zerreißen sollte, die ihn an Aurelien fesselten und die er selbst längst entschlossen war, nie eigenmächtig zu lösen. Die bedeutende Reihe von Jahren, die er vor Gabrielen vorauszählte, hatte ihn jener Zeit zugeführt, wo jedes jugendlich-wild-aufbrausende Gefühl in milderes Empfinden übergegangen ist. Gabrielen noch dereinst glücklich zu wissen, mit dem Bewußtsein, selbst zu ihrem Glücke beigetragen zu haben, ward ihm jetzt zum vorherrschenden Wunsch, der immer und überall ihn verfolgte. Hippolits unveränderte mit jedem Tage steigende Liebe zu ihm, die ganze Liebenswürdigkeit seiner Natur, zogen ihn immer mehr an, er gewöhnte sich, ihn nur mit Hinsicht auf Gabrielen zu betrachten. Bald kam er dahin, sich beide schon jetzt als eins zu denken, und so machte er es sich zum angelegentlichsten Geschäft, ihm überall zur Seite zu stehen. Gabrielens Name ward nach jenen ersten Stunden heiligen Vertrauens nie wieder unter ihnen genannt, doch beide lasen ihn oft, eins in des andern Blicken. Auch Ernesto schwieg und, beruhigt durch Hippolits Herrschaft über sich selbst, gab er sich heiterer wie zuvor, der Freude an den Fortschritten seines Zöglings in allem Edlen, Guten und Schönen hin, ohne weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft ängstlich zu grübeln.

 

An der Seite seiner edlen Freunde, angeregt und ermutigt durch Ottokars Nähe und Ernestos klaren welterfahrnen Sinn, gelangte Hippolit zu einer immer sicherer werdenden Gewalt über sich selbst. Das Jahr neigte sich zu Ende und er fühlte jetzt im gerechten Vertrauen auf sich, daß er es wagen dürfe, Gabrielen um die Erlaubnis zur Rückkehr zu bitten. Sie hatte sie ihm beim Scheiden unter Bedingungen versprochen, deren Erfüllung ihm zwar noch schwer, aber doch nicht mehr unmöglich dünkte.

So schmerzlich auch Ottokar die Trennung fühlen mochte, bestärkte dieser ihn doch durch seine Zustimmung in diesem Entschluß, und so wagte es Hippolit denn endlich, ihn gegen Gabrielen auszusprechen.

»Fürchten Sie keinen neuen Ausbruch jener vernichtenden Leidenschaftlichkeit mehr von mir, deren ich jetzt nur noch mit einem sehr beschämenden Gefühl gedenken mag«, schrieb er ihr. »Sie werden Ihren wilden Edelknaben in nichts wiedererkennen als in der treusten Anhänglichkeit und unbedingten Ergebung in Ihren Willen. Mögen Sie ihn zum zweiten Mal und auf immer verbannen, wenn je ein Wort, ein Blick, ein Atemzug jene trüben Tage Ihnen zurückruft, in denen er mit umdüstertem befangnen Sinn alles vergaß, was er Gott, sich selbst und Ihnen schuldig ist. Gabriele! Sein Sie wieder mild und gütig, wie Sie es immer waren; Sie können es ohne Sorge, ich will ja nichts als in Ihrer Nähe sein, Sie sehen, Sie hören. Sie selbst sollen bestimmen, wie oft, wie lange? Und wenn Sie mir nur eine Stunde, ja nur wenige Minuten des Tages vergönnen, ich will nicht murren gegen Ihr Gebot, das ich dankbar verehre.«

 

Wenige Wochen nach dem Empfange dieses Briefes stand Hippolit selbst vor Gabrielen.

Er fand sie allein in ihrem stillen Zimmer in der Residenz, wohin sie von Lichtenfels zur Pflege ihres Gemahls zurückkehren mußte, der vor einigen Monaten sehr krank von seinen ermüdenden Streifereien zu Hause angelangt war. Hippolit wankte zwar, als er Gabrielen zuerst wieder erblickte, doch half ihm die Bewegung, in die sie selbst in diesem Momente geriet, dies zu verbergen. Ihr Auge strahlte mit ungewohntem Feuer, ein blühenderes Rot färbte ihre Wangen, ihre Gestalt schien noch ätherischer als sonst, die Zeit hatte ihrer Schönheit höheren Glanz verliehen und mit der ersten Blüte früher Jugend ihr keinen Reiz geraubt. So erhob sie sich bei seinem Eintritte von ihrem Sessel und suchte vergebens nach freundlichen Worten, ihn damit zu begrüßen. Er wagte es nicht, die Hand zu berühren, die sie wie unwillkürlich ihm halb entgegenreichte, aber sein Herz sprach laut aus seinem gesenkten Blicke, aus der edlen und doch so demütigen Stellung, in der er vor ihr, wie vor einem Götterbilde, sich ehrerbietig neigte. Der Edelknabe war zum Manne geworden, zum männlichschönsten, den ihr Auge je erblickte, aus dessen edlen, rein harmonischen Zügen jede Spur jenes wilden Feuers verschwunden war, von dem sie sonst so oft erschreckt worden. So hatte Ottokar ihren Jugendträumen vorgeschwebt, jetzt erblickte sie das Traumbild ins Leben gerufen, aber veredelt, verklärt, wie sie selbst in ihren phantasiereichsten Stunden es nie sich gedacht hatte.

Beide schwiegen in den ersten Momenten; Hippolit fand zuerst den Mut, dies Schweigen zu brechen. Er brachte Briefe, Zeichnungen, Kameen, Pasten, kleine Mosaiken, die Ernesto ihm für Gabrielen mitgegeben hatte und kramte alle die glänzenden Gaben in liebenswürdiger Geschäftigkeit vor ihr auf dem Tische aus.

Von ihnen wendete sich das Gespräch auf sein Leben und seine Reisen in Italien. Er sprach viel von Ernesto, endlich wagte er es, sogar Ottokars Namen zu nennen und Gabrielen manches Angenehme von dessen jetzigem Leben mitzuteilen. Er tat es mit etwas unsicherer Stimme und gesenktem Blick, ohne jedoch Ottokars in irgendeiner genauern Beziehung zu Gabrielen zu erwähnen. Er sprach von ihm nur als von einem ihm sehr teuern Freunde, dem er unendlich viel verdanke. Es war das letzte schwerste Erproben seiner Standhaftigkeit, das er sich selbst auferlegt. Er hatte darin bestanden, aber jetzt vermochte er auch nicht mehr. Er erhob sich, um Abschied zu nehmen, und bat nur noch um die Erlaubnis, zu einer gelegenen Stunde auch Moritzen begrüßen zu dürfen.

Hippolit hatte während seines Besuchs beinah allein gesprochen, denn Gabriele vermochte es kaum über sich, dann und wann einige Worte der Schicklichkeit zuliebe einzuschieben; sie war ganz Auge, ganz Ohr, hingerissen vom lebhaftesten Erstaunen über die unglaubliche Veränderung, die in weniger als zwei Jahren wie durch ein Wunder bewirkt ihr hier entgegenleuchtete.

In tiefem Nachsinnen und doch fast ohne Worte für ihre Gedanken, blieb Gabriele lange wie in sich verloren. War das der Hippolit, welcher einst so keck und vorlaut an dieser nämlichen Stelle auftrat? War das der wilde rohe Jüngling, dessen ungebändigten Sinn sie unlängst mit so ernster Strenge zurechtzuweisen gezwungen war? Ihr Herz regte sich laut in ungestümen Schlägen, ihre Wangen glühten, vor Freude weinte sie über diese glückliche Verwandlung. Eine ihr unerklärliche Unruhe hielt sie mitten in diesem frohen Gefühle befangen, die bei dem Gedanken, ihn am Abend wieder zu sehen, in ihr ein Bangen erregte, wie sie kaum damals es empfunden hatte, als sie, ein Neuling in der Welt, zwischen Fürchten und Hoffen Ottokars Gegenwart im Salon ihrer Tante entgegenging.

Endlich am Abend erschien Hippolit in Moritzens Zimmer. Der mürrische Kranke empfing ihn mit bittern Vorwürfen über seine plötzliche Abreise von Schloß Aarheim, die Hippolit mit vieler Sanftmut ertrug. Bald fühlte sich Moritz wieder von dem gewohnten Zauber hingerissen, den die Gegenwart seines ehemaligen Lieblings stets an ihm übte. Er wurde immer freundlicher, zuletzt war alles Unangenehme soweit vergessen, daß er nur aufs neue mit Bitten in ihn drang, sein Haus wie ehemals als sein eignes zu betrachten. Der ihm nun wieder ganz zugeneigte Alte trug ihm sogar eine Wohnung in demselben an, er drang sie ihm fast auf, und Hippolit bedurfte aller seiner Gewandtheit im Leben, um dies Anerbieten bescheiden von sich abzuweisen. Er tat es, ohne dabei den Blick zu Gabrielen zu erheben, die hocherrötend und schweigend der Verhandlung zuhörte, ohne die mindeste Äußerung über sie zu wagen. Sie schämte sich innerlich ihrer Verlegenheit dabei, denn sie glaubte nun fest überzeugt sein zu können, daß in Hippolits Gemüt keine Spur von jenem Gefühl mehr lebe, das sie einst zwang, ihn zu verbannen, und doch vermochte sie es nicht über sich, diese wunderbare, ihr selbst unerklärliche Befangenheit zu besiegen.

 


 << zurück weiter >>