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Hippolits Erwachen aus schwerem betäubenden Schlummer glich am andern Morgen dem Erwachen aus Grabesdunkel in einer andern Welt. Die ganze Vergangenheit war ihm entschwunden und nur in ängstlichen Traumbildern schwebten die zuletzt verlebten Stunden vor seiner Seele. Als er allmählich zur vollen Besinnung gelangte, wünschte er nur, wieder einzuschlafen, um von neuem alles zu vergessen. Mit unendlichem Grausen ergriff es ihn, wie alles jetzt so ganz anders sein könne, hätte nicht Gabriele ihn wunderbar vor sich selbst errettet. Er bebte mit Entsetzen vor dem geheimnisreichen Schleier der Ewigkeit zurück, den er gestern in verzweiflungsvollem Erdreisten mit kecker Hand zu lüften im Begriffe stand. Dann wendete er den Blick zur Erde. Er sah sich selbst bleich, regungslos erkaltet, entstellt vielleicht zum Unkenntlichen, ein Grausen, nicht Wehmut erregender Toter, von dem Laien und Geistliche sich fromm bekreuzend den Blick abwandten. Fern, allen zum Graus in ungeweihte Erde gebettet, hob kein beträntes Auge von dem niedrigen Hügel sich mit tröstender Hoffnung gen Himmel. Freunde und Verwandte konnte nur den Wunsch hegen, ihn sobald als möglich der Vergessenheit zu übergeben, darum durfte kein Stein mit seinem Namen den Ort bezeichnen, wo man ihn hinlegte.
Hippolit hatte den Tod nie gescheut, oft in jugendlichem Unmut ihn herbeigerufen, wenn das Leben sich in frühern Zeiten seinen Wünschen nicht fügen wollte. Späterhin war er ihm oft dreist entgegen gegangen, wenn er aus keckem Übermut oder um das Lächeln einer schönen Frau oder wegen ein paar unbedacht hingeworfener Worte seiner Jugendgesellen das Leben wagte, als wäre es eine Seifenblase. Doch vor der abschreckenden Gestalt, in welcher der Tod jetzt seiner Phantasie vorschwebte, konnte er nur schaudernd sich abwenden. Das Blinken des kristallnen Fläschchens, das noch auf seinem Tische lag, verwundete ihn mit stechendem Schmerz und er eilte, es wieder tief und sorgsam zu bewahren, um nur das Entsetzliche nicht mehr zu sehen. Dann bereitete er sich zu der gewünschten und gefürchteten Zusammenkunft, die ihm in den nächsten Morgenstunden bevorstand. Es gelang ihm, eine ruhigere Stimmung zu erringen, und nun begann er, seiner gestrigen Verzweiflung sich herzlich zu schämen. Wie damals, als er zwischen den Ruinen der Brandstätte erwacht war, schalt er auch jetzt sich unmännlich feig und fühlte mit tiefer Reue, wie grausam und unwürdig er im Begriff gewesen war, auch Gabrielens Frieden auf immer zu zerstören, den geringen Anteil häuslichen Glücks, der ihr ward, zu vernichten und vielleicht selbst ihre Ehre vor der Welt unheilbar zu verwunden.
Endlich ward er zu Gabrielen gerufen. Er wagte es nicht, die Augen zu ihr zu erheben bis er ihre sanfte rührende Stimme hörte, mit der sie freundlich ihn begrüßte, nach seinem körperlichen Befinden sich erkundigte. Doch als er sie anblickte, wär er beinah in ehrfurchtsvoller Anbetung vor ihr hingesunken. So glaubte er noch nie sie gesehen zu haben. Hoch und hehr, bei aller gewohnten Einfachheit, stand sie vor ihm wie eine Königin; ihr Auge strahlte in ungewohntem Glanz, ihre Wange war höher gerötet und alle Züge ihres schönen Gesichts trugen den Ausdruck festen, wenngleich durch innere Güte gemilderten Ernstes. Hippolit fühlte in diesem Moment alle seine Wünsche in Demut und Ergebung untergehen. Mit einer anmutigen, wenngleich etwas feierlichen Bewegung der Hand wies sie ihm seinen Platz ihr gegenüber an, einige Minuten vergingen und keines von ihnen sprach ein Wort; doch Gabrielens Fassung überwand gar bald dieses verlegene Verstummen.
»Ich habe in vergangner Nacht recht viel, recht besorgt um Sie, Ihrer gedacht, lieber Hippolit!« sprach sie zu ihm. »Ich möchte so gern dazu beitragen, Sie in ungetrübtem Jugendmute Ihrem eignen klaren Bewußtsein wiederzugeben. Dann wäre alles gut. Denn ein düstrer unverstandener Wahn hat wunderlich Sie betäubt. Sie verkennen sich, die Welt und das Leben. Es wäre wohl die Pflicht der ältern erfahrneren Freundin, Ihnen wieder zurecht zu helfen, wüßte ich nur, wo zu beginnen!«
»O Gabriele! Ich bin Ihrer Sorge nicht wert. Gefühle, Leidenschaft, Erinnerungen, deren Vorstellungen Ihnen ewig fremd bleiben müssen, nagen an mir, reißen mich hin zu wildem verworrenen Tun; geben Sie mich auf! Mir ist nicht zu helfen«, erwiderte schmerzlich Hippolit.
»Wie Sie mich betrüben!« rief Gabriele; »nach dem gestrigen Abend« –
»Erwähnen Sie ihn nicht, aus Mitleid nicht, ich flehe darum«, unterbrach Hippolit sie in heftiger Bewegung. »Die Hälfte meines Lebens gäbe ich willig, um ihn zurückzukaufen. Wüßten Sie, welche wunderbare Verknüpfung unendlicher Zufälligkeiten bis zu diesem Wahnsinn mich trieb! Doch warum mit der trüben Erzählung Sie behelligen? Vergeben Sie dem Unglücklichen; wenn es möglich ist, so vergessen Sie. Fürchten Sie nichts Ähnliches von mir, solange ich meiner Besinnung mächtig bleibe. Ich werde harren, ich brauche dem Untergange nicht zu rufen, ich weiß, er wird mich früh genug ereilen.«
»An diesem Morgen des neugeschenkten Lebens hoffte ich Sie anders gestimmt zu finden. Doch gebe ich darum die Hoffnung noch nicht auf, Sie besänftigend zum Bessern zu leiten«, erwiderte Gabriele. »Geduld ist die Pflicht der Frauen und der Freunde, ich will gern sie üben, aber üben Sie sie auch, lieber Hippolit. Hören Sie mich an, und ohne Widerstreben, ohne eigenwillig Ihr Gemüt gegen meine Stimme zu verhärten.«
Hippolit unterbrach hier zwar Gabrielen mit lauten leidenschaftlichen Ausrufungen, doch sie achtete dessen nicht. Ein halb bittender, halb befehlender Blick machte ihn wieder verstummen, und sie fuhr fort zu reden.
»In meiner Sorge um Sie, in meinem Gebet um Erleuchtung, wie Ihnen zu helfen wäre, kam mir plötzlich der Gedanke, Ihnen mit meiner Erfahrung zu nützen. Die Klippen, die ein Freund vor uns bezeichnete, sind leicht vermieden, und der Sieg, den andere vor unsern Augen errungen, scheint uns nicht mehr unmöglich. Darum will ich allen Bedenklichkeiten entsagen, ich will Ihnen vertrauen, was ich noch keinem sterblichen Wesen so in Worte gefaßt bekannte. Ich gebe Ihnen das teuerste Geheimnis meines Lebens in der Geschichte meines eignen Herzens. Sie sehen, ich achte Sie noch, Sie sind mir noch immer wert, was ich kann, gebe ich Ihnen, Hippolit! Und mehr dürfen und werden Sie nicht wünschen«, setzte sie, ihm freundlich die Hand bietend, hinzu.
Mit hohem Erröten begann sie nun von jener Zeit zu sprechen, da sie, früh verwaist, in eine ihr ganz fremde Welt versetzt, mit beklommnem Herzen, vereinzelt dastand. Doch Blick und Ton wurden immer lebendiger, als sie deren erwähnte, welche ihr so freundlich entgegentraten, Ernestos, der Frau von Willnangen und ihrer Auguste. Hippolit, ihr gegenübersitzend, blickte mit stummen Entzücken in ihr seelenvolles Gesicht, in ihre klaren Augen, die, während sie sprach, oft mit dem Ausdrucke herzlichen Wohlwollens auf ihm ruhten.
»Ohne Ansprüche, geliebt zu werden, betrat ich die Welt«, sprach Gabriele, »doch bereit, mit inniger Liebe zu umfassen, was Liebenswertes und Edles mir nahen werde. Denn echte edle Liebe ist die Blüte des Lebens; sie bedarf keiner Gegenliebe, um zu beglücken, sie ist sich selbst ihr eigner hoher Lohn. So hatte meine Mutter mich gelehrt.«
Dann erwähnte Gabriele mit glänzenden Augen Ottokars erstes Erscheinen. Ohne ihn zu nennen oder sonst auf kenntliche Weise zu bezeichnen, beschrieb sie ihn wie er ihr damals erschienen war und noch immer in ihrer Erinnerung lebte. Mit hinreißender Einfachheit und jungfräulichem Erröten bekannte sie, wie sie zuerst in Demut neben ihm gestanden hatte und all ihr Wünschen einzig darauf hinausgegangen war, nur einmal so wie die andern mit ihm sprechen zu können; wie sie zuletzt in ihrem Gemüt doch zu der Überzeugung gelangt wäre, daß sie allein zu ihm gehöre, daß nur sie ihn ganz verstehe, obgleich er nie im Gespräch sich an sie gewendet habe und wie dies völlig von ihm Übersehenwerden in verborgenen, schweigenden Nächten oft schmerzlich von ihr beweint worden sei. Dann kam sie zur Beschreibung jener einzigen Stunde, die in aller Seligkeit des Himmels und allem herzzerreißenden Schmerz des Erdenlebens beide auf ewig vereinte, indem sie für das ganze Erdenleben sie trennte.
»Und so ist es noch jetzt«, setzte Gabriele nach einem kurzen deutungsvollen Schweigen hinzu. »Sieben Jahre sind seit jener Stunde vorübergezogen. Wir sind für dieses Leben so ganz voneinander geschieden, daß in all dieser langen Zeit kein Gruß, kein Blättchen von uns mit unserm Namen bezeichnet über die Kluft hinschwebte, die das Geschick und unser eignes Gefühl des Rechten zwischen uns zog. Wir sind mit unserm Lose zufrieden. Der irdische Schmerz ist niedergekämpft und nur die reine Freude, einander gefunden zu haben, ist uns geblieben. Bei jeder Erdennot, jedem Zweifel, der im Gewühle des Lebens sich an mich drängt, hebt und hält mich das Bewußtsein, daß er lebt, daß er kein Gebilde meiner Phantasie ist. Und auch ich – ich bin dessen überzeugt –, auch ich erscheine ihm zum Trost, wenn er es bedarf. Weiter haben wir für dieses Leben keine Wünsche mehr, sogar der, einander hier noch einmal wiederzusehen, verstummte allmählich. Doch will ich meinem jungen Freunde nicht bergen, daß die Ruhe, welche jetzt mich beseligt, nur im schweren Kampfe errungen ward. Hippolit! Auch Sie sind zu diesem Kampfe berufen und werden siegen.«
»Nimmermehr!« rief Hippolit in leidenschaftlichem Schmerz. »Wie könnte ich je dahin gelangen, wo Gabriele in der Glorie einer Heiligen strahlt! Seliger Engel! Warum bliebst du nicht in deinen Himmeln? Warum mußtest du in dieser entzückenden Gestalt herabschweben, uns zu verderben?«
»Hippolit! Ich wiederhole es, Sie betrüben mich mit diesem wilden leidenschaftlichen Wesen; Sie ängstigen mich, und es ist wohl besser, ich ende dieses Gespräch, um schriftlich einen vielleicht günstigeren Moment zu treffen«, sprach Gabriele sehr ernst, als wollte sie aufstehen und das Zimmer verlassen, doch Hippolits Verzeihung erflehender Blick und sein sichtbares Bestreben, sich zu mäßigen, bewogen sie, noch zu bleiben.
»Verzeihen Sie mir die Behauptung«, sprach endlich Hippolit, »Gabriele, schönes engelreines Wesen! Was Sie Liebe nennen, ist es nicht. So lieben nicht sterbliche Menschen; wie Sie jenen namenlosen Glücklichen lieben, so lieben selige Geister.« –
»So lieben Frauen«, unterbrach ihn Gabriele, und ihre Augen leuchteten in verdoppeltem Glanze.
»Wie gern stimmte ich in kindlicher Demut diesem Ausspruche bei«, rief Hippolit und wagte errötend kaum, die Augen aufzuschlagen, »aber ich darf gegen Sie nicht falsch sein«, fuhr er fort. »Ich muß es bekennen, ein feindliches Geschick hat mich schon frühe mit der Kehrseite des Lebens bekannt gemacht. Aus Erfahrung, deren ich jetzt nur in tiefer Beschämung gedenke, weiß ich, wie einsam Gabriele auf der Höhe steht, die über ihr Geschlecht sie erhebt, wie ohne alle Ahnung dessen« –
Ein zürnender Ausruf Gabrielens unterbrach ihn. »Fürchten Sie nichts!« fuhr er bittend fort; »kein kühn ausgesprochenes Wort soll Sie beleidigen; möge der Himmel mich noch elender machen als ich es bin, wenn je die hohe Ehrfurcht mich verläßt, die in Ihrer Nähe mich immer ergreift. Doch wenn Sie je – wenn jemals – ach! Wie fange ich es an, um Ihnen gegenüber das, was ich denke, was ich fühle, in Worte zu fassen? Wie soll ich Sie erbitten, es nicht Lästerung zu nennen, wenn ich bekenne, daß ich jetzt, von Ihrem holden Vertrauen beruhigt, ihn nicht mehr beneide, dessen nie zuvor geahntes Dasein schon gestern die Bosheit Ihrer Feindin und die unbedachte Vertraulichkeit Ihres Freundes mir verrieten. In nie gefühlten Qualen der Eifersucht jagte es mich in Wahnsinn und Tod!«
»Sie sollen ihn auch nicht beneiden, Sie sollen neidlos ihm nacheifern, Sie sind es wert, neben ihm zu stehen«, sprach Gabriele mit begütigendem Tone, doch Hippolit fuhr fort, wie nachdenkend vor sich hin, weiterzusprechen.
»Dies ruhige Gefühl wäre Liebe? Nein, ich wiederhole es, Gabriele hat nie die Liebe gekannt. O – kennten Sie dieses verzehrende Feuer, dies Wünschen ohne Namen und Ziel, diese Unmöglichkeit, anderswo zu atmen als in der Nähe des Geliebten! – O Gabriele, was soll aus mir werden? Was soll mich schützen vor Wahnsinn und Verzweiflung?« rief er, von seinem Schmerz aufs neue überwältigt; »was kann mich retten?«
»Was auch mich und meinen Freund vor Untergang und Unwürdigkeit schützte«, erwiderte Gabriele fest und mild. Sie faßte die Hand, mit welcher er in wildem Unmute sein Gesicht verhüllte. »Blicken Sie mich an«, sprach sie; »glauben Sie, daß diese Augen nie weinten? Daß nicht auch meine Brust in schlaflosen Nächten nach Trost, nach Hoffnung, nach Beruhigung schmerzlich rang? Daß nicht auch er? – O Hippolit, ich fordere ja nichts Unmögliches, nur was ich und er auch taten und trugen.«
»Entfernung ist Tod!« rief Hippolit alle Mäßigung vergessend, im wilden Schmerze.
»Und Sie glauben, mich zu lieben? Kennt Liebe denn Trennung? Ist sie nicht ewige Nähe? Gibt es für sie Raum oder Zeit?« erwiderte ihm Gabriele.
Lange kämpfte sie mit ihm, erschöpfte Gründe und Bitten, um ihn zu einem Schritt zu bewegen, den sie im Fall seines unüberwindlichen Widerstandes entschlossen war, selbst zu tun. Mit der Überzeugung von Hippolits wirklich leidenschaftlicher Liebe war ihr auch die Notwendigkeit klar geworden, ihn aus ihrer Nähe zu entfernen. Sie fühlte unendliches Mitleid mit ihm in ihrem Herzen, es betrübte sie unsäglich, ihn wieder ganz allein seiner leidenschaftlichen Natur überlassen zu müssen, ihn rat- und hülflos in die ihm so gefährliche Welt hinauszustoßen. Auch dachte sie nicht ohne ein sehr schmerzliches Gefühl für sich selbst an die Trennung von ihm; sie war seiner Gegenwart so gewohnt worden, daß sie kaum wußte, wie sie es anfangen solle, um sich von ihm loszureißen. Der schönste Schmuck ihres jetzigen Lebens ging ihr mit ihm verloren, das konnte sie sich nicht verhehlen und gestand es auch ihm offen und wahr.
Ihr Mitgefühl milderte die Wildheit seines Schmerzes und machte ihn fähig, Bitten und Gründen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Mit der größten Zartheit lenkte Gabriele auch seine Blicke auf ihre eigne häusliche Lage, die er nur zu genau kannte, auf die Gefahr, in welche er in unbedachten Augenblicken sie stürzen könnte, dieses Schattenbild von häuslicher Ruhe zu verlieren, das sie bisher, mühsam erkämpft, mit unzähligen Opfern sich erhalten hatte. Selbst auf das Urteil der Welt, das man ehren muß, ohne es achten zu können, machte sie in leisen Andeutungen ihn aufmerksam. Hippolit war es gewohnt, sie beinahe ohne Worte zu verstehen. Er konnte sich die Wahrheit dessen nicht verhehlen, was sie ihn mehr erraten ließ, als daß sie es ausgesprochen hätte, und der Gedanke, ihrer Ruhe dies große Opfer zu bringen, ermutigte ihn. Ihre bittenden Blicke besiegten ihn mehr als ihre Gründe; der gebietenden Herrin hätte er vielleicht noch lange Widerstand geleistet, der mit ihm fühlenden Freundin mußte er nachgeben. Und so gelangte er denn endlich zu dem Entschlusse, zuerst in Ungarn Freunde und Verwandte zu besuchen, seine Güter zu bereisen und dann nach Italien zu gehen. In Jahresfrist sollte er selbst entscheiden, ob er dann siegreich genug aus dem schweren Kampfe mit seinem Herzen hervorgegangen sei, um zu verdienen, wieder in Gabrielens Nähe zu leben.
»Was ich mir und meinem fernen Freunde versagen mußte, darf ich Ihnen erlauben«, sprach sie zu ihm. »Ich bitte Sie sogar, mir wöchentlich zu schreiben. Ich will an allem teilnehmen, was Ihnen begegnet, und auch Sie sollen von mir zuweilen Kunde erhalten, obgleich ich nicht versprechen kann, jeden Ihrer Briefe regelmäßig zu beantworten. Der Reisende hat immer leichter schreiben als der, welcher zu Hause bleibt, doch will ich gern freundlich und ratend Ihnen auch aus der Ferne die Hand reichen. Übrigens vertraue ich Ihrem eignen Gefühle, ich bin gewiß, Sie werden nur schreiben, was ich lesen darf; Sie werden nie mich zwingen, einen Ihrer Briefe ganz unbeantwortet zu lassen oder wohl gar alle zuletzt uneröffnet zurücksenden zu müssen. Hippolit wird so das Gemüt der Frau nicht verwunden, die ihn so gern und freudig ihren Edelknaben nannte«, setzte Gabriele lächelnd unter Tränen hinzu, indem sie ihm freundlich die Hand reichte, um so den vielleicht zu streng erscheinenden Ernst zu mildern, mit welchem sie diesen Ausspruch tat.
Hippolits endlicher Abschied von der hochgeliebten Frau duldet keine Beschreibung. Schon in der nächsten Stunde saß er auf seinem prächtigen, stolzen Araber, denn er wollte nach seinen eignen und Gabrielens Wünschen die noch am nämlichen Abend von der Rothenburg zurückkehrende Gesellschaft vermeiden. Als er über den Schloßhof sprengte, sah er noch einmal zu Gabrielens Fenster auf; sie stand da und winkte ihm das letzte Lebewohl zu. Sein Herz zuckte, als wolle es brechen, da er sie erblickte. Er vermochte es nicht, ihren Gruß zu erwidern, sondern spornte sein edles Roß so, daß es hoch auf sich bäumte und dann, wie vom Sturmwind getrieben, mit ihm zum Schloßtor hinaus den steilen Felsweg hinunterflog. Die ihm am Tore nachsehenden Bedienten schrien alle vor Schrecken darüber laut auf; Gabriele lauschte bebend am Fenster, bis die Ruhe, mit welcher sie alle sich dem Schlosse zuwenden sah, sie überzeugte, daß jede Gefahr vorüber sei und kein Unfall ihren jungen Freund betroffen habe.
Dann wandte sie sich langsam vom Fenster ab, in stille Trauer und in wehmütiges Andenken versunken.
Sowohl Gabriele als Hippolit waren gleich bei der Ankunft auf der Rothenburg von der Gesellschaft vermißt worden, und obgleich Herr von Aarheim seine Gemahlin durch die ihr plötzlich zugestoßene Unpäßlichkeit sehr umständlich zu entschuldigen suchte, so fehlte es dennoch nicht an mannichfaltigen Mutmaßungen über den sonderbaren Zufall, der zugleich auch Hippolits Abwesenheit veranlaßt habe. Eugenia, mehr vielleicht aus Gewohnheit als aus böser Absicht, trug rechtlich dazu bei, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft solange als möglich mit diesem Problem zu beschäftigen; Moritz selbst ward zuletzt dadurch angeregt, doch da niemand in seinem Beisein ganz verständlich sich auszudrücken wagte, so begriff er nicht recht, was man eigentlich meinen mochte, und die ganze Geschichte machte keinen großen Eindruck auf ihn. Anders wurde es, als er wenig Stunden nach Hippolits Abreise wieder zu Hause angelangt war. Hier vernahm er, daß sein junger Freund, durch dringende Ursachen bestimmt, plötzlich nach Ungarn gereist sei, ohne sich vorher bei ihm zu beurlauben. Das halbverstandene Geflüster und Gezische auf der Rothenburg kam ihm wieder in den Sinn und brachte ihn jetzt auf den albernen Gedanken, seine Gemahlin könne aus wunderlicher Eifersucht den Augenblick benutzt haben, um den einzigen Menschen, dessen Gesellschaft ihn ergötzte, von ihm zu entfernen. So lächerlich diese Vermutung auch war, so ermangelte er doch nicht, Gabrielen deshalb anzuklagen und ihr dadurch manche böse Stunde zu machen.
Der Verlust Hippolits und die Verpflichtung, die Fräulein Schöneck wieder in die Arme ihrer Mutter zu geleiten, mußten ihm jetzt zum Vorwande dienen, die Rückreise nach der Residenz zu beschleunigen.
Ida und Bella gingen mit eben der fröhlichen Erwartung dem Geräusch der Stadt entgegen, mit der sie auf die romantische Einsamkeit der alten Burg sich gefreuet hatten. Mit nassem Auge und manchem unterdrückten Seufzer trennte sich Gabriele von dem geliebten Aufenthalte; Moritz hingegen vermaß sich hoch und teuer in seinem Herzen, die Schwelle des alten verwünschten Schlosses nie wieder zu betreten; er fand jedoch für gut, diesen Vorsatz nicht laut werden zu lassen.
Mit einem sehr unbehaglichen Gefühle, zu welchem die jetzige Gestaltung ihres häuslichen Verhältnisses nicht wenig beitragen mochte, betrat Gabriele in der Residenz abermals die gewohnte Bahn im geselligen Leben der großen Welt. Nie war ihr diese freudenarmer und uninteressanter erschienen und dennoch durfte sie ihr, um ihres Gemahls willen, nicht entsagen. Letzterer ward mit jedem Tage mürrischer und unleidlicher. Gegen die Freude an Gabrielens glänzender Erscheinung in der Welt hatte die Zeit ihn abgestumpft; er bildete sich nicht mehr ein, die Bewunderung, welche sie überall erregte, mit ihr zu teilen, und sein ewiges Ausposaunen ihrer Vortrefflichkeit quälte sie nicht, wie wohl ehemals. Dafür machte ihn aber die fürchterlichste Langeweile zum unerträglichsten Gesellschafter, bis er durch irgendeine schnell aufgefaßte Lieblingsidee wieder angeregt und in Tätigkeit gesetzt ward. Doch als er diese endlich am Spieltisch gefunden hatte, gewährte sie ihm nur neue Anreizung zum ärgerlichsten Mißmute. Sein Verlust an demselben konnte bei seinem großen Vermögen zwar nicht in Anschlag gebracht werden, aber leider bildete er sich ein, das Geheimnis erfunden zu haben, den Gang des Spiels im voraus aus mancherlei Nebenumständen berechnen zu können, und das öftere Mißlingen seiner mühsamen Kalkulationen versetzte ihn beinahe an jedem Abende in den allerwiderwärtigsten Humor.
Der Briefwechsel mit ihren entfernten Freunden gewährte Gabrielen wenig Erheiterung ihres jetzigen trüben Lebens. Ernesto ließ aus Italien selten von sich hören, und Frau von Willnangen mit ihrer Auguste waren selbst des Trostes bedürftig. Denn der General fand für gut, Adelberten noch immer entfernt zu halten, und beide Frauen führten auf dem Lande, in Sehnsucht und banger Erwartung, ein sehr einförmiges Leben. Gabriele hatte ihrer Freundin die Ereignisse nicht mitgeteilt, welche Hippolits Entfernung aus ihrer Nähe herbeiführten, denn sie achtete sich nicht berechtigt, das Geheimnis ihres Freundes ohne Not zu verraten. Indessen hatte sich doch eine Art Zwang in den Briefwechsel der Freundinnen durch dieses Verschweigen eingeschlichen, den beide fühlten, ohne sich ihn zu gestehen. Stille Trauer über den Jüngling, den sie gezwungen hinaus in die Verbannung gestoßen, waltete noch immer in Gabrielens Gemüt; überall vermißte sie ihn, und seine Briefe, eigentlich das Tagebuch seines Lebens, waren fast die einzige Unterbrechung ihres bis zum Überdruß einförmigen Umhertreibens mitten im Geräusche.
»Ich muß fort«, schrieb Hippolit Gabrielen, wenige Wochen nach seiner Ankunft im Vaterlande, »ich muß fort, ich halte es so nicht länger aus. Ruhe zu hoffen wäre lächerlich; so will ich denn Betäubung suchen. Betäubung anderer Art als mir die glänzenden Feste, die großen Jagdpartien geben, welche meine Verwandten mir zu Ehren hier anstellen. Wenn sich abends, von unzähligen Fackeln beleuchtet, unsere oft aus zwanzig und mehr Wagen bestehenden Karawanen von dem Schlosse eines Verwandten, wo wir einige Tage oder Wochen lang hausten, zu dem Gute eines andern begeben, wo wir uns wieder im nämlichen Kreise von Lustbarkeiten umherzutreiben gedenken, dann kommt mir unser Zug, dem die Landleute bewundernd nachstaunen, oft wie ein prächtiges Leichenbegängnis vor. Ich hörte einmal ein altes einfaches Lied singen, sein Anfang war:
›Mein Herz, das ist begraben, Tief und gar weit von hier‹ |
Mein Gedächtnis hat von dem Liede nichts aufbewahrt als diese wenigen Worte, aber ich kann sie nicht wieder loswerden. Oft möchte ich meine Verwunderung laut darüber ausdrücken, daß man soviel Umstände mit mir macht, um mich zu ergötzen, aber die guten Leute wissen nicht, daß es eben sowohl Scheinlebende als Scheintote gibt. Sie ahnen nicht, daß ich mit kalter, hohler Brust unter ihnen herumwandle, weil ich ohngefähr ebenso aussehe wie alle anderen Menschen, aber – ›Mein Herz, das ist begraben, tief und gar weit von hier!‹
Eine freudige Regung, einen Strahl jugendlichen Lebens, hat mir denn doch das Wiedersehen, oder ich sollte lieber sagen, das Wiederfinden, eines ehemaligen Jugendgefährten hier gewährt. Auf einer jener glänzenden Familienreisen führte unser Weg dicht neben dem Schlosse meines Oheims vorbei, dem ich als ein Unmündiger vom sterbenden Vater anvertraut ward und der mich zum Lohne dieses Vertrauens für einen der Familie aufgedrungenen Bastard erklären lassen wollte, um mein reiches Erbteil seinem eignen Sohne zuzuwenden. Seit einem halben Jahre ist der Oheim tot, aber ich mochte selbst den Ort nicht wiedersehen, wo er mit heuchlerischer Freundlichkeit mich umfing und mich Sohn nannte, während er im Herzen den Plan, mich zu verderben, umhertrug.
Sein Sohn, mein ehemaliger Spielgefährte, bewohnt jetzt das Gut, ich schlug indessen das Frühstück aus, das uns bei ihm erwartete, und bestand darauf, weiterzufahren. Ich mochte die Brut des heuchlerischen Alten nicht sehen, die durch meinen Raub hatte bereichert werden sollen, und äußerte dieses ganz unverhohlen. Heute früh stand Vetter Max vor mir in meinem eignen Zimmer, ehe ich mich dessen versah, und bot mir die Hand zur Versöhnung. Ein einziger Blick in sein ehrliches, treuherziges Gesicht entwaffnete mich, und nun höre und sehe ich zu meiner unsäglichen Beschämung, was Max alles für mich getan hat. Selbst mit Vernachlässigung seiner eigenen Geschäfte, hat er Tag und Nacht nur dahin getrachtet, die Ordnung auf meinen Gütern wiederherzustellen; und daß ich, unerachtet der sinnlosen Verschwendung meiner frühern Jugend, dennoch jetzt weit reicher bin, als ich es je zu sein glaubte, verdanke ich einzig ihm.
›Schweigt davon nur ganz stille‹, antwortete mir der gute Max, als ich meinem Danke Worte geben wollte, ›ich tat wohl etwas um Euch, mehr aber noch um des Vaters willen. Ich meine, wenn ich jetzt gutzumachen versuche, was er schlecht machen wollte, so soll das seiner armen Seele vielleicht besser frommen als etliche Dutzend Seelenmessen, die wir indessen auch nicht versäumen. Euch aber, Vetter! Wenn ich Euch wirklich einen Gefallen tat, bitte ich übrigens, da ihr doch meines Vaters nicht im Guten gedenken könnt, so tut mir die Liebe und denkt gar nicht an ihn. Er war doch mein Vater und hatte mich lieb, zu lieb; und das mag leicht sein größter Fehler gewesen sein.‹
Morgen soll ich ganz allein mit Max herüberreiten, seine Frau und sein Kind zu sehen, er ist einige Jahre älter als ich und schon Hausvater.«
Am Abend des folgenden Tages
»Maxens Kind heißt Gabriele. ›Gabriele‹, rief ich, ›Gabriele!‹ und riß das kleine zweijährige Mädchen vom Arme der Mutter, sowie sie es mir genannt hatte. Ich konnte es nicht lassen, ich bedeckte es mit tausend glühenden Küssen, es streckte die Ärmchen nach mir aus, es lächelte mich an, es wollte mich liebkosen und ich – Nein, ich darf in diesem Momente nicht weiter schreiben – Gabriele! Gabriele! Welch ein Zauber liegt in diesem Namen! Er ruft den Himmel und die Hölle in meinem Busen wach.«
Einige Wochen später geschrieben
»Max ruhte nicht, ich mußte ihm hieher folgen, zum uralten hochgetürmten Sitze meiner Ahnen, am Fuße der Karpaten. Er meinte: wo ich eigentlich zu Hause sei und hingehöre, müsse doch endlich jener Trübsinn weichen, der in meiner Nähe sogar ihn, den immer Lebensfrohen, wie ein böser Geist ergreift und ihn oft so seltsam beängstigt, daß er das Vorgefühl einer nahen schweren Krankheit zu empfinden glaubt. Und dennoch will der gute treue Freund nicht von mir lassen; mag er denn immerhin meinen einstweiligen Aufenthalt wählen; ich bin froh, dieser Mühe überhoben zu sein, ich gebe mich seiner Leitung hin, um so lieber, da ich, mit ihm allein, endlich einmal freier atmen kann.
Ehegestern langten wir ziemlich spät gegen Abend hier an. Aus Hütten und Bauerhöfen strömte jung und alt uns schon auf dem Wege entgegen mit Kränzen, mit grünen Zweigen und endlosen gutgemeinten lateinischen Reden. Hörner und Trompeten lärmten dazwischen und der Widerhall aus den nahen Bergen sandte uns das lustige Losknallen der Feuergewehre, zum fernen Donner umgewandelt, zurück.
Max suchte mit seelenvergnügter Erwartung, Freude über seine wohlgetroffenen Anstalten in meinen Augen zu lesen, während die trostloseste Erinnerung an unsern Einzug in Schloß Aarheim mir das Herz zerriß.
An unsern Einzug! Gabriele, an unsern! Wie war es möglich, daß dieser Ausdruck jetzt mir entschlüpfen konnte? Unser! Die Seligkeit des Himmels umfaßte sonst für mich dieses kleine Wort, ich suchte tausendfältige Gelegenheit, es auszusprechen. Jetzt ist's damit vorbei! Ich darf ja mit Gabrielen nichts mehr gemein haben als das Tageslicht. Doch still davon.
Ich stand denn ehegestern eine ziemliche Weile unter den hohen Bäumen vor dem Schlosse und war himmelweit von allen jenen Regungen entfernt, die Max in mir zu wecken gehofft hatte. Noch nie hatte ich so verwaist mich gefühlt als eben hier, in dem von meinen Vätern mir vererbten Eigentume; noch nie war es mir so schwer aufs Herz gefallen, wie ich doch nirgend und zu niemanden mehr hingehöre, seit der Stern meines Lebens mir nicht mehr leuchtet.
Alle diese Menschen blicken hoffend zu mir auf, alle dünken sich zu mir zu gehören, sie sind bereit, ihr Wünschen und Klagen und Bitten mir zu vertrauen, und ich will gern geben, was ich kann; doch das, was sie eigentlich und mit Recht von mir fordern, vermag ich doch nicht, ihnen zu gewähren. Ich stehe, in Sitte, Kleidung und Sprache ein Fremder, in meinem Vaterlande mitten unter meinem Volke.
Warum ließ mein Vater den mutterlosen Knaben nicht hier aufwachsen, in diesen alten Mauern, unter diesen Menschen, die so große Ansprüche an ihn haben? Ich wäre dann einfachen Sinnes und doch treu und brav wie mein Vetter Max; ich nähme wie er das Leben arglos hin, ohne große Ansprüche, wie es gerade käme. Es stände dann gewiß viel besser um meine Ruhe, und doch ergreift mich ein Schauder, wenn ich es mir recht ausmale, wie es mit mir sein könnte, wenn Gabriele mir nicht erschienen wäre, wenn Kunst, Wissen und jeder verfeinerte Schmuck des Lebens für mich gar nicht existierten, wenn ich, versunken in farblose Apathie, so hinlebte von einem Tage zum andern und die Jahre über mir hinrollten, ohne daß ich es anders als an meinen ergrauenden Haaren gewahr würde. Nein! Nein! Ich will fühlen, daß ich bin, sei es auch nur durch den Schmerz! Doch zurück zu meiner Erzählung unsrer Ankunft. Sie wollen ja, ich soll erzählen.
Immer peinlicher ward das beängstigende Gefühl, das unter meinen jubelnden Untertanen mich ergriffen hatte. Immer unmöglicher ward es mir, ihrer Freude, die mit jedem Augenblicke lauter sich aussprach, wenigstens auf halbem Wege zu begegnen. Ich weiß, was ich gesollt hätte; ich fühlte recht gut, welche Erwiderung die rührende Anhänglichkeit dieser Menschen, wenn auch nur an meinen durch die Zeit ihnen heilig gewordenen Namen von mir fordern durfte, und doch fürchte ich, teure Gabriele, ich fürchte, ich habe mich nicht benommen, wie ich sollte. Ich konnte es nicht; weder mich zu freuen noch Freude zu heucheln vermag ich, und so kam es denn wohl nicht ohne mein Zutun, daß das muntere Getöse um mich her allmählich verstummte. Alles begann nach und nach sich mit scheuem Blick, mit unsicherm Verneigen aus meiner Nähe zurückzuziehen und endlich sich zu zerstreuen, ehe noch völlige Dämmerung eintrat.
Max hat recht ernstlich mein Benehmen getadelt; ich stand beschämt vor ihm und wußte zuletzt nur körperliches Übelbefinden zu meiner Entschuldigung anzuführen. Er meint es so gut, und obgleich er mich oft eigensinnig schilt, ist doch sein Herz voll Mitleid mit mir; aber wie könnte er je Wunden schonend behandeln, deren Möglichkeit er nie begreifen wird. Ich bat ihn also nur, bei einem Feste, das ich allen meinen Untertanen zu geben willens bin, mich als Wirt zu vertreten. Dies stellte die treue Seele völlig zufrieden, nur mußte ich ihm noch versprechen, dabei zu erscheinen, sei es auch nur auf wenige Minuten.
Morgen also. Von Morgen an wird laute Freude drei Tage lang unten durch die weiten Hallen meiner Burg tosend dröhnen. Für mich hoffe ich indessen ein stilles Plätzchen zu finden, wohin kein Ton von dorther dringen kann, wo ich allein sein mag mit meinen lieben Gedanken an ehemals, an Gabrielen.
Sie tanzen, sie singen, sie lachen; wie das ferne Brausen des Meeres tönt es selbst zu dem kleinen runden Eckturm herüber, in welchen ich mich vor alle dem Lärmen geflüchtet habe. Ist das Freude? Die ungebändigste Lustigkeit eines Bauerngelages sowie die ausgesuchtesten Feste der vornehmen Welt, was sind sie im Grunde anders als Schlachtmusik, die der arme Mensch sich macht, um nur nicht zu sehen und zu hören, wie der vernichtende Arm der Zeit die Sichel führt?
Schon beim ersten Eintritt in dieses Schloß kam alles so bekannt mir vor. Das altmodisch gestickte goldene Laubwerk auf den schweren rotsamtnen Gardinen meines Bettes, die vergoldeten Löwenköpfe, welche meinen Schreibtisch tragen, die hohen geschnitzten Stühle, die kolossalen unbeweglichen Tische. Mir war, als hätte ich vor langer Zeit das alles schon gesehen und doch hatte ich dieses Schloß kaum jemals nennen gehört; mein Vater besuchte es nie, solange ich denken konnte, obgleich es unser Stammhaus ist. Von Unruhe getrieben, durchzog ich heute die lange Reihe unbewohnter Zimmer, die noch in ihrer altertümlichen verbleichenden Pracht genauso schon vor hundert Jahren dastehen. Ein großer Saal am Ende derselben hielt mich endlich fest. Von seinen Wänden schienen die Bilder meiner Vorfahren aus ihren breiten kunstreich geschnitzten Rahmen auf mich, den letzten trüben Sohn ihres Stammes, mitleidig herabzublicken, und ich betrachtete sie der Reihe nach. Zuletzt stand ich beim Bilde meines Vaters still, sein trauriges Alter und die Tage meiner, nicht freudiger bei ihm verlebten Kindheit traten mir vor die Seele. Ich versank in immer tieferes Sinnen, so, daß ich über die Stimme des alten Kastellans wirklich zusammenfuhr, der von mir unbemerkt hereingetreten war.
Er ist ein alter, fast kindischer Greis, der hier, wo er sein ganzes Leben hinbrachte, in spielender Geschäftigkeit den Tod erwartet. Mit der Redseligkeit des Alters begann er, mir die Geschichte aller Feste und großen Jagden, welche er zu meines Großvaters Zeiten hier erlebt hatte, herzuerzählen, bis ich, um ihn zu unterbrechen, nach einem Bilde fragte, von dessen Existenz der leere Raum neben dem meines Vaters zeugte und das augenscheinlich aus der Reihe weggenommen war. Der Alte wiegte bedächtig das schneeweiße Haupt, ›ich habs gerettet‹, flüsterte er mir endlich zu und öffnete dann eine verborgene Tapetentüre in einer Ecke des Saals. Beklemmend schlug mir die schwüle eingeschlossene Luft des wohl seit vielen Jahren nicht geöffneten dunkeln Zimmers entgegen, doch trat ich hinein, eigentlich ohne Neugier und ohne zu wissen warum. Der Alte öffnete die Fensterladen und ich sah mich in dem Kabinette einer Dame aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Auf dem mit Spitzen auf verblichener rosenfarbener Seide umkleideten Nachttische schimmerten noch die silbernen mit getriebener Arbeit gezierten Putzkästchen; ein dicht zugezogener Schleier von altmodischen Spitzen verhüllte den kleinen ebenfalls in silberne Schnörkel eingefaßten Spiegel und seitwärts stand eine reich mit Perlmutter und Elfenbein geschmückte Wiege, auf deren seidener Decke wohl längst zerfallene Hände mit mühsamer Kunst eine Grafenkrone gestickt hatten.
In ganz eigner Bewegung betrachtete ich die kleine Schlafstätte und die prunkenden Anstalten, welche Mutterliebe und Eitelkeit zum Empfange des hülflosen kleinen Erdenbürgers hier getroffen hatten, den das Schicksal späterhin wohl schwerlich wieder so weich gebettet haben wird, ehe er zu jener Ruhestätte gelangte, die der spanische Dichter die zweite umgekehrte Wiege nennt, und die uns noch tiefern ruhigern Schlaf verheißt. Der Alte machte mich jetzt auf das über der Wiege hängende Bild einer jugendlich schönen Frau aufmerksam. Sie lächelte mit so bekannten Zügen mich an, daß ich den Blick nicht wieder zu wenden vermochte. Plötzlich fiel es wie ein Schleier mir von den Augen, ich stand vor dem Bilde meiner Mutter, ich erkannte dies Kabinett, in welchem ich, ein glückliches Kind, bis in mein fünftes Jahr neben ihrem dicht daranstoßenden Zimmer gewohnt habe. Ich bin in diesem Schlosse geboren, teure Gabriele, ich wußte es nur nicht, aber der Greis sagte es mir jetzt. Es war meine Wiege, an der ich stand, in der auch mein Vater, vielleicht mein Großvater einst ruhten; denn seit einem Jahrhundert wenigstens ist hier nichts verändert worden. Die Morgensonne meines Lebens ging mir plötzlich wieder auf und leuchtete um mich her, so klar, daß ich alles, was mich umgab, in ihrem rosigen Abglanz wieder erkannte. Ich blickte auf zum Bilde meiner Mutter, in ihren Augen schienen mir jetzt Tränen zu glänzen wie in jener Nacht, da ich, halb erweckt von ihren heißen Küssen, sie weinen sah und mit ihr weinend, wieder einschlief. Am Morgen nach dieser Nacht, erwachte ich das erstemal zum Schmerz der Trennung, der bängsten Sehnsucht nach einem geliebten entschwundenen Wesen.
Die Fenster des Kabinetts gehen in einen kleinen Nebenhof; ich erkannte jetzt auch in ihm die Stelle, wo vor beinahe zwanzig Jahren der Wagen hielt, in welchen ich von ganz fremden Leuten getragen ward und dann still weinend und, bänglich neben dem ernsten schweigenden Vater sitzend, von allen Freuden meiner Kindheit Abschied nahm. Ich habe seit jener Nacht meine Mutter nicht wieder gesehen, nie hat man wieder mit mir von ihr gesprochen, und die unglückliche Ursache unsrer Trennung ist mir nie recht deutlich geworden. Ich weinte lange der Mutter nach, endlich vergaß ich sie doch nach Kinderart. Die Liebe blieb aber dennoch in meinem Herzen und hielt ihr Bild darin fest; darum erkannte ich es in dem Gemälde gleich wieder, sowie dieses mir vor die Augen trat. Es ist das einzige, was von ihr übrig ist. Dank sei es dem alten treuen Kastellan, der es heimlich gerettet. Alle andere sie darstellenden Gemälde, die sich im Schlosse befanden, wurden nach der Entdeckung ihrer Flucht von uns auf Befehl meines erzürnten Vaters verbrannt. Der Unglückliche! Das eine Bild in seinem Herzen vermochte er doch nicht zu vertilgen, das wie ein unheilbringender Dämon ihn überall hin verfolgte, alle seine Tage trübte, ihn in Lebenshaß und Bitterkeit erstarren ließ. War es Schuld meiner Mutter oder ihr Unstern, der hier vorwaltete? Fern von mir sei es, hierüber forschen zu wollen. Sie hat mich einst geliebt, sie hat um mich geweint, dies genügt meinem Herzen. Ich beziehe noch heut mein ehemaliges Kabinett, vielleicht senkt in der Wohnung meiner harmlosen Kindheit sich mir ein Strahl ehemaligen Friedens wieder in das wunde Herz.
Es ist vergebens. Auch hier, wo ich zuerst atmete, wohnt für mich keine Ruhe! Gabriele, hörten Sie je das Märchen von jenem Unglückseligen erzählen, der seit langen Jahrhunderten rastlos umherwandert, ohne den Tod zu finden; von den Menschen geflohen, in deren Mitte auch ihm grimmiges Schauern erkältend bis tief in das innerste Herz dringt und dem müden Fuße keine Ruhestätte gönnt? Ich dachte lange nicht mehr daran, aber hier in diesem Zimmer, wo ich als Kind mit ängstlichem Behagen daraufhorchte und es mir immer wieder und wieder erzählen ließ, hier fällt es mir oft recht grausenhaft ein. Von jeher dünkte mir das Geschick dieses Rastlosen ganz über allen Ausdruck entsetzlich und nun wandre auch ich so ohne Ruhe und Rast, und wohin ich mich wende, verstöre auch ich jedes glückliche Geschöpf. Lachen und Freude verstummen im Dorfe, sowie ich mich zeige; meine Bedienten schleichen leise wie Gespenster um mich her, wenn ihr Dienst oder der Zufall sie in meine Nähe bringt; die alten Leute, welche meinen Großvater, der stets hier gewohnt, noch gekannt haben, sehen meiner bleichen trüben Gestalt bedenklich nach und flüstern einander mitleidige Bemerkungen oder abenteuerliche Vermutungen über mich zu, wenn sie bei meinen einsamen Spaziergängen mir begegnen. Glauben Sie mir es, Gabriele, ich möchte gern Ihrem Willen folgen, ich möchte mich wenigstens zwingen, auszusehen, als nähme ich das Leben wie andre Leute tun; doch kann ich dafür, daß alles, was ich ergreifen müßte, um zu sein wie jene mir so schal, so abgeschmackt vorkommt?
Jede Not und jede Freude, jede Tugend und jedes Vergehen der Bewohner meiner Herrschaft während der ganzen Zeit, daß diese mein ist, möchte Max mir jetzt ans Herz legen, und quält mich dabei unaufhörlich, zu entscheiden, ob ich mit dieser oder jener seiner Einrichtungen zufrieden sei. Dazu wimmelt das Schloß von Nachbarn und Verwandten, die Max zwar allein besucht hat, weil er mit aller freundlichen Gewalt, die er über mich übt, es doch nicht vermochte, mich mit sich zehn Meilen in die Runde umher zu schleppen. Doch da er mein Hiersein nicht verschweigen konnte, so hat er mein Nichtkommen durch den üblen Zustand meiner Gesundheit zu entschuldigen versucht und nun strömt alles in freundlicher Teilnahme herbei, den Kranken zu besuchen. Fremde, nie gesehene Gestalten umschwärmen mich, deren Namen ich zu meiner großen Beschämung alle Augenblicke verwechsele und die doch durch Bande der Verwandtschaft oder des früheren nahen Umgangs mit meinen Eltern, bedeutende Ansprüche an mein Vertrauen und meine Zeit zu haben glauben. Nein, wenn es denn so sein muß, wenn ich denn im Geräusche leben soll, so will ich es doch lieber in einer großen lebensreichen Stadt, wo ich mitten im Getümmel mit meinem tiefen Herzeleid einsam und unbeachtet dastehen kann, und niemand fragt: Was fehlt dir? Warum blickst du so trübe? Ich folge den Einladungen meiner Verwandten, ich ziehe mit ihnen in ihren gewohnten Winteraufenthalt. – Und wenn ich nun dort sein werde, was denn?«