Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Nach vielen, in ihrem Krankenzimmer still verlebten Wochen wagte es Gabriele endlich, zum ersten Mal ihre Freundinnen an einem warmen Frühlingsmorgen im eignen Wohnzimmer zu überraschen. Freudig erschrocken fuhren beide vom Sofa auf, als sie die schöne Gestalt am Arme Annettens hereinschweben sahen. Frau von Willnangen hätte sie kaum erkannt, so verändert stand Gabriele jetzt, zum ersten Mal außer dem Halbdunkel des Krankenzimmers, im hellsten Strahl der Morgensonne vor ihr da. Das schöne Gesicht mit den blaßroten Wangen sah wunderlieblich aus dem feinen Spitzenhäubchen hervor, unter welchem die lichthellen Locken sich einzeln um die blütenweiße Stirn hervordrängten. Die dunkeln Augen strahlten in erneutem Jugendglanz, und das in den wenigen Wochen merklich zu kurz gewordene blendend weiße Morgenkleid zeigte die allerzierlichsten Füßchen. »Mein Kind, mein liebliches, schönes Kind!« rief Frau von Willnangen, hingerissen von der himmlischen Erscheinung, und drückte unter freudigen Tränen sie an ihre Brust, während Auguste sie zum Sofa hinzog, und beide hernach in der Freude ihres Herzens tausend einander widersprechende Anstalten trafen, um es dem lieben Gast nur recht wohl und bequem zu machen. Endlich saßen sie in traulicher Gemütlichkeit nebeneinander, als plötzlich die Türe aufging, und Gräfin Eugenia mit dem ältesten Fräulein Silberhain unangemeldet hereintraten.

»Nun da sieht man die liebe Kranke doch wieder! Und wie groß geworden! Wie schön! Man möchte bald verleitet werden, sich ein Fieber von solchen Folgen zu wünschen. Sie sehen ja in der Tat aus, als könnten Sie uns die neueste Kunde aus dem Lande der Seligen bringen«, rief Gräfin Eugenia, indem sie die zu ihrem Empfange aufgestandene Gabriele umarmte.

»Auch war meine Gabriele der Himmelstüre nahe genug. Ein Glück für uns, daß sie beizeiten wieder umkehrte, um noch bei uns zu weilen«, erwiderte lächelnd Auguste.

»Achten Sie es wirklich für ein Glück, wenn der Engel zum Fluge in die ewige Heimat schon die Flügel entfaltet hat, und dann, aufs neue gefesselt von irdischen Banden, sie wieder zusammen legen muß?« fragte Fräulein Silberhain; »ach! Wir wissen vielleicht nicht, welch ein Unrecht wir tun«, fuhr sie fort, »wenn wir uns der anscheinenden Genesung unsrer Freunde freuen! Was ist denn längeres Leben anders als längeres Harren?«

»Liebe Silberhain«, fiel Eugenia ein, »Gabriele und wahrscheinlich die mehresten Leute harren doch recht gern solange als möglich, denn in den himmlischen Freudensaal kommen wir alle zeitig genug. Aber einer Reise nach Italien entsagen zu müssen, wenn schon beinahe der Wagen vor der Türe steht, das ist ein Unglück, von dem ich gar nicht begreife, wie man es überlebt, ohne wenigstens vor Verdruß darüber den Verstand zu verlieren. Armes, armes Kind! Warum mußten Sie auch so ganz zur unrechten Zeit von dem bösen Fieber befallen werden! Sie dauern mich ungeheuer, ach! Und hätten Sie nur, wie ich, die Glücklichen abfahren gesehen! Ehegestern ging es fort, gleich am frühen Morgen nach dem Hochzeittage. Das junge Ehepaar fuhr allein, in einem ganz neuen, deliziösen, englischen Wagen; den Platz in der Batarde der Gräfin, der Ihnen bestimmt war, nahm Aureliens Bella ein. Das ist pikant, nicht wahr? Gewiß niemand darf es Ihnen verdenken, wenn Sie ein wenig mit dem Schicksal grollen, es spielt Ihnen wahrlich dies Mal übel mit.«

»Soll ich dich nicht auf dein Zimmer führen?« fragte ängstlich Auguste; aber Gabriele bestand darauf da zu bleiben, versicherte, sich sehr wohl zu befinden, und bat die Gräfin Eugenia um nähere Nachricht von der Tante und Aurelien.

»Von beiden bringe ich Ihnen tausend Abschiedsgrüße«, sprach Eugenia, »ich kam erst gestern abend von Rosenhain wieder nach Hause, denn einem alten gegenseitigen Versprechen zufolge, mußte ich Aurelien als Brautführerin zum Altar geleiten. Es war recht gut, daß ich gleich mitreisen konnte, da Sie zu Hause bleiben mußten, liebe Gabriele! Die Gräfin und Aurelia hätten sich sonst in Rosenhain vielleicht zu oft allein gefühlt, denn Ottokar machte sich sehr selten. Geschäfte und Reiseanstalten hielten ihn fern von uns, sagte man. Überhaupt hat er, meiner Meinung nach, als Bräutigam an Amabilität nicht gewonnen; vielleicht kommt das im Ehestande nach. Solange ich jetzt in Rosenhain mit ihm zusammen lebte, war er wenigstens – maussader als je –, möchte ich sagen, wenn ich mich nicht hier vor den strafenden Blicken der Mamma Willnangen fürchtete, die von jeher diesem ihrem lieben Schoßkinde in allen seinen Arten und Unarten gefälligst nachzusehen gewohnt ist.«

»Schelten Sie den Grafen nicht, weil er nicht leichtsinnig den wichtigsten Schritt seines Lebens vollbrachte«, sprach Fräulein Silberhain. »Ach! Wer müßte nicht in einem solchen Zeitpunkte sich und sein Gemüt in der tiefsten Stille zu heiligen suchen! Lehrt uns nicht die schöne Geschichte vom jungen Tobias« – – –

»Ob Ottokar so fromm ist, wie der junge Tobias oder wie Sie, liebe Silberhain, ihn sich denken, weiß ich nicht«, unterbrach Eugenia das Fräulein. »Aber langweilig genug war er wenigstens. Ich schiebe alles dies einzig auf die Luft, die um jene Zeit im Rosenbergschen Hause höchst perniziös gewesen sein muß. Unsre liebe kleine Gabriele erkrankte ja auch am Verlobungsabend, und Ottokar muß ebenfalls zur nämlichen Stunde von einem besondern Schwindel ergriffen worden sein; denn er plantierte beim Souper nicht nur die Gesellschaft – das hätte noch hingehen mögen, aber auch die zärtliche Braut, die neben einem leeren Stuhl sitzen mußte. Sein Lorenz erschien zwar, wie wir uns schon an der Tafel rangierten, mit einer sehr lahmen Entschuldigung seines Herrn, der plötzlich höchstwichtige Briefe erhalten haben sollte, aber der naseweise Mensch schnitt zu dieser Entschuldigung ein so pfiffig hämisches Gesicht, daß alle merken mußten, woran sie waren; selbst die, welche nicht wie ich daran dachten, daß mittwochs keine einzige Post hier eintrifft.«

Frau von Willnangen verging fast vor Angst um Gabrielen bei diesem Gespräch, vergebens bemühte sie sich, ihm eine andere Wendung zu geben oder doch wenigstens Gabrielen zum Fortgehen zu bewegen. Diese wollte keinen ihrer sie dazu einladenden Winke verstehen, und sowohl Fräulein Silberhains Lust am Fragen als Eugeniens Lust am Antworten ließen die Unterhaltung nicht fallen, welcher Gabriele mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte.

»Nie in meinem Leben habe ich eine einer wandelnden Leiche so ähnliche Gestalt gesehen als Ottokar beim Antritt der Reise nach Rosenhain«, sprach Eugenia weiter. »Gewiß! Er war sehr krank, denn solche Totenblässe, solche trübe, zugeschwollene Augen, solche Veränderung in allen Zügen finden sich über Nacht bei keinem Gesunden ein. Auch in Rosenhain wankte er so schattenähnlich umher, daß ich jeden Morgen zu hören fürchtete, er sei in der Nacht zum Tode erkrankt. Die Gräfin war deshalb in nicht geringerer Besorgnis als ich, allein er hielt sich aufrecht. Übrigens, wie gesagt, war er am Tage kaum sichtbar, wichtige Arbeiten fesselten ihn in seinem Kabinette, wie es hieß, obgleich ich nicht begreife, was sein Hof jetzt gerade mit Italien, wohin er gesendet wird, so Wichtiges zu verhandeln haben kann. Auch die Gräfin wunderte sich gewiß im stillen darüber, aber Sie kennen ihre Art, sich zu verbergen und immer dasselbe Gesicht zu behalten. Mir schien es, die Wahrheit zu sagen, als ob die Depeschen, welche ihn so beschäftigten, von hier oder doch sehr aus der Nähe kämen, denn an Botentagen kam er gar nicht vom Fenster weg, bis er die grünlederne Brieftasche erblickte, und eilte immer, der Erste zu sein, der sie aufschloß, um sein Päckchen herauszunehmen. Ich erkannte sogar einmal, kurz vor der Hochzeit, Ernestos Hand auf der Adresse eines seiner Briefe.« – »Und Aurelia?« fragte Gabriele.

»Von der läßt sich wenig sagen«, erwiderte Eugenia, »Sie kennen ja das fröhliche Geschöpf. Sie sah nichts, sie merkte nichts, sogar nicht, daß der Hochzeittag von Woche zu Woche, endlich einen ganzen Monat hinaus verschoben ward. Über die Freude, einige Offiziere, die in der Nachbarschaft einquartiert waren, zu erobern und auszulachen und über die noch größere, ein paar Landjunker zu mystifizieren, vergaß sie Italien und die Hochzeit mitsamt dem Bräutigam.«

»Sie behandeln das junge Paar zu strenge«, sprach endlich Frau von Willnangen, »ich hoffe, sie lieben einander, und wenn gleich keine heftige Leidenschaft« –

»Wer leugnet denn, daß sie einander lieben?« unterbrach sie Eugenia ziemlich eifrig, »keines von beiden ließ es an Beweisen davon fehlen. Aurelia neckte ihren Ottokar, sowie sie seiner ansichtig ward, und, Sie wissen es ja, nach dem alten Sprichwort liebt sich, was sich neckt. Ottokar gab hingegen seine Zärtlichkeit für seine Braut auf modernere Art zu erkennen. Es war, als ob er alle Modisten, Blumisten und Juweliere auf zwanzig Meilen in die Runde mit einem Zauberstabe regiere, so unerschöpflich war der Reichtum mannigfaltiger Geschenke, mit welchem er sie überschüttete. Jeder Morgen brachte ihr irgendeine elegante, oft sehr kostbare Kleinigkeit von ihm, abends überraschte er sie durch Nachtmusiken, Feuerwerke, kleine ländliche Feten. Welche andere Beweise seiner Liebe konnte Aurelia sich wünschen? Zum Glück besitzt Graf Ottokar an seinem Lorenz ein unerschöpfliches Genie für die Anordnung dergleichen Dinge, aber gut war es doch, daß endlich der Hochzeittag dem allen ein Ende machte, denn die Erfindungen des Kammerdieners wollten doch nicht mehr recht zureichen, um die geistigen und körperlichen Abwesenheiten seines Herrn zu bedecken.«

So plauderte Eugenia ungestört fort. Frau von Willnangen sowohl als Auguste hatten es aufgeben müssen, sie unterbrechen zu wollen. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als den Eindruck zu beobachten, welchen ihre Erzählung auf Gabrielen machte, besonders da die Erzählerin, vom Fräulein Silberhain durch noch dringendere Fragen angeregt, sich anschickte, die eigentliche Hochzeitfeier auf das umständlichste zu beschreiben.

»Die Trauung geschah in der Dorfkirche und zwar sehr früh am Morgen. Beinah mit Sonnenaufgang, denn so hatte es Ottokar gewollt«, sprach Eugenia. »Und da er zum ersten Mal etwas wollte«, fügte sie hinzu, »so staunte man zwar ein wenig über dieses Ansinnen, ließ es aber dennoch gelten, obgleich Aurelia hoch und teuer versicherte, daß sie und wir alle die abscheulichste Migräne vom frühen Aufstehen davontragen würden.«

Nun ließ sich Eugenia auf eine sehr genaue Beschreibung des prächtigen Négligés von Brüssler Spitzen ein, welches die Braut an dem festlichen Morgen getragen hatte, auch der kleinsten Garnierung desselben geschah ehrenvolle Erwähnung, ehe das Betragen des Brautpaars während der Trauung zur Sprache kommen konnte. Eugenia lobte Aureliens sich durchaus gleichbleibende Fassung und ihren vornehmen, man möchte sagen königlichen Anstand während der Zeremonie, indessen Ottokar bei der endlosen, langweiligen Vorbereitungs-Rede des Pfarrers totenbleich hin- und herschwankte, bis der Moment kam, das feierliche Ja auszusprechen. »Da war es denn doch«, erzählte Eugenia weiter, »als ob es ihm einfiel, daß sein Benehmen nicht ganz das eines Menschen sei, der sich am Ziele lang ersehnter Wünsche sieht, und daß es deshalb allen Gegenwärtigen als höchst befremdend auffallen müsse. Er nahm sich ordentlich mit einem Ruck zusammen«, sprach sie, »stand plötzlich aufrecht da, und sein Gesicht belebte sich zu einem Ausdruck, den wir, solange er in Rosenhain war, an ihm vermißt hatten. Ich muß gestehen, es gab einen Augenblick, während welchem er wieder recht schön war, als er mit glänzenden, himmelwärts gewendeten Augen zum Gewölbe der Kirche aufblickte, und dann, nach einer fast unmerklich kleinen Pause, das verhängnisvolle Ja laut und vernehmlich von sich hören ließ. Aber dies Wörtchen mußte auch wie ein Zauberspruch auf ihn gewirkt haben, denn auf dem Wege aus der Kirche war der steinerne Mann mit einem Mal wieder lebendig geworden. Sowie wir zu Hause angelangt waren, drückte er zum ersten Mal seine Braut an seine Brust, wenigstens sahen wir es zum ersten Mal. »Aurelia!« fing er höchst feierlich, ich glaube gar mit Tränen in den Augen, an und hätte wahrscheinlich ein Supplement zu des Pfarrers Rede geliefert, aber Aurelia machte sich beizeiten los, versicherte, todmüde zu sein und eilte in ihr Zimmer. Gleich darauf schickte sie uns ihre Jungfer mit dem Bedeuten, daß sie nicht eher als bei der Tafel sichtbar werden könne, weil sie durchaus vom frühen Aufstehen ruhen müsse, um nicht den ganzen Tag unwohl zu sein. Ich gestehe es, wir sowohl als der eben aufgetaute Bräutigam blieben bei dieser Erklärung mit recht langen Gesichtern stehen.

»Und wie äußerte sich denn der Bräutigam bei dieser Laune seiner Braut?« fragte jetzt Frau von Willnangen.

»Er sagte das Klügste, was sich unter solchen Umständen sagen ließ, nämlich gar nichts, kein einziges Wörtchen«, antwortete Eugenia. »Die Gräfin, die sich immer zu helfen weiß, ergriff gleich seinen Arm, um mit ihm die Anstalten zur Bewirtung einiger Hundert Bauern aus der Umgegend zu besehen, denn ein festlicher Tag sollte bloß durch ein Volksfest gefeiert werden, da man am folgenden Morgen sehr früh abzureisen beschlossen hatte. Ottokar ging ganz in die Ideen seiner neuen Schwiegermutter ein und nahm sich des Empfanges und der Unterhaltung seiner ländlichen Gäste mit großem Eifer an, bis später, kurz vor der Tafel, die holde Braut ungerufen erschien und mit ihm im vollen Schmuck, unter dem Vivatrufen der Bauern, durch ihre Reihen zog.«

 

»Sehen Sie mich nicht so unruhig, nicht so bekümmert an, liebe, teure Frau«, sprach Gabriele zur Frau von Willnangen, sobald Eugenia endlich mit ihrer Erzählung zugleich ihren Besuch beendet und das Zimmer verlassen hatte. »Auch du, meine Auguste, sei getrost! Was ängstigt euch denn, ihr lieben beide?« setzte sie hinzu, indem sie ihre vereinten Hände an ihre Brust drückte und mit den klaren, treuen Augen zu ihnen aufblickte. Beide umarmten sie schweigend, und Gabriele fuhr fort zu reden.

»Wonach ich lange im stillen mich sehnte, ist mir in dieser Stunde geworden«, sprach sie gleichsam zu sich selbst. »Ich habe Nachricht von ihm, von seinem Leben, seit wir uns trennten, vom Vollbringen dessen, was geschehen mußte, alles ist vorbei – alles, alles ist vorbei«, wiederholte sie und sank in die Kissen des Sofas zurück. Doch ermannte sie sich sogleich wieder und richtete sich auf, mit der in solchen Momenten ihr eigentümlichen Kraft. Frau von Willnangen vermochte es nicht, ihr etwas Zweckmäßiges oder auch nur Zusammenhängendes zu erwidern, nicht allein, weil sie in zu heftiger Bewegung sich befand, auch ihre Ansichten von Gabrielens Geschick schwebten noch immer in zu verworrener Gestaltung ihr vor. In der Verlegenheit, doch etwas sagen zu müssen, stammelte sie einige Worte von unbegreiflichen Täuschungen, von unerklärlichem Benehmen, doch schnell unterbrach sie Gabriele: »Glauben Sie mir«, sprach diese, »keine Täuschung, nichts Unerklärliches liegt zwischen mir und Ottokar; um uns ist alles hell und klar wie das Sonnenlicht. Zwar werden wir auf Erden uns schwerlich wiedersehen, aber dennoch halten wir fest im Glauben aneinander. Wir haben uns einmal gefunden, wir haben uns einmal verstanden, und das genügt uns, um nie in keinem Moment des Lebens aneinander irre werden zu können.«

Die Lebhaftigkeit, mit welcher Gabriele diese Worte sprach, versetzte Frau von Willnangen in die höchste Besorgnis um sie. Sie hatte den Moment, von dem sie so vieles aufgeklärt zu sehen hoffte, das bis jetzt ihr dunkel geblieben war, schon lange im Verborgnen herbeigesehnt. Jetzt war er unerwartet ihr erschienen, und sie wünschte beinah noch weit sehnlicher, ihn verschieben zu können, wäre es auch auf immer. Das stürmische Pulsieren des jungen Herzens, das, wie Ruhe suchend, sich im Laufe des Gesprächs an ihre Brust gelehnt hatte, erfüllte sie mit Angst um die kaum Genesene. Sie sah mit Entsetzen, wie alles Blut aus diesem armen Herzen in einem Moment auf Gabrielens Wangen glühte, im nächsten in dessen Tiefen zurückströmte und nur die bleiche Farbe des Grams auf dem holden Gesicht zurückblieb. Aber alle Versuche, die ihr jetzt so furchtbar scheinende Unterredung abzubrechen, waren vergeblich.

»Lassen Sie mich jetzt die Brust mir frei sprechen«, erwiderte Gabriele ihren Einwendungen; »fürchten Sie nicht, daß mir die Kräfte dazu fehlen, ich fühle mich und weiß, daß ich in dieser Stunde es vermag. Es ist mir ein Trost, denn schon lange sehne ich mich, Ihre unsägliche Liebe durch ebenso ungemeßnes kindliches Vertrauen zu erwidern. Hernach will ich ruhen, und Sie werden gewiß mit dem kranken Kinde nachsichtig umgehen. Ja, ich liebe Ottokar, und er weiß es, denn in der höchsten Stunde meines Lebens, die mir ewig allein dastehen wird, in Freude und Schmerz, habe ich es ihm gesagt. Wovor erschreckt ihr denn wieder? Gott kennt ja meine Liebe, ich schämte mich ihrer nicht vor ihm, warum sollte ich sie denn dem einzigen Wesen verbergen, das gewiß nach seinem Willen zu mir gehört, wenn wir gleich, durch irdische Verhängnisse eingezwängt, fern voneinander jedes seinen eignen Weg gehen müssen. Auch Ottokar liebt mich! Wir fanden uns in seligen Schmerzen, in trüber Wonne, nur einen Moment, um uns gleich wieder zu trennen; und nun ist es gut. – Es ist alles sehr gut!« wiederholte sie nach einer kleinen Pause und drückte, sanft weinend, Mutter und Tochter fester an sich. Beide weinten verstummend mit ihr.

»Wir sollten eigentlich nicht weinen«, sprach Gabriele bald darauf, »ich bin ja nicht unglücklich, ich bin ja nicht beklagenswert, warum weinen wir denn? Ich habe gelebt und geliebt! Beut mir die Zukunft keine Freude mehr, so brauche ich auch dafür sie nicht mehr zu scheuen. Wohin Sie, liebe Mutter! durch Jahre voll Schmerz hin gelangten, dahin bin ich in früher Jugend, in einer kurzen Stunde gekommen; ich bin in ihr alt geworden und kann nun ohne Furcht überall hintreten, meine Ruhe ist gesichert. Ein zweiter Schmerz wie dieser droht mir nicht wieder, denn das Herz liebt nur einmal, wie es nur einmal bricht. Es war ein artiges Spiel des Zufalls, daß unter den Blumen, die ich von Ottokar erhielt, auch die eine sich befindet, welche nur einmal um Mitternacht eine Stunde lang blüht und dann auf immer sich schließt. Ich erhielt in dieser Blume ein Vorbild meines Geschicks, und von ihm.«

»Gabriele, wüßtest du, wie diese deine kalte Verzweiflung mich quält!« rief Frau von Willnangen; »was soll, was kann ich tun, um dich davon zu retten? Ach ich selbst, ich Unbesonnene, war es ja, welche in deinem jungen Gemüte Wünsche und Hoffnungen immer mehr entflammte, die ich hätte unterdrücken sollen, die nun dein Verderben sind! Jetzt weiß ich dies, aber damals blendete ich mich selbst. Ich wollte an die Erfüllung jener Wünsche und Hoffnungen glauben, weil auch ich sie im Herzen hegte, und du gehst nun an ihnen zugrunde.«

»Wie Sie mich mißverstehen, teure Frau!« erwiderte mit wehmütigem Lächeln Gabriele. »Ich bin ja fern von Verzweiflung, glauben Sie mir, ich bin sogar nicht unglücklich, denn wehmütige Erinnerungen, tiefgefühlte Sehnsucht sind ja nicht Unglück. Verstehen Sie doch alles wörtlich, wie ich es Ihnen sage, ich flehe darum, denn wie ich es meine, spreche ich es aus, immer in einfacher Wahrheit. Nie hegte ich die Wünsche, die Hoffnungen, auf welche Sie mit Winken hindeuteten, die ich jetzt erst verstehe. Nie sogar habe ich mit Bewußtsein mir ihre Möglichkeit gedacht, nie sie empfunden. Ich liebte Ottokar wie ich atme, wie ich die Sonne, das Leben liebte. Ich vergaß bei ihm der Vergangenheit und gedachte keiner Zukunft; ich war glücklich und unglücklich in der Gegenwart, ohne mich weiter um etwas zu kümmern. Ja ich will Ihnen nichts verhehlen; nur wie ich Aurelien als seine Braut sah, da erst fiel es mir ein, daß auch auf mich seine Wahl hätte fallen können, da erst, liebe Mutter! und legen Sie es mir nicht als Unwahrheit aus, wenn ich sage, ich hätte eingewilligt, wenn er mich gewählt hätte, wie ich in alles willigen müßte, was er so recht, aus der Tiefe seines Gemüts wollen könnte, aber es wäre ein Opfer gewesen, das ich seinem Wollen brachte. Neidlos sehe ich Aureliens Geschick; ich habe es nie für mich gewünscht, glauben Sie es mir; segnen will ich sie, sie lieben wie ihn, wenn sie ihn so glücklich macht, wie er es durch eine solche heilige Verbindung werden könnte.«

Mit diesen Worten und der Bitte, den Tag ganz allein bleiben zu dürfen, zog Gabriele sich in ihr Zimmer zurück. Dort in der Einsamkeit ließ allmählich die Spannung nach, in welche Eugeniens Erzählung und das darauf folgende Gespräch mit ihren Freundinnen sie versetzt hatten. Sie versank in tiefes Nachdenken; jedes Wort, jede noch so leise Andeutung Eugeniens gingen nochmals ihrem Geiste vorüber; alle waren ihr ein unerschöpflicher Quell von Freude und Schmerz, von dem sie zu fühlen glaubte, daß er ihr ganzes Leben hindurch nicht versiegen könne.

Aus dem von Eugenien nur ganz obenhin erwähnten Umstände, daß sie Ernestos Hand auf einem Briefe an ihn bemerkt habe, ahnete Gabriele, was wirklich geschehen war. Ottokar war auf irgendeine Weise von ihrem Erkranken benachrichtiget worden, er hatte alle Qualen der bängsten, zur Hülfe ohnmächtigen Sorge um sie gelitten, er hatte in martervoller Todesangst um sie gebebt, während sie an den Pforten des Todes in süßer Bewußtlosigkeit lag und wahrscheinlich so hinübergeschlummert wäre, ohne Schmerzen zu fühlen. Durch Ernesto hatte er gewußt, bestimmte Nachricht von ihr zu erhalten, ohne ihn dennoch zum Vertrauten der Art des Anteils zu machen, den Gabriele in ihm erregte. Als ob Ottokar selbst es ihr gestanden habe, so bestimmt wußte Gabriele jetzt, daß nur Besorgnis um ihr Leben seinen auffallenden Trübsinn veranlaßte, über den Eugenia sich so spottend geäußert hatte; daß nur diese Sorge ihn bewog, den Tag seiner Vermählung immer weiter hinauszuschieben, und daß nur die Überzeugung, sie sei genesen, ihn ermutigen konnte, das unvermeidliche Opfer endlich zu bringen, welches für das ganze Leben ihn von ihr trennte und ihn sogar aus der Luft verbannte, in welcher sie atmete.

Aureliens und ihrer sich immer gleichbleibenden Art sich gegen Ottokar zu benehmen, gedachte Gabriele nur mit tiefem Schmerz; denn alles überzeugte sie, daß diese kalte, lieblose, spottende Natur sich nie an seiner Seite erwärmen, nie ihn liebend beglücken könne. Daher vermied sie den Gedanken an sie oder versuchte wenigstens, sich selbst durch die Hoffnung zu täuschen, daß es am Ende ihm doch wohl gelingen könne, die bösen Geister, die sein Glück verhinderten, durch die seiner höhern Natur eigene Güte zu bannen und die Gefährtin seines Lebens für sich zu gewinnen. Wenn alles fehlschlägt, so bleibt ihm der Trost, an den auch ich mich halte, die Überzeugung, das Rechte gewollt und vollbracht zu haben, und mein Andenken, setzte sie ganz leise sich zur Beruhigung hinzu.

 

Noch während des Laufes des Winters hatte Frau von Willnangen den Entschluß gefaßt, den größten Teil des Sommers in den böhmischen Bädern zuzubringen. Durch Gabrielens Krankheit war die Ausführung dieses Plans einstweilen in Vergessenheit geraten; nun sie aber wieder genas, kam er aufs neue zur Sprache. Der Arzt drang sogar darauf, ihn baldmöglichst und zwar in Gabrielens Begleitung auszuführen, er hoffte viel Erfreuliches für ihre völlige Herstellung, nicht sowohl von den Heilquellen als von den Zerstreuungen, welche stets im Gefolge einer solchen Reise sind.

Es war durchaus notwendig, die Erlaubnis des Baron Aarheim zu dieser Reise seiner Tochter einzuholen, und Frau von Willnangen übernahm es sehr gern, ihn schriftlich darum zu ersuchen. Seine Einwilligung erfolgte sogleich und in den verbindlichsten Ausdrücken; nur war die einzige Bedingung beigefügt, daß Gabriele jede Stunde bereit sein müsse, zu ihrem Vater zu eilen, sobald er ihre Gegenwart verlange.

Nicht ohne Schrecken hatte der Baron die Nachricht vernommen, daß Gabriele mit der Tante nicht hatte nach Italien reisen können, denn er fürchtete nun jeden Augenblick, sie in seinem alten Bergschlosse eintreffen zu sehen. Diese schickliche Gelegenheit, sie noch einige Zeit von sich entfernt zu halten, überhob ihn einstweilen jener Sorge, und ward deshalb freudig von ihm ergriffen. Dennoch war er jetzt sehr zufrieden, daß nicht die Alpen zwischen ihm und seiner Tochter als Scheidewand dastünden, weil er sich seit einigen Tagen dem Ziel seines Strebens so nahe glaubte, daß er oft die völlige Entschleierung des großen Geheimnisses von der nächsten Sekunde erwartete.

Seit er so ganz allein, fern von jeder äußern Störung, in Schloß Aarheims düstern Mauern hauste, hatte er sich mit rastloser Leidenschaft, ja bis zur Erschöpfung aller seiner Kräfte, jenen geheimnisvollen Arbeiten hingegeben. Kein freundliches, lebendes Wesen durfte ihm nahen, der Wechsel der Jahreszeiten ging unbemerkt an ihm vorüber, er wußte nicht, ob die Bäume grünten oder ob Schnee sie bedeckte, er sah sogar nicht das Licht der Sonne, denn die schweigenden Nächte sagten seinem dunkeln Treiben am besten zu. Deshalb schlief er, wenn alles wachte, und während jedes glückliche Geschöpf nach des Tages Last und Lust Ruhe sucht, begann sein ängstliches Wirken im dunkeln Kreis der finstern Mächte, die kein Sterblicher ungestraft ruft, wenngleich vielleicht keiner je von ihnen Antwort erhielt.

So verkehrte er die Ordnung der Zeiten. Dennoch verhehlte er sich nicht die bei dieser unnatürlichen Lebensweise für seine Gesundheit obwaltende Gefahr. Er wußte bestimmt, daß er auf keine lange Reihe von Jahren mehr rechnen dürfe, in denen er die Früchte seiner Arbeit zu genießen hoffen könne, aber er achtete dieses nicht, denn er strebte nach keinem dauernden Genuß. In nie gesehenem Glanz aus dem Dunkel seiner Ahnenburg hervortreten, sein uraltes Geschlecht aufs neue in seiner Tochter erstehen sehen, aufs neue für kommende Jahrhunderte der Stifter desselben werden, seine alten Feinde, knirschend vor Neid, in ohnmächtiger Wut erbleichen sehen und dann sich hinlegen und sterben; das war es, was er vom Geschick zu erzwingen dachte; und nur der Gedanke, daß irgendeiner von denen, welche er haßte, vor dem Gelingen seines großen Werkes dieses Leben verlassen könne, machte ihn beben.

Nicht weniger, als dieses rastlose Treiben, ängstigte ihn ein ewiges Überlegen, wie er sein Geheimnis auf das schnellste und vorteilhafteste benutzen könne, sobald es ihm gelungen wäre, es ganz zu entschleiern. Sollte er seine Tochter zur Erbin seines durch mühseliges, unablässiges Forschen und tausendfache Opfer erworbenen Wissens einsetzen? Sollte er sich daran genügen lassen, ihr noch bei seinem Leben unermeßliche Schätze zuzuwenden und sein Geheimnis mit sich in die Gruft seiner Ahnen hinabzunehmen? Diese Zweifel erregten einen nie zu stillenden Zwiespalt in seinem Innern, der, zerstörender als Wachen und Arbeit, ihn langsam verzehrte. Es war ihm unmöglich, einem weiblichen Wesen den Mut, die Klugheit, ja selbst die Verschwiegenheit zuzutrauen, welche unumgänglich dazu gehören, ein solches Geheimnis nicht nur zu verwalten, sondern auch zu verbergen. Die Gefahren, welche jedem drohen, den die Gewaltigen dieser Erde im Besitz solcher Kenntnisse wähnen, waren ihm nur zu bekannt, und das Geschick Böttchers, des unglücklichen Erfinders des sächsischen Porzellans, trat oft warnend vor seinen Geist. Alle diese Überlegungen machten ihn geneigt, sein Geheimnis mit sich sterben zu lassen; dann aber ergriff ihn der Gedanke, wie groß es sei, die Erbin seines Namens, mit dieser mächtigsten aller irdischen Gewalten ausgerüstet, zurückzulassen. Ihn schwindelte, ein neuer Kampf entstand in seinem Gemüt, und so konnte der unglückliche Greis nimmer zur Ruhe gelangen. Rastlos schwankte er ewig in banger Sorge von einem Entschlusse zum andern und verwachte die langen, endlosen Stunden des Tages auf seinem Lager, bis die Abendsonne die Zinnen seiner Burg rötete und ihn mahnte, aufzustehen, um sein nächtliches Tagewerk zu beginnen.

 

Frau von Willnangen zögerte keinen Augenblick, die Erlaubnis des Barons zu benutzen und die Reise in das Bad anzutreten, denn der Sommer war indessen schon ziemlich weit vorgerückt, und da der Herbst dem rauhen Klima der Gebirge selten günstig ist, so hatte sie keine Zeit zu verlieren.

Ernesto suchte und erhielt sehr leicht die Erlaubnis, sich der kleinen Karawane seiner Freundinnen anschließen zu dürfen, welche ihrerseits froh waren, ihn zum Beschützer auf der Reise zu haben. Nicht Furcht vor der während der schönen Jahreszeit mit jedem Tag überhandnehmenden Öde der Stadt hatte ihn zu diesem Entschlusse bewogen, wie Auguste im fröhlichen Mute ihm oft Schuld gab, sondern wahrhaft väterliche, treue Liebe für die verwaisete Tochter der Frau, deren Andenken ihm noch immer wie ein hell leuchtender Stern am fernen Horizont seiner längst hinter ihm zurückgebliebenen Jugend strahlte. Gabrielens Geschick und der Zustand ihres Gemüts waren dem treuen, beobachtenden Freunde nicht verborgen geblieben, obgleich ihm niemand darüber etwas anvertraut hatte.

Zwischen ihm, Frau von Willnangen und auch Gabrielen war sogar eine Art von stillschweigender Übereinkunft darüber entstanden; man behandelte ihn, als wisse er alles, ohne doch je ausdrücklich irgendeines nähern Umstandes zu erwähnen. Er, der lebenskundige Mann, sah Gabrielens Zustand in weit hellerem Licht, als Frau von Willnangen. Er glaubte Gabrielens Ruhe nicht für immer zerstört, er hielt sie sogar in diesem Augenblick nicht für unglücklich. Er wußte, wie der Zauber der Jugend alles, selbst den Schmerz, zu verschönern vermag und ihn zuletzt in das süßeste aller Spiele umwandelt, das aber zugleich auch das gefährlichste ist, weil es dem Gemüte die Kraft entzieht für den Ernst des Lebens in später kommenden Jahren. Die Tränen jener nie wiederkehrenden Frühlingszeit gleichen den Tautropfen auf der Rosenknospe, sie verhauchen in süßen Düften, solange der Morgen frisch atmet, aber wenn die glühenden Strahlen der Mittagssonne sie noch finden, so brennen sie sie ätzend zu unzerstörbaren Flecken ein; die entstellten, früh welkenden Blätter bleiben geschlossen und vermögen es nie, sich in der ihnen von der Natur bestimmten Herrlichkeit zu entfalten.

Übrigens wußte Ernesto auch, daß der Frauen Herz ewig jung bleibt, wenngleich ihre Locken unter der Hand der Zeit erbleichen; daß sie immer geneigt bleiben, mit ihren jüngern Freundinnen sich aufs neue den Wonnen und Schmerzen hinzugeben, welche einst auch ihren Frühling erhellten und trübten und die der Machtspruch des späten Alters nur entschlummern hieß, aber nicht vernichten konnte. Deshalb fürchtete er Frau von Willnangens zu weiche Teilnahme für Gabrielen, jetzt da diese an dem ihre ganze Zukunft bestimmenden Wendepunkt ihres Lebens stand, und achtete es für Pflicht, in ihrer Nähe zu bleiben, um sie mit starker väterlicher Hand zu fassen, zu stützen, zu leiten, sobald es Not täte.

 

Die kleine Reise ward in wenigen Tagen und ohne alle Abenteuer zurückgelegt. Gabrielens stille Heiterkeit während derselben hatte zwar oft einen höchst wehmütigen Ausdruck, der aber nie in wilderen Schmerz, in tiefere Trauer ausartete.

Die Reisegesellschaft kam über Eger nach Karlsbad, und die Gegend in der Nähe dieses ersten Ziels ihrer Reise, besonders aber die mit keinem andern Badeorte zu vergleichende Einfahrt in das Städtchen selbst, entzückte sie alle. »Wahrlich«, rief Auguste, »es verlohnt sich der Mühe, alle Jahre nach Karlsbad zu reisen, einzig um darin anzukommen. Ich wollte, ich könnte, solange wir hier bleiben, wenigstens jede Woche einmal die Freude haben, mich so lustig vom Türmer anblasen zu hören, während ich am Fuß dieser prächtigen Felsen unter den wilden Rosenbüschen hinrolle und ihre Wälder, ihre schimmernden Kreuze, ihre Pyramidenzacken hoch über mir sehe.«

Gabriele lehnte indessen schweigend zum Wagen hinaus, ihr Blick ruhte auf den Felsen, ihre Gedanken flogen der Heimat zu. So, ja ebenso umstarrte hohes Gebirge das alte Schloß, in welchem sie das Licht der Sonne zuerst erblickt hatte. Nicht so geschmückt mit jeder Anmut der Kultur und einer üppigen Vegetation, aber doch diesem ähnlich, nur beinah enger noch und tiefer war das stille Tal, in welchem sie an der Hand ihrer Mutter zu wandeln pflegte. Seit sie Schloß Aarheim verließ, war sie immer in der Ebene geblieben, nur ganz von ferne hatte sie mit der allen im Gebirge Gebornen eignen Sehnsucht ihre lieben blauen Berge zu sich herüberschimmern gesehen. Beinahe ein Jahr war vorübergezogen, seit sie von ihnen schied. Ihr war, als kehre sie in diesem Augenblick wieder heim zu ihnen aus der fernen Welt, welche sie mit so wenig Erwartungen betreten hatte, in der sie so unendlich viel fand, was nur noch in der Erinnerung ihr gehörte, und von der sie, ohnerachtet ihrer Jugend, jetzt zu wissen glaubte, daß sie ihr nichts weiter mehr zu bieten habe als ein Grab.

Der wirkliche Eintritt in Karlsbad und in ihre freundliche Wohnung riß sie aus ihren trüben Träumen, und Augustens herzliche Freude an allen neuen Umgebungen erweckte auch sie zur Teilnahme. Bald gewahrte sie sich selbst in einer neuen Welt. Die geputzten Brunnengäste, welche an dem wunderschönen lauen Sommerabend unter ihrem Fenster auf- und abgingen, schienen ihr unzählbar, so daß die große lebensreiche Stadt, welche sie eben verlassen hatte, ihr wie tot dünkte gegen diesen kleinen, einem Ameisenhaufen ähnlichen Fleck Erde und sie sich an dem ungewohnten Schauspiel fast ebensosehr ergötzte als Auguste.

 

Der Julimonat, und mit ihm die Zeit, während welcher Karlsbad am glänzendsten erscheint, war über die Hälfte vorübergezogen, als Frau von Willnangen mit ihren Begleitern dort anlangte. Einige fürstliche Personen, die bisher einen kleinen Hof gebildet hatten, welcher den vornehmern Brunnengästen einen, alle übrigen ausschließenden Vereinigungspunkt gewährte, hatten sich schon zur Nachkur in andere Bäder begeben. Täglich sah man lange Reihen mit Koffern hochgepackter großer Berlinen über die Wiese ziehen, in welchen vornehme Familien ihnen nacheilten. Dennoch blieb die Gesellschaft noch immer zahlreich genug, um keine Lücke merkbar werden zu lassen, und neue Ankömmlinge ersetzten täglich die Stelle der Abreisenden.

Frau von Willnangen besaß unter vielen angenehmen Eigenschaften auch die, sich überall, wohin sie kam, leicht anzusiedeln und heimisch zu werden. Auf Reisen wußte sie dem allerungemütlichsten Gasthofszimmer in wenigen Minuten ein wohnliches Ansehen zu geben, ohne daß man sonderlich bemerken konnte, was sie darin verändert habe. Wo sie an fremden Orten längere Zeit blieb, da gewannen alle ihre Umgebungen bald einen so behaglich-häuslichen Anstrich, daß jedem wohl darin ward, dem es erlaubt war, sich ihr zu nahen.

Darum sammelte sich auch in Karlsbad wie überall ein sehr angenehmer Kreis der Liebenswürdigsten und Gebildetsten um sie her. Es war als ob sie durch einen Zauberspruch alle an sich zöge, die zu diesen gezählt werden durften, oder als ob sie ein Zeichen an sich trüge, an dem die Gleichgestimmten sie erkannten. Dennoch wunderte sich jeder, der sie zum ersten Mal sah, wie diese einfache, weder durch jugendlichen Reiz noch glänzenden Witz ausgezeichnete Frau dazu gekommen sei, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu werden, so anspruchlos und zuvorkommend war sie in ihrem Betragen gegen alle.

Gabrielen hatte der Arzt nur ein paar Gläser des Theresienbrunnens, als des schwächsten von allen, zu trinken erlaubt, damit sie sich doch auch mit Ehren in die Reihe der Brunnengäste stellen dürfe; denn es ist nichts unangenehmer, als bei einem, allen gemeinschaftlichen Zweck, allein ausgeschlossen zu bleiben. Frühes Aufstehen, Bewegung in der vom Duft der Bergkräuter und frischem Waldeshauch erfüllten Luft und vor allem Rückkehr zu der regelmäßigen Lebensart, deren sie während dieses Winters sich hatte entwöhnen müssen, waren die eigentlich ihr vom Arzt verordnete Kur, und der Erfolg bewies, daß er in der Wahl nicht geirrt hatte. Gabriele, die jetzt eben ihr siebzehntes Jahr vollendete, blühte von Tage zu Tage schöner auf. Der Rosenglanz der Gesundheit gab ihr einen neuen Reiz, ohne den fast ätherischen Ausdruck zu zerstören, der von ihrer frühsten Jugend an sie ausgezeichnet und ihr das Ansehn einer Bewohnerin andrer Welten gegeben hatte. Dabei lag in ihrem freundlich-anspruchslosen Wesen etwas so unaussprechlich Liebliches, daß jedermann sich zu ihr gezogen fühlen mußte, obgleich der stille Ernst, mit dem sie das Leben nur als Zuschauerin zu betrachten schien, niemanden zu näherer Vertraulichkeit aufforderte.

 

Unter den Reisegesellschaftern der Frau von Willnangen war Ernesto der einzige, der mit dem Ton und überhaupt dem Leben in Karlsbad nicht recht zufrieden sein wollte. Sie selbst war zu oft sowohl hier als an ähnlichen Orten gewesen, um mehr von ihnen zu fordern, als sie ihrer jetzigen Einrichtung nach leisten können. Augustens heitere Natur befand sich in ihrer Mutter und Gabrielens Gesellschaft überall wohl, und diese freute sich zwar der herrlichen Umgegend, war aber in ihrer innern Welt noch zu befangen, um sonst noch Ansprüche irgendeiner Art an die äußere zu machen.

Anders aber verhielt es sich mit Ernesto. Dieser hatte noch nie zuvor einen Brunnenort besucht, denn zu der Zeit, da er im frühen Jünglingsalter Deutschland verließ, um die Ausbildung seines Talents in Italien zu suchen, war es noch nicht wie jetzt Gebrauch, die Bäder als Erholungsorte zu betrachten. Eine Badereise wurde damals als ein großer Entschluß und fast immer nur als der letzte Versuch zu genesen angesehen, ja der Ausspruch des Arztes, welcher die Kranken dorthin verwies, klang den mehresten von ihnen wie ein halbes Todesurteil. Daher kannte sie Ernesto nur aus lobpreisenden Aufsätzen in Zeitschriften und hochtönenden, an Ort und Stelle verfertigten Beschreibungen, die ihn freilich weit mehr erwarten ließen, als er fand.

»Wir sitzen hier ganz vortrefflich«, sprach er einst in halb unmutiger, halb zufriedner Stimmung zu der Gesellschaft, die sich an einem warmen Nachmittag im Schatten der schönen Bäume vor dem böhmischen Saal recht häuslich niedergelassen hatte. »Wir sitzen hier ganz vortrefflich. Frau von Willnangen macht die angenehme Wirtin als wäre sie zu Hause, die übrigen Damen arbeiten an allerliebsten Kleinigkeiten, und wir Männer führen weise Gespräche. Uns ist wohl! Aber wir bilden doch einen Staat im Staate, und das ist hier nicht recht. Mir wenigstens tut mitten in meiner Glückseligkeit das Herz weh, wenn ich die einzelnen Paare ansehe, die dort auf der Wiese und hier in den Alleen langweilig und langsam nebeneinander herschlendern. Da Gott hier für alle und jede seinen Segen in die Quellen fließen läßt, so sollten auch wir niemanden von unsern Vergnügungen ausschließen und alle zusammen darnach streben, daß allgemeine Freude die ganze Brunnengesellschaft zu einer Familie vereine.«

Die Gesellschaft, an welche Ernesto diese Worte richtete, bestand außer den Hausgenossen der Frau von Willnangen noch aus der im nördlichen Deutschland einheimischen Familie des Baron Wallburg. Dieser bewohnte mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohne den obern Stock des nämlichen Hauses, von welchem Frau von Willnangen die erste Etage innehatte. Nicht sowohl diese nahe Nachbarschaft, als vielmehr eine gewisse Übereinstimmung in ihrer Lebensweise hatte beide Familien zuerst einander nähergebracht. Gegenseitiges Gefallen, besonders des jüngern Teils derselben, machte sie in kurzer Zeit zu unzertrennlichen Gefährten in allen der Geselligkeit geweihten Stunden.

General Lichtenfels, ein heitrer Greis, und sein Neffe Adelbert gehörten als frühere Bekannte des Baron Wallburg mit zu dem kleinen Kreise, in welchem Adelbert der einzige bedeutend Kranke war. Ehrenvoll im Kriege erhaltene, aber übel geheilte Wunden hatten diesen nach Karlsbad geführt, um Genesung oder doch wenigstens Linderung zu suchen. Im Innern schien er noch schmerzlicher verletzt zu sein, als im Äußern, denn alle seine Züge trugen tiefe Spuren eines verzehrenden Kummers. Gewöhnlich nahm er nur schweigenden Anteil an der Gesellschaft und schien gern in Gabrielens Nähe sich zu halten, deren ebenfalls nicht fröhliche Stimmung der seinen am besten zusagte. Sein ihn väterlich liebender und von ihm kindlich verehrter Oheim war, einzig ihn zu begleiten, nach Karlsbad gekommen, und es gewährte einen eignen rührenden Anblick, wenn der alte eisgraue, aber noch immer rüstige Krieger die schöne hohe Gestalt des Jüngern unterstützte, der, von einer Fußwunde gelähmt, sich nur mühsam und gebeugt fortbewegen konnte. Allwill, ein junger Dichter, und Wollmer, ein ausgezeichneter Tonkünstler, hatten sich auch diesmal, wie gewöhnlich, der Gesellschaft angeschlossen. Beide waren wegen ihrer Talente und ihres angenehmen Humors immer höchst willkommen.

Ernestos Klage über den Mangel allgemeiner Geselligkeit regte sogleich alle Mitglieder des Kreises zum lebhaftesten Widerspruch auf, denn sie befanden sich in dieser Abgeschlossenheit von den übrigen nicht minder behaglich als im Grunde Ernesto selbst und nahmen sie deshalb gern gegen ihn in Schutz. Auguste und Rosalie von Wallburg überhäuften den italienisierten Signor, wie sie ihn spottend nannten, mit Vorwürfen über seinen Wankelmut, der ihn verleite, sich nach andrer Gesellschaft zu sehnen, und die kleine zwölfjährige Luzie Wallburg sprang gar von der Stelle neben ihm auf, wo sie als seine erklärte Geliebte gewöhnlich zu sitzen pflegte, indem sie versicherte, von einem so zur Untreue geneigten Liebhaber wollte sie nichts weiter wissen.

Frieden und Ruhe wurden indessen bald wieder hergestellt, und Frau von Willnangen nahm den Faden des Gesprächs wieder auf, indem sie Karlsbad gegen Ernestos Tadel verteidigte. »Kommen Sie nur nach Töplitz oder überall hin«, sprach sie, »wo nur gebadet wird und nicht getrunken. Dort, wo morgens kein Brunnen Gelegenheit zum Bekanntschaftenmachen bietet, dort mag es Ihnen allenfalls erlaubt sein, über Isolierung der einzelnen und alle die tausend Schwierigkeiten zu klagen, die sich jeder nur einigermaßen allgemeineren Geselligkeit entgegenstellen.«

»Damit, daß es anderswo noch ärger ist, wird aber dem nicht abgeholfen, was ich hier als mangelhaft schelte«, erwiderte Ernesto. »Ich bleibe dabei, daß der größte Teil der Brunnengäste sich noch immer in Karlsbad mehr langweilt, als recht und billig ist und sogar als es bei einem solchen Zusammenfluß von Leuten möglich sein sollte, die alle nichts zu tun haben, als sich zu belustigen.«

»Ich muß hier auf Ernestos Seite treten«, nahm der Kapellmeister Wollmer das Wort. »Blicken Sie nur um sich her, die Sonne beginnt zu sinken, längstens in einer Stunde verweist der Ärzte strenges Gebot uns alle aus der Abendluft unter Dach und Fach, und dennoch werden dann noch vor Schlafengehen ein paar Abendstündchen übrig bleiben, die wohl jedermann gern auf angenehme Weise in Gesellschaft zubrächte. Sehen Sie indessen nur, wie sich schon alles vereinzelt und nach seiner vielleicht ziemlich unbequemen Wohnung hinzieht, während beide Säle leer bleiben, in denen man sich doch recht bequem noch zum erheiternden Gespräch versammeln könnte.«

Leo von Wallburg meinte, wenigstens der Bälle lobend erwähnen zu dürfen, die zweimal die Woche einen allgemeinen Vereinigungspunkt bieten, ward aber von Ernesto schnell unterbrochen. »Geht mir«, sprach dieser, »mit euren Bällen, auf welchen niemand tanzt, als wer seine Mittänzer gleich mitbringt. Diese beweisen gerade, wie sehr der Koterie-Geist hier herrschend ist. Tanzte wohl am verwichnen Sonntag im sächsischen Saal noch irgendeine Seele außer den verwünscht hübschen Polinnen? Und auch sie nur mit den Herren, welche sie auf den Ball geführt hatten. Freilich schweben diese Sarmatinnen wie Grazien einher; aber ringsum an den Wänden des Saals saßen auch deutsche und andre Grazien die Menge in langen Reihen da, ohne daß es einem von den vielen jungen Herren eingefallen wäre, sie zum Tanz aufzufordern.«

»Eigentlich«, nahm der General wieder das Wort, »eigentlich fehlt es uns hier nur an jemanden, der Aufopferung, Geschicklichkeit und Ansehen genug besäße, um sich an die Spitze aller Übrigen stellen zu können und nicht nur bei Festen und Bällen, sondern überall als Wirt die Honneurs zu machen. Ohne einen solchen Mittelpunkt gedeiht bei uns keine Geselligkeit. Wir Deutsche sind nun einmal bei solchen Gelegenheiten nicht sowohl träge als unbehülflich. Genau wie die Kinder, die, wenn sie zum ersten Mal zusammen kommen, um miteinander zu spielen, lange verschämt dastehen, einander kaum ansehen und dabei tun, als läge ihnen im mindesten nichts am Spiel, während sie sich vor innerlicher Ungeduld darnach nicht zu lassen wissen. Da muß durchaus jemand eintreten, der jedem zeigt, was es zu tun hat, um sich zu belustigen, und alle mit linder Gewalt aneinander treibt, sonst bleibt jeder für sich und ärgert sich dabei über den Nachbar, der nicht den ersten Schritt tun will.«

»Tun Sie diesen ersten Schritt und machen Sie der allgemeinen Not ein Ende, lieber Herr General«, sprach lächelnd Frau von Willnangen; »in jeder Hinsicht eignet sich niemand zu unserm Anführer besser als Sie, und ich bin im voraus überzeugt, daß jedermann dies dankbar anerkennen wird.«

Der General verbeugte sich und fuhr fort zu reden. »In jüngern Jahren habe ich oft aus eignem Antrieb es versucht, den Ehrenposten zu bekleiden, den Sie, meine gütige Freundin! mir jetzt wieder zuteilen möchten, dem ich mich aber um keinen Preis wieder unterziehen würde. In Bädern, in Garnisonen oder wo sonst der Zufall eine ungewohnte Zahl Menschen aus allen Ständen zusammenführt, welchen geselliges Vergnügen Bedürfnis ist, bin ich oft von eigner Lebenslust verleitet worden, mich zum maître de plaisir aufzuwerfen, aber lag es an meiner Ungeschicklichkeit oder an etwas anderm, ich weiß nur, es ist mir jedes Mal so schlecht bekommen, daß ich noch jetzt nicht ohne Ärger daran denken kann.«

»In der Tat«, sprach Baron Wallburg, »das Amt eines Zeremonien-, oder wenn Sie wollen, Vergnügen-Meisters ist eines der anerkannt mühseligsten und unbelohnendsten, am Hofe wie in der Stadt, vor allem aber in einer Republik, wie doch jeder Brunnenort eine ist, und ich begreife nicht, wie man anders, als durch den Drang der Umstände dazu gezwungen, sich ihm unterziehen mag.«

»Sollten Sie mich auch wieder der Anglomanie beschuldigen, lieber Vater!« sprach Leo, »ich muß hier doch bemerken, daß das Talent der Briten, überall das Komfortabelste zu erfinden, sich auch in dem vorliegenden Fall bewährt. Unerachtet ihrer, jeder geselligen Verbindung mit Unbekannten noch weit mehr als die der Deutschen widerstrebenden Natur trafen sie dennoch den rechten Weg, alle zufriedenzustellen. In jedem bedeutenden Brunnenort wählen die Badegäste einen Zeremonienmeister, dessen Anordnungen jeder gern Folge leistet und der um einen anständigen Ehrensold für die gesellige Unterhaltung aller, wie jedes einzelnen, unermüdlich besorgt ist. So darf dort niemand über Vernachlässigung oder Langeweile klagen, der dies nicht selbst durch sein Betragen verschuldet.«

»Dacht' ich's doch, daß die große Erfindung auf etwas Fabrikmäßiges hinauslaufen würde«, sprach Baron Wallburg, »denn hoffentlich hat dieser Zeremonienmeister auch Gehülfen, die ihm vorarbeiten, und der Fremde, der amüsiert werden soll, geht dabei aus einer Hand in die andre wie ein englischer Knopf.«

»Haben Sie nicht auch aus Holz und Stahl vortrefflich gearbeitete Herrn und Damen, die eingeschoben werden, wenn es an lebendigen Tänzern fehlt?« fragte Ernesto.

Die Idee solcher unermüdlichen Tänzer erweckte großes Vergnügen bei dem jüngern Teil der Gesellschaft. Vor allem äußerte die kleine Luzie den sehnlichen Wunsch, daß auf dem nächsten Ball deren ein halbes Dutzend, womöglich in Husarenuniform, erscheinen möchte. Dann, meinte sie, käme auch wohl einmal die Reihe an sie, mit so einem hölzernen Husaren zu tanzen, denn die großen Mädchen nähmen ihr die lebendigen Tänzer alle weg.

»Auch ich kenne die Badekönige, denn so pflegt man in England sie zu nennen«, nahm endlich der Kapellmeister das Wort, »und ich habe mich während meines vieljährigen Aufenthalts in jenem Lande zu wohl unter ihrem sanften Zepter befunden, als daß ich mich nicht laut für sie erklären sollte. Aus Reisebeschreibungen ist zwar jedermann von den Statuten ihres Reichs unterrichtet, aber den ganzen wohltätigen Einfluß derselben auf das Badeleben kann nur der ermessen, der wie ich einst zu ihren Untertanen gezählt ward.«

Noch vieles sprach man, bald lobend, bald tadelnd über diese englische Einrichtung, deren Einzelheiten selbst dabei sehr umständlich zur Sprache kamen. »Leo hatte in der Tat recht«, entschied endlich der General, »und ich wünsche herzlich, recht bald solche Könige auf deutschem Grund und Boden zu begrüßen. Ernestos fromme Wünsche können wahrhaftig nur durch ihre Einführung bei uns in Erfüllung gehen, aber ich fürchte aus mancherlei Gründen, daß sich unendliche Schwierigkeiten ihr entgegenstellen würden. Indessen käme es auf einen Versuch an, und wäre die Brunnenzeit nicht ihrem Ende so nahe, so möchte ich sie wohl, wenigstens als Probestück, auf einige Wochen in Vorschlag bringen, obgleich ich nicht weiß, wo ich sogleich einen würdigen Kandidaten zu diesem sehr schweren Posten finden würde.« – »Ein Mann vom Stande könnte sich doch unmöglich dazu entschließen«, meinte Frau von Wallburg. »Und warum denn nicht? Meine gnädige Frau!« erwiderte ihr schnell Ernesto. »Ich halte die Stelle eines solchen Königs für recht ehrenvoll, und um so mehr, da nicht gemeine Eigenschaften dazu gehören, sie mit Würde zu bekleiden.« – »Glauben Sie vielleicht, daß die Stelle eines Bankiers am Pharao-Tische, die so mancher Sprößling eines sehr edeln Stammes ausfüllt, für ehrenvoller gelten dürfe?« setzte der General lächelnd hinzu.

Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne mahnten jetzt die Gesellschaft zum Aufbruch, doch traf man noch vorher die Verabredung, es an einem der nächsten Abende zu versuchen, ob nicht der größere Teil der in Karlsbad gegenwärtigen Fremden zu einer zahlreichen Versammlung in einem der Säle zu veranlassen sei, um so vielleicht den Grund zu künftiger allgemeiner Geselligkeit zu legen. Niemand wandte gegen diesen Plan etwas ein außer Frau von Wallburg. »Ich weiß nicht«, sprach sie, »warum wir uns um die Übrigen, die sich um uns nicht bekümmern, soviel Mühe geben wollen, da wir ihrer doch nicht bedürfen, um uns recht wohl zu befinden. Unser Zirkel genügt uns, er ist groß genug, um uns zu amüsieren, und wir werden uns da eine Menge Bekanntschaften aufladen, unter denen sich gewiß Leute befinden, die gar nicht zu uns passen und die uns in Zukunft vielleicht recht lästig und beschwerlich in unserm eignen Hause werden können.«

Herr von Wallburg tröstete indessen seine Frau mit der Versicherung, daß Badebekanntschaften sich nie über die wenigen Wochen hinaus erstrecken dürfen, die man miteinander verlebt, und daß es anerkannt herkömmlich sei, auch die genausten dieser Art in seiner Heimat zu ignorieren, sobald man nicht durch eigne Beweggründe sich veranlaßt finde sie fortzusetzen; und so wanderte sie beruhigt mit der übrigen Gesellschaft ihrer Wohnung zu.

Die letzten, auf eine eigne, gleichsam etwas bezeichnen sollende Weise betonten Worte des Baron Wallburg machten indessen auf Frau von Willnangen einen nichts weniger als angenehmen Eindruck. Sie hörte sie mit dem prophezeienden Vorgefühl, mit welchem der kundige Schiffer bei sonst heiterem Himmel das kleine dunkle Wölkchen am fernsten Horizonte erblickt, welches ihm den nahenden Orkan verkündigt. Überhaupt wohnt in vielen Frauen ein Vorahnen dessen, was sie von denen, welchen sie auf ihrem Lebenspfade begegnen, zu erwarten haben, sei es Freude, sei es Schmerz. Liebe oder Feindseligkeit, sie empfinden beide lange im voraus, ehe sich noch die Person ihrer bewußt wird, in deren Brust diese Empfindungen später erwachen. Von diesem wunderbaren Gefühl geleitet, würde Frau von Willnangen den Umgang mit dem Baron Wallburg und seiner Frau vielleicht gänzlich vermieden haben, aber sie hielt es für unbillig und töricht, auf eine Ahnung zu achten, für welche sich durchaus kein vernünftiger Grund erdenken ließ, und überdem erschien ihr der jüngere Teil dieser Familie so liebenswürdig, daß sie um seinetwillen manches ihr minder Angenehme gern übersehen mochte.

Nicht ohne Wohlgefallen hatte sie das Aufkeimen einer Neigung Leos von Wallburg zu ihrer Tochter bemerkt, deren Erwiderung von Augustens Seite ihr durchaus nicht unerwünscht gekommen wäre. Leo zeichnete sich in der Tat auf eine vorteilhafte Weise vor andern jungen Männern aus. Mit einem sehr gebildeten Geist und einem angenehmen Äußern verband er die schätzenswertesten Eigenschaften des Gemüts, die sich auf das unverkennbarste bei jeder Gelegenheit, besonders aber im Umgang mit den Seinen äußerten. Und so war es wohl sehr verzeihlich, wenn Frau von Willnangen sich bisweilen süßen, allmählich zu Wünschen und Hoffnungen ausartenden Träumen vom künftigen Glück ihrer Tochter überließ, besonders da der einstigen Erfüllung derselben sich auch im Äußern nichts entgegen zu stellen schien. Dennoch hütete sie sich wohl, mit Augusten darüber zu sprechen, sie ließ das Herz ihrer Tochter ungestört seinen stillen Gang gehen; der Reue Schmerzen, die sie noch immer bei Gabrielens Anblick empfand, lehrten sie jetzt Vorsicht üben, da es vielleicht der ganzen Zukunft ihres geliebten einzigen Kindes galt.

Das vom Baron Wallburg über die Badebekanntschaften ausgesprochene Urteil wäre vielleicht von ihr unbeachtet geblieben, hätte es sie nicht plötzlich an ein Gespräch erinnert, welches sie am nämlichen Morgen mit dem General auf einem einsamen Spaziergange gehalten hatte. Er, der immer offen zu Werke zu gehen gewohnt war, hatte mit einer höchst auffallenden Absichtlichkeit die Gelegenheit gesucht, vom Baron Wallburg und dessen Gemahlin zu sprechen. Beide wurden zwar als sehr vorzüglich in jeder Hinsicht von ihm gepriesen, dabei aber zu wiederholten Malen und fast warnend des Ahnenstolzes erwähnt, der in ihrem Vaterland überall mehr als in irgendeinem andern Teile Deutschlands vorherrsche. Auch dieses sonst so liberal gesinnte Paar sollte, nach des Generals Versicherung, in dieser Hinsicht mit unüberwindlichen Vorurteilen erfüllt sein; nur feine Sitte verhindere es, diese auch im gewöhnlichen Leben laut werden zu lassen.

Die Dazwischenkunft des Barons selbst und die übrigen Zerstreuungen des Tages hatten Frau von Willnangen abgehalten, dieses Gespräch mit dem Ernst zu würdigen, zu welchem es augenscheinlich des Generals Absicht war, sie zu stimmen. Jetzt aber stand jedes Wort desselben plötzlich wieder vor ihrem Geist, und dabei fiel der Gedanke ihr mit Zentnerschwere auf das Herz, daß Augustens Stammbaum wirklich nicht von der Art sei, um vor strengen Richtern als gültig zu bestehen. Ihr Vater war der Sohn eines sehr angesehenen, aber bürgerlichen Hauses, seinen später erworbenen Adel verdankte er nur seinen Verdiensten und dem Range, den er bekleidete. Die lange Reihe von Ahnen, welche Frau von Willnangen als eine geborene Rosenberg zählte, vermochte es leider nicht, die ihm fehlenden zu ersetzen.

Frau von Willnangen fühlte sich bei ihrer Zuhausekunft von diesen Gedanken so verstimmt, daß sie es ausschlug, noch, wie sonst gewöhnlich, ein paar Stunden bei der Gesellschaft zu bleiben, und sich vielmehr mit den Ihrigen in ihr Zimmer zurückzog. Diese Verstimmung teilte sich auch den Übrigen mit, alle vereinzelten sich, und der Abend nach diesem so fröhlich begonnenen Nachmittag, der eine allgemeine Geselligkeit einzuführen bestimmt schien, war der erste, an dem jedermann sich bestmöglichst zu isolieren strebte.

 


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