Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Am Abend des zweiten Tages der Reise langten unsre Wandrer ziemlich früh in dem ihnen vom Baron bestimmten Nachtquartiere an; es war das letzte unterwegs, denn sie gedachten am folgenden Tage noch bei guter Zeit den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen. Der Wagen hielt vor der Türe eines großen ansehnlichen Gasthofes, mitten auf dem gewühlvollen Marktplatz der ersten bedeutenden Stadt, welche Gabriele sah. Viele Fremde füllten die Fenster des Hauses und betrachteten mit und ohne Brille neugierig die Aussteigenden. Diesen kam der auf ihre Ankunft vorbereitete sehr elegante Gastwirt höflich entgegen. Alles war Gabrielen neu und beängstigte sie nicht wenig, sie eilte durch die Schar der zu ihrem Empfang geschäftig hin- und herlaufenden Aufwärter und war herzlich froh, so schnell als möglich in das für sie bereitete Zimmer flüchten zu können. Dort fühlte sie sich vor allen den vielen Augen gerettet und blickte mit Wohlgefallen aus dem Fenster auf das ihr ganz neue Schauspiel der Kutschen und geputzten Leute, die dem nahen Theater zuwogten.

Lautes Lachen dicht unter ihrem Fenster machte sie aufmerksam; sie sah eine Menge Zuschauer um einen sehr schönen Reisewagen vor der Türe des Gasthofes versammelt, aus welchem eben zu Gabrielens Verwunderung ein altes Mütterchen in der ärmlichsten Bauerntracht gebückt und mühsam herauskletterte. Ein junger Mann von vornehmen Ansehen unterstützte sie mit seinem Bedienten und geleitete sie mit großer Sorgfalt in das Haus, ohne sich durch die lauten Anmerkungen der Umstehenden im mindesten dabei stören zu lassen.

»Da hat uns der Herr Graf einen angenehmen Gast mitgebracht, Herr Lorenz!« hörte Gabriele den Kellner zu dem eben wieder hinaustretenden Kammerdiener des Fremden sagen, »die Alte sieht ja aus, als wäre ihr die Ofengabel unterwegs scheu geworden und habe sie abgeworfen.« – »Viel anders wird es auch wohl nicht sein«, erwiderte Herr Lorenz sehr verdrüßlich, »wir fanden sie im Chausseegraben, und denken Sie nur«, fuhr er fort, »ich mußte wegen des häßlichen Ungetüms aus dem Wagen und auf den Kutschbock neben den Jäger mich setzen.« – »Unerhört!« rief der Kellner mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens. »Ach was unerhört!« antwortete Herr Lorenz noch verdrüßlicher, »mein Herr macht mir alle Tage ähnliche Streiche, und am Ende fällt der Schimpf immer auf mich, wenn wir so wie heute vor den Leuten zum Spektakel werden, denn ihm ist das einerlei.« – »Hören Sie, lieber Herr Lorenz«, sprach beschwichtigend der eben hinaustretende Wirt, »das verstehen Sie nur nicht recht, der Herr Graf machen den Spleen mit, das ist jetzt unter den jungen Herrn eine ganz neue Mode aus England.«

Gabriele mochte nichts weiter hören, sie wandte sich vom Fenster, konnte aber das kleine Abenteuer den ganzen übrigen Abend nicht vergessen. Der Wunsch, von der wunderlichen Reisegesellschaft mehr zu erfahren, überwand zuletzt die Furcht, in dem fremden Hause allein im Zimmer zu bleiben, und Frau Dalling mußte sich entschließen, ihrem Bitten nachzugeben und auf Erkundigung hinunterzugehen. Der Name des Fremden war der Wirtin unbekannt, obgleich er schon einigemal ihr Haus besucht hatte. Übrigens hörte Frau Dalling erzählen, daß der Fremde wirklich die arme Frau unterwegs halb ohnmächtig im Chauseegraben liegend gefunden und sie zu sich in den Wagen genommen habe, weil sie nicht weitergehen konnte und sich auf dem hohen Kutschersitz nicht festzuhalten vermochte. Die gute Alte war vor wenigen Wochen durch den Tod ihrer Tochter ihrer einzigen Stütze beraubt und wollte jetzt nach Böhmen zu ihrem dort ansässigen Sohne. Mühselig hatte sie sich viele lange Tage auf dem Wege dahin fortgeschleppt, bis sie vor Ermattung nicht weiter konnte, und ohne den Beistand des Fremden wäre ihr wahrscheinlich in der kalten Herbstnacht der Tod geworden. Jetzt war ihr geholfen; der Fremde hatte nicht nur für ihre augenblickliche Erquickung gesorgt, sondern sie auch so reichlich beschenkt, daß sie den Rest des Weges fahren konnte, ohne deshalb mit ganz leeren Händen bei ihrem Sohne anzulangen.

Die halbe Nacht hindurch mußte Gabriele an den Unbekannten und seine menschenfreundliche Handlung denken, sie träumte sogar von nichts anderem. Nicht die Tat selbst war es, was sie in Bewunderung versetzte, diese kam ihr gar nicht außerordentlich vor, denn oft hatte sie ihre Mutter Ähnliches üben gesehen, wohl aber, daß ein Mann solchen zarten Mitleids, solcher tätigen Teilnahme an fremden Leiden fähig sei. Dieses feinere Gefühl hatte sie bis jetzt einzig für das Eigentum der Frauen gehalten; sie kannte keinen Mann außer ihrem Vater, dessen in Erbitterung erstarrtes Gemüt bei jedem ähnlichen Anlasse nur zu deutlich sich aussprach. Mehr oder weniger ihm ähnlich dachte sie sich fast alle Männer im wirklichen Leben, und Auguste hatte absichtlich diese Meinung unangefochten gelassen.

Kein Wunder war es demnach, daß der Unbekannte Gabrielen wie eine seltene Erscheinung aus einer anderen Welt vorschwebte. Gern hätte sie wenigstens die Züge seines Gesichts deutlich gesehen; obgleich sie aber am andern Morgen weit früher als Frau Dalling erwachte und vom Geräusch Abreisender sich an das Fenster locken ließ, so sah sie doch nur seine Gestalt, als er in den Wagen stieg und hörte seine Stimme, indem er der alten Frau noch einige freundliche Abschiedsworte zurief. Etwas ungeduldiger als gewöhnlich fing Gabriele nun an, ihre eigne Abreise zu betreiben, im Wagen beschäftigte sie nur der Unbekannte, sie bildete sich tausend Möglichkeiten, ihn im Hause der Tante anzutreffen, sie dachte sich allerlei Verhältnisse, in welche sie mit ihm geraten könnte und sprach so lange mit ihrer Reisegefährtin von nichts anderem, bis sie selbst über ihre kindische Einbildung lächelnd ausrief: »Was denke ich weiter an ihn, er ist jetzt fern von hier und ich sehe ihn in meinem Leben nicht wieder.« Aber in ihrem Herzen behauptete eine dem Wunsch sehr gleichende Ahnung das Gegenteil und diese traf früher ein, als sie hoffen konnte, denn der Fremde war Ottokar.

 

Ein ungeheures Lärmen im Hause erweckte Gabrielen am ersten Morgen in ihrem neuen Aufenthalt. Türen wurden auf- und zugeschlagen, Treppen und Vorsäle dröhnten von den Tritten der hin- und herlaufenden Bedienten und Handwerker, es war ein Hämmern, ein Fluchen, ein Rufen und Schelten, als sei eine feindliche Armee eingerückt und das Haus dem Abendfeste zu Ehren in völligem Aufruhr.

Gabriele schmiegte sich vor dem ungewohnten Getöse wie ein schüchternes Vögelchen in eine Ecke, bis die Stunde schlug, in der sie der Tante ihren Morgenbesuch abstatten mußte. Mit Erstaunen begegnete sie auf der Treppe dem wohlbekannten Herrn Lorenz, schwer belastet mit einem Korbe voll der auserlesensten Blumen. Seine Erscheinung freute sie als ein Beweis, daß sie nicht irrte, indem sie in Ottokar den Unbekannten aus dem Gasthofe wiederzufinden glaubte. Aber als sie weiterhin ihn selbst durch die halb geöffnete Türe eines Zimmers erblickte und dadurch die Gewißheit erhielt, mit ihm in einem Hause zu leben, ihn alle Tage zu sehen und zu hören, da bemächtigte sich ihrer ein freudig-ängstliches Gefühl. Es war ein Glück für sie, daß die Gräfin, zu beschäftigt mit Anordnungen für den Abend, Gabrielens Eintritt kaum bemerkte und noch weniger ihr höchst befangnes Wesen. Kurz, aber freundlich entließ die Tante sie gleich in der ersten Minute und gab ihr nur noch die Weisung mit auf den Weg, sich zu Aurelien zu begeben, die sie in ihrem Zimmer finden würde, umringt von Freundinnen, welche heut miteinander in Geschenken zu ihrem zwanzigsten Geburtstage wetteiferten.

Den Geburtstag hatte die arme Gabriele ganz vergessen, und ein Geschenk für die gefürchtete Cousine setzte sie in die höchste Verlegenheit. Sie eilte zurück in ihr Zimmer, ergriff ohne große Wahl eine ihrer besten Zeichnungen und betrat damit atemlos die Schwelle des zierlichen Zimmers, in welchem Aurelia in frischer, einfacher Morgentracht, schön wie der junge Tag, vor einem großen Tische stand, auf dem alles ausgebreitet lag, was die Mode in unsern Tagen Köstliches und Elegantes zum Schmuck der Jugend erfand. Eine Schar junger Mädchen half ihr alle die Geschenke bewundern, mustern und ordnen; mitten unter ihnen stand Ottokar mit sichtbarer Freude an dem jugendlichen Wesen und Treiben. Die seltensten, schönsten Blumen aller Jahreszeiten und Zonen blüheten und dufteten an Wänden und Fenstern; Gabriele erkannte sie auf den ersten Blick für die nämlichen, welche Lorenz vorhin an ihr vorüber trug.

»Da kommt unser kleiner Eigensinn von gestern abend«, rief Aurelie, als sie Gabrielen erblickte, und trat freundlich der Verlegnen entgegen, die es kaum wagen mochte, ihr bescheidenes Geschenk neben allen jenen Herrlichkeiten zu zeigen. »Das ist ja leibhaftig die Gespensterburg deines Vaters«, fuhr Aurelia fort, indem sie die Zeichnung besah; »so nimmt sie sich vortrefflich aus, aber behüte mich der Himmel davor, sie in der Wirklichkeit wiederzusehen! Gemalt sind die alten Schlösser ganz allerliebst; auch auf dem Theater oder in Romanen mag ich sie wohl leiden, besonders wenn ganz erschrecklich wundersame Begebenheiten sich darin zutragen; aber sitzt man selbst in solch einem alten Neste und lebt so allein fort, ohne etwas zu erleben, dann täte man besser, vor Graun und Langeweile zu sterben. Ich wundre mich wirklich, daß ich während der zwei Tage im Schloß Aarheim noch mit dem Leben davonkam. Es ist eine betrübte Existenz; danke Gott, liebes Kind, daß du ihr entronnen und bei uns bist, du wärst dort auch so eine Art von Käuzlein in den krausen alten Türmen geworden; Anlagen hast du dazu«, sprach sie lächelnd, indem sie Gabrielen umarmte und sie dann allen ihren gegenwärtigen Freundinnen der Reihe nach vorstellte.

Die Menge der Namen rauschte an Gabrielens Ohr vorüber, ohne daß sie einen zu fassen vermochte; nur fiel es ihr auf, daß auch die Gräfin Eugenia sich unter den Glück wünschenden Freundinnen befand. Diese hier zu sehen, hätte sie nach der Szene des gestrigen Abends nicht erwartet, noch weniger in so anscheinend vertrautem Verhältnis mit Aurelien. Alle die jungen Damen waren gegen Gabrielen sehr zuvorkommend freundlich; aber diese blieb verlegen, sie haßte sich selbst in diesem Moment wegen ihrer Unbehülflichkeit, die sie doch nicht abzuwerfen vermochte. Ihre Bänglichkeit stieg mit jeder Minute, denn sie sah, daß Ottokar ihre Zeichnung aufmerksam betrachtete; und als er nun vollends die geistreich kühne und dennoch vollendete Ausführung derselben lobte und sich mit der Frage nach dem Namen des Künstlers an sie wendete, da konnte Gabriele vor gewaltigem Herzklopfen kaum ihre eigene Antwort hören, daß sie selbst unter Anleitung ihrer Mutter sie gezeichnet habe. Er sprach noch einige lobende Worte und verließ bald darauf die Gesellschaft.

Gabriele langte bei ihrer Dalling mit dem Gefühl an, als sei eine höchst wichtige Begebenheit vorgefallen, etwas ganz Unerhörtes geschehen, das sie der einzigen kundtun müsse, die noch in der Welt teil an ihrem Schicksal nahm; und dennoch wußte sie nichts zu sagen, was sich nicht in der Erzählung höchst gewöhnlich ausgenommen hätte. Eine nie gefühlte Unruhe trieb sie rastlos umher. Wenn sie ihres ungeschickten Benehmens gegen Aureliens Freundinnen gedachte, wenn sie sich erinnerte, wie jene, von ihrem Äußern und ihrem Betragen irre geführt, sie wie ein Kind behandelt hatten, dem man freundlich tut, damit es nur nicht weine; dann verging sie fast in der fürchterlichen Qual, sich ihrer selbst zu schämen, denn sie konnte es sich nicht verhehlen, daß sie größtenteils durch eigene Schuld in diesem Lichte erschienen war. Ottokars Lob ihrer Zeichnung vermochte nicht, sie zu trösten; sie glaubte eine Spur ungläubigen Lächelns an ihm bemerkt zu haben, da sie sich selbst nannte, als er nach dem Namen des Künstlers gefragt hatte, und dies kränkte sie noch tiefer als alles übrige. Frau Dalling selbst war in diesem Moment über die auf den folgenden Morgen bestimmte Trennung von dem Liebling ihres Herzens zu betrübt, als daß sie fähig gewesen wäre, Gabrielen Trost und Mut einzusprechen; sie verstand sogar den Kummer und das beklommene, unruhige Wesen derselben nicht, sondern schrieb alles dem Gefühl zu, von dem sie selbst niedergebeugt ward. Und so wußte die gute Frau nichts Besseres zu tun, als Gabrielen recht mütterlich in ihre Arme zu schließen und herzlich mit ihr zu weinen, da diese, von innerm Weh überwunden, zuletzt in heiße, bittre Tränen ausbrach.

Gabriele errang auch diesmal ihre gewohnte Fassung zuerst wieder. »Ich will nicht mehr weinen«, sprach sie, trocknete ihre Augen und richtete sich hoch auf. »Laß mich jetzt von dir Abschied nehmen, liebe Dalling«, setzte sie hinzu, »jetzt in dieser ruhigen Stunde, nicht heute abend, wenn ich erschöpft aus der Gesellschaft komme, nicht morgen früh im Geräusch des Einpackens und der Abreise. Du gehest mit Tagesanbruch von mir, geleite dich Gott, du meine einzige Freundin in dieser Welt, grüße meine Berge, meine Bäume, meine Blumen; ich war unter ihnen sehr glücklich, aber auch hier werde ich nicht unglücklich sein; der Gedanke an meine Mutter wird mich vor Unrecht behüten, und alles andre ist zu ertragen. Noch bin ich hier fremd, noch ist mir alles ungewohnt, und der Abstand zwischen Jetzt und Ehemals ist sehr groß; aber ich werde mich eingewöhnen und lernen, was mir noch fehlt, um in diesen neuen Verhältnissen mich zurechtzufinden. Mein Vater schickte mich her, um mich für die Welt zu bilden; sage ihm, daß ich ihm gehorsam sein und alles tun werde, seinen Wunsch zu erfüllen, soviel ich es vermag. Und nun nimm meinen Dank für deine unaussprechliche Liebe und Treue. Sehnen werde ich mich immer nach dir, aber glaube nur, ich weiß es, ich finde auch hier ein Wesen, das ich lieben kann, und bin dann glücklich; laß dies nochmals dir zum Troste gesagt sein, wenn du im Schloß Aarheim sorgend meiner gedenkst.«

 

Bei aller ihrer mühsam errungenen Fassung sah Gabriele dennoch mit Zittern der Stunde entgegen, in welcher sie sich am Abend zur Gesellschaft begeben mußte; sie fürchtete neue Verlegenheiten, neue Demütigungen, ohnerachtet sie sich fest vorgenommen hatte, ihre scheue Blödigkeit soviel möglich zu besiegen. Kein Zureden Aureliens und ihrer Kammerjungfern, sogar nicht das Zürnen der Tante hatten sie bewegen können, in ihrer, die tiefste Trauer bezeichnenden Kleidung etwas abzuändern. Selbst dem Bitten ihrer lieben Frau Dalling hatte sie widerstanden, die durch die Wichtigkeit, welche man der Sache gab, in ihrer eignen Ansicht wankend geworden war. »So geh denn, eigensinniges Kind!« entschied endlich die Tante, des Streitens müde, »geh wie du willst und verdanke dir es selbst, wenn du ausgelacht wirst.«

Die vielen Lichter, die emsig hin- und herlaufenden Diener, die glänzende Versammlung in der langen Reihe prächtig dekorierter Zimmer erregten in Gabrielen jene Art Bangigkeit, welche wohl einen jeden beim ersten Eintritt in die Welt ergreift, selbst wenn er auch nicht so klösterlich aufwuchs wie sie. Gibt es doch viele in der Gesellschaft, selbst aus den höhern Ständen, denen dies Gefühl zeitlebens bleibt; die für abstoßend stolz gelten, während sie nur verlegen sind. Wenige von den Gegenwärtigen bemerkten Gabrielens Eintritt in den Saal, aber diese wenigen staunten beim Anblick des bleichen, der Kindheit kaum entwachsenen Mädchens im langen schwarzwollnen Trauerkleide, dem tief hinunter wallenden Kreppschleier, mit der breiten, die Stirne bedeckenden Schneppe, unter der sich nur einige ihrer wie Gold glänzenden reichen Locken hervordrängten. Der Tante Prophezeiung ward nicht erfüllt, niemanden fiel es ein zu lachen, aber jedermann wich ihr mit einer Art Ängstlichkeit aus, denn diese dunkle Erscheinung mitten im festlichen Glänze hatte wirklich etwas Geisterartiges. Vergebens blickte Gabriele um sich her und suchte in dem Gewühl ein bekanntes Gesicht heraus zu finden, sie erblickte keines; selbst die Gräfin und Aurelia waren nicht gegenwärtig, der Anzug für die Tableaux hielt sie entfernt. Eine schöne Frau mittleren Alters vertrat die Stelle der Frau vom Hause beim Empfang der Gesellschaft. Gabriele fühlte sich mächtig von ihr angezogen, sie glaubte, in ihr eine entfernte Ähnlichkeit mit ihrer Mutter zu finden, und konnte kaum den Blick von ihr wenden, aber sie kannte sie nicht und wagte es daher auch nicht, sich ihr zu nähern.

So stand Gabriele lange ganz allein, sah, wie überall Gruppen von Bekannten sich bildeten, wie einzelne Paare einander aufsuchten und sich im eifrigen Gespräch von den übrigen absonderten. Niemand suchte sie, niemand hatte ihr etwas Freundliches zu sagen, sie war und blieb einsam mitten in der großen Versammlung und ward darüber recht innerlich betrübt. Der Gedanke, wie sie eigentlich ebenso verlassen in der ganzen Welt dastehe als hier in der Gesellschaft, fiel mit lastender Schwere auf ihr nach Liebe sich sehnendes Gemüt. Schon war sie im Begriff, sich von allen den Glücklichern zurückzuziehn und in ihr einsames Zimmer zu schleichen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Es war der freundliche ältliche Mann, dessen unerwartete Anrede sie am vergangenen Abende so erschreckt hatte und der ihr jetzt den Arm bot, um sie im Gefolge der übrigen Gesellschaft in das zu den Tableaux bestimmte Zimmer zu führen.

Eine von Haydns herrlichsten Symphonien verkündete dort das nahe Aufrauschen des die Darstellung noch verhüllenden Vorhangs. Nie zuvor hatte Gabriele den Einklang vieler Instrumente zugleich gehört, er ergriff sie mit seinem allgewaltigen Zauber, vor welchem alles Beengende von ihr abzufallen schien. Die Töne trugen sie weit weg auf unsichtbaren Flügeln in ihr magisches Reich, sie sprachen mit ihr von ihrer Vergangenheit, vor allem, was ehemals sie beglückt hatte, und hauchten ihr neue Freude am Leben und frischen Jugendmut ein. Die Dämmrung in dem nur durch die Lichter der Nebenzimmer schwacherleuchteten Saal erlaubte es ihr, ungehindert sich ihrem Gefühl zu überlassen; ihr Führer war neben ihrem Sitz stehengeblieben; mit dankbarem Vertrauen blickte sie zu ihm auf und entdeckte im nämlichen Moment dicht neben ihm Ottokars hohe Gestalt, der sie begrüßend sich gegen sie verbeugte.

Ein Gruß im gewöhnlichen Gange des Lebens ist gar wenig, aber unendlich viel für den, der vereinzelt in einer großen Gesellschaft mit dem Gefühl der Verlassenheit dasteht; dies Zeichen des Bemerktwerdens, gerade von ihm, gab Gabrielen ein so tröstendes Selbstbewußtsein, daß sie dadurch beruhigt in den Stand gesetzt ward, sich des eben beginnenden Schauspiels wirklich teilnehmend zu erfreuen.

Tante Kleopatra nahm sich auf ihrem königlichen Thron zum Bewundern gut aus. Mit aller ersinnlichen Grazie hielt sie die reiche Perle über dem Becher und hatte keine Ahnung von den Anmerkungen, die links und rechts unter den Zuschauern hingeflüstert wurden. Dreimal senkte sich der Vorhang, dreimal mußte er auf lautes Bitten der Anwesenden sich wieder heben, die alle behaupteten, des herrlichen Anblicks gar nicht müde werden zu können.

Am entzücktesten stellte sich die Gräfin Eugenia, ihr Beifall war der rauschendste und kannte weder Maß noch Ziel, während sie zu gleicher Zeit tausend witzigboshafte Einfälle über die herbstliche Kleopatra und ihren das Schmuckkästchen tragenden Edelknaben den jungen Herren zuflüsterte, die dicht zusammengedrängt hinter ihrem Stuhle standen, ihr aufs kräftigste applaudieren halfen und dabei jedes ihrer Worte mit allen Zeichen des Beifalls von ihren Lippen gierig auffingen. Sie saß so nahe bei der von ihr ganz übersehenen Gabriele, daß diese keine Silbe von dem, was sie sprach, verlieren konnte; auch manches andre spottende Wort einiger der übrigen Anwesenden erreichte das Ohr des unerfahrnen Kindes und kontrastierte so sehr mit der, von allen laut ausgesprochnen Bewunderung, daß Gabriele ein innres Grausen über die Falschheit der Menschen empfand, unter denen sie leben sollte. Ihr war zumute, als sei sie unter gespenstische Larven gefallen, die im nächsten Moment sich umwandeln und in eigentümlicher, fürchterlicher Gestalt dastehen müßten. Wie nach Rettung sah sie ängstlich um sich her.

»Sein Sie ruhig, liebes Fräulein!« flüsterte eine leise Stimme ihr zu, »auch ich sehe und höre, was Sie empört, aber es ist nicht so böse, als Sie in Ihrer Unschuld es glauben.« Verwundert blickte Gabriele auf und sah ihren Führer, der noch immer neben ihr stand. Seine Gegenwart erschien ihr in diesem Moment wie ein Trost vom Himmel. »Die Welt«, fuhr der freundliche Mann mit mildem Lächeln fort, indem er zu ihr sich hinabbeugte, »die Welt ist leider lange nicht so gut, als Sie in Ihrer Unerfahrenheit es vielleicht noch vor acht Tagen glaubten, aber auch wahrlich lange nicht so arg, als sie jetzt Ihnen vorkommen muß. Diese kleinen Bosheiten, vor denen Sie sich in diesem Augenblick mit Recht entsetzen, werden Ihnen in kurzem ziemlich harmlos scheinen, wenn Sie diese Menschen und ihr wahres Meinen erst näher kennen, denn in der Tat, diese Einfälle haben keinen Zweck und erreichen auch keinen wie den, für den Moment als witzig bewundert zu werden. Sie werden sich daran gewöhnen und sie endlich als ganz gleichgültig betrachten.« – »Nie! nie!« rief Gabriele so laut, daß sie selbst darüber erschrak, besonders da sie gewahr ward, daß der noch immer in ihrer Nähe sich befindende Ottokar dadurch aufmerksam auf ihr Gespräch gemacht ward. »Gewiß!« erwiderte ihr Führer leise und beschwichtigend, indem er zugleich auf den sich wieder hebenden Vorhang hinwies.

Mehrere Tableaux folgten dem der Kleopatra, alle wurden laut gepriesen und leise bekrittelt, bis ganz zuletzt Aurelia in wahrhaft himmlischer Glorie als Raffaels Jardinière erschien. Die Kinder standen so anmutig da, sie selbst war in dieser Stellung mit gesenktem Auge so hinreißend schön, daß sogar der Neid verstummen mußte. Ein einziger Atemzug der Bewunderung säuselte durch die Stille des glänzenden Kreises und löste sich erst spät in lauten Beifall auf. Gabrielens für Freude glänzendes Auge traf auf Ottokarn. Dieser starrte vorgebeugt, wie in Bewunderung verloren, noch immer den Vorhang an, welcher schon lange die holde Erscheinung verhüllt hatte. Als sich Ottokar endlich wandte, traf sein Blick auf Gabrielen, er lächelte ihr in teilnehmendem Entzücken wie einer Bekannten zu, und dieser kleine Zufall durchströmte sie mit Empfindungen, die sie zu verstehen weit entfernt war.

Die Gesellschaft verteilte sich wieder in die Nebenzimmer, um dort die Damen des Hauses nebst den übrigen bei den Tableaux beschäftigt gewesenen Personen zu erwarten und nochmals mit Bewunderung und Dank zu überschütten. Gabriele blieb mit ihrem Begleiter beinah allein in dem dämmernden Saal, und er benutzte diese Pause, um sich ihr als einen Maler zu erkennen zu geben, dessen bedeutender Name im neuern Gebiet der Kunst ihr schon rühmlichst bekannt war. Signor Ernesto hatte man ihn der Landessitte gemäß in Italien genannt, wo jeder Zuname dem Taufnamen weichen muß, und diese Benennung blieb ihm auch in der Gesellschaft, seitdem er vor kurzem nach einem viele Jahre langen Aufenthalt in Rom wieder in sein deutsches Vaterland zurückkehrte.

»Ich war gestern bei Ihrer Ankunft zugegen, mein teures Fräulein«, sprach Ernesto weiter zu Gabrielen, »ich erkannte in Ihnen beim ersten Blick das Ebenbild Ihrer Mutter; so wie Sie jetzt vor mir stehen, so sah ich sie einst in Rom, jugendlich blühend, mit glänzendem Auge vor den hohen Wundern der unsterblichen Kunst. Mir ward das seltene Glück, ihr Begleiter auf ihren Wanderungen durch die Königin der Städte, ihr erster Lehrer in der bildenden Kunst zu sein; ich werde auch Ihr Lehrer, Gabriele, ich habe mich schon gestern bei der Gräfin dazu erboten, sobald ich den Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes vernahm. Schlagen Sie es mir nicht ab, Sie brauchen einen väterlichen Freund zu Schutz und Rat, der will ich Ihnen werden, und ich kann es nur, wenn der Unterricht im Zeichnen mir Gelegenheit verschafft, Sie täglich ohne äußre Störung zu sehen. Mir ist bei Ihrem Anblick«, fuhr er fort, weil Gabriele schweigend ihm zuhörte, »mir ist, als hätte ich in Ihnen eine geliebte Tochter gefunden, als wäre der schöne Frühling meines Lebens zurückgekehrt, als stünde Auguste und mit ihr Roms alte Herrlichkeit wieder vor meinem frischen jugendlichen Sinn. Und darum will ich auch väterlich um Sie sorgen, Sie leiten auf dem unbekannten, gefährlichen Pfade in der Ihnen so fremden Welt, wenn Sie mich nicht zurückweisen.«

Ernesto hätte noch lange fortsprechen können, ohne daß er von Gabrielen unterbrochen worden wäre, sie vermochte sogar kaum, ihm zu antworten, aber ihr beredtes Auge sagte ihm alles, was in ihrem tiefbewegten Gemüte vorging. Nicht mehr allein und verlassen, hatte sie jetzt einen Freund ihrer Mutter zur Seite, der auch ihr wie ein Bekannter aus früheren Tagen erschien. Mit Entzücken fühlte sie dies, und alles, was sie umgab, zeigte sich ihr in einem neuen, schönern Licht, die Tante, Aurelia, die ganze Gesellschaft, zu der sie jetzt, von Ernesto begleitet, wie ein fröhliches Kind an der Hand seines Vaters zurückkehrte.

Die Gräfin und Aurelia standen mitten in einem dichten Kreise von Bewunderern, die sie mit den ausschweifendsten Lobsprüchen überströmten. Nur mühsam gelang es Gabrielen, bis zu ihnen sich durchzuwinden, und ihr Staunen beim Anblick der rosig blühenden, Freude strahlenden Tante war fast noch größer als gestern. Die Gräfin benutzte die Gelegenheit, ihre Nichte vielen der eben anwesenden Damen vorzustellen, eine Zeremonie, welche noch vor einer Stunde Gabrielen sehr verlegen gemacht hätte, über die sie aber jetzt, durch Ernestos Gegenwart ermutigt, mit großer Fassung und leidlichem Anstande hinauskam. Die Reihe traf endlich auch die Dame, welche vorhin, während der Abwesenheit der Gräfin, die Stelle derselben beim Empfange der Gesellschaft vertreten hatte, und deren Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Gabrielen jetzt, da sie sie in der Nähe sah, mit unbeschreiblicher Wehmut erfüllte. Die Gräfin Rosenberg nannte sie Frau von Willnangen, eine nahe Verwandte ihres verstorbenen Gemahls. Gabriele erstarrte beinah, als sie diesen Namen hier hörte, den ihre Mutter ihr nur in Stunden des engsten Vertrauens als den Namen ihres verlornen Jugendfreundes genannt hatte. Ängstlich suchte sie wieder in Ernestos Nähe zu gelangen, um von ihm zu erfragen, in welchem Verhältnis diese Frau mit Ferdinand von Willnangen gestanden haben mochte, den er gewiß auch gekannt hatte, aber ein Chor von Damen hielt ihn umlagert und machte es ihr unmöglich.

Ein Konzert begann jetzt die letzte Stunde vor der Abendtafel auszufüllen, nach welcher ein Ball die Freuden des Tages beschließen sollte. Die rauschende Symphonie hatte vorhin Gabrielen auf mächtigen Wogen in eine andere Welt getragen; jetzt versenkte ein Quartett, von Meistern meisterhaft durchgeführt, sie ganz in sich selbst, die Töne verstummten endlich, aber sie hallten noch in ihrem Innern wider, und sie saß da, ihnen lauschend, als sie plötzlich von neuem sich erhoben und eine einzige Stimme, voller, reiner als alle, sie übertönte. Gabriele blickte auf und sah Ottokar neben Aurelien am Pianoforte stehen. Beide sangen miteinander ein italienisches Duett, voll Sehnsucht und Liebe. Gabriele kannte es, sie hatte es einigemal mit ihrer Mutter gesungen, in ihrem Innern sang sie auch jetzt es mit, und ihr ganzes Wesen verschwebte im süßesten Verein mit Ottokars Tönen. Die Verzierungen und Manieren, welche nach der neueren Weise Aurelie der einfachen Melodie anhängte, schienen Gabrielen ein fast frevelhaft störendes Beginnen, obgleich sie ihre Kunst sowie ihre sehr schöne Stimme bewundern mußte. Ihr Leben hätte sie in der Minute freudig hingegeben, um an Aureliens Stelle so neben Ottokar zu stehen, und doch fühlte sie in der nächsten, wie unmöglich es ihr sein würde, nur einen Ton hervorzubringen.

›Leidvoll und freudvoll‹ eilte Gabriele gleich nach dem Konzert hinauf in ihr stilles Zimmer, zu welchem später, wie aus weiter Ferne, die frohe Tanzmusik herüber tönte. Ihr Herz war übervoll von allen Ereignissen dieses bangen und freudigen Abends, zu voll zur Mitteilung; nur Ernestos Erscheinung blieb ihr ganz klar, und diese war ein großer Trost für die um das Kind ihrer innigsten Liebe mütterlich besorgte Frau Dalling.

 

Mit schwerem, sorgenvollem Herzen war am folgenden Morgen Frau Dalling beim Anbruch des Tages von ihrer Gabriele geschieden, und diese suchte nun mit der neuen, ihr von der Tante zugegebenen Kammerjungfer sich einigermaßen zu befreunden. Es war ihr unmöglich, gegen die hübsche, zierlicher als sie selbst geputzte Annette den Ton der Gebieterin anzunehmen, und Annette konnte sich auch nicht sogleich in die freundliche Art ihrer neuen Herrschaft finden, die gar nichts zu ersinnen wußte, was sie ihr hätte befehlen können. So waren beide ein paar Stunden in ziemlicher Verlegenheit einander gegenüber geblieben, als Ernestos früher Besuch, der erste, den Gabriele je erhielt, der Not endlich ein Ende machte.

»Ich erscheine in dieser unschicklich frühen und deshalb visitenfreien Stunde, um Sie zu zwei Freundinnen zu geleiten, die mit offnen Armen und Herzen Sie erwarten«, sprach Ernesto; »Frau von Willnangen sendet mich.« – »Frau von Willnangen?« unterbrach ihn Gabriele, aufs neue von dem Namen heftig aufgeregt; »höre ich recht? Wirklich Willnangen? Um Gottes willen! Wer ist diese Frau, die meiner Mutter so ähnlich sieht? Ist sie mit Ferdinand von Willnangen verwandt? Gewiß, Sie kannten auch diesen Ferdinand.« – »Wohl kannte ich auch ihn«, erwiderte Ernesto, von trüben Erinnerungen sichtbar bewegt. »Frau von Willnangen«, fuhr er fort, »ist die Mutter seiner Tochter, eines lieben Mädchens, das wohl verdient, Ihre schwesterliche Freundin zu werden.« – »O Auguste! Meine liebe, liebe Mutter!« rief tief erschüttert, in fast betender Stellung, Gabriele, »auch dorthin verfolgt dich unerbittlich dein Geschick! Der selige Geist deines Freundes hat dich auf deinem stillen Lebenswege nicht schützend umschwebt, wie du fromm es wähntest, er geleitete dich nicht aus der bittern Stunde deines Scheidens zur frohen Ewigkeit, die keine Trennung kennt: Ferdinand lebt, er war dir nah und vergaß deiner, die du wie ein Heiligtum sein Andenken in treuer Brust bewahrtest! So lieben Männer«, fuhr sie mit zürnendem Ernst fort; »treue Liebe wohnt nur im Herzen der Frauen und bleibt dort ihr eigner, einziger Lohn. So lehrte mich meine Mutter mit Recht; wer darf noch hoffen, sie außer sich zu finden, wenn diese Frau vergessen werden konnte!«

Mit teilnehmendem Staunen blickte Ernesto auf das schwärmende, sich seinem Gefühl ganz überlassende Mädchen. »Ich mag Ihren schönen Glauben von unsern Erwartungen jenseits nicht stören, wenn er auch nicht ganz der meinige ist«, sprach er endlich mit sehr bewegter Stimme, indem er ihre gefalteten Hände sanft ergriff. »Erlauben es die Gesetze jenes Landes, von dessen dunkeln Grenzen noch nie ein Wandrer zurückkehrte, der uns Kunde brachte, so empfing Ferdinands seliger Geist Augusten beim Scheiden aus dieser Welt, so umschwebte er sie schützend schon lange vorher auf ihrem Lebenspfad, denn seit mehreren Jahren verließ er dieses Leben, in welchem sein Geschick ihn rastlos umhertrieb und nur späte Ruhe ihm vergönnte. Ich führe Sie jetzt zu seiner Witwe, die gestern hocherfreut in Ihnen die Tochter der Frau erblickte, deren Andenken, ohne daß sie jemals sie sah, ihr dennoch heilig ist, weil es der Mann, den sie liebte, stets im Herzen trug. Sie glaubt es nicht besser ehren zu können, als indem sie Gabrielen mütterliche Liebe entgegen trägt; doch wähnt sie deshalb nicht, ihr jemals Augustens Verlust ersetzen zu können. Das reine, stille Gemüt dieser seltnen Frau war stets zu demütig, dies sogar bei Ferdinanden zu hoffen, und ohne alles neidische Streben begnügte sie sich immer damit, sein Leben durch Liebe zu erheitern, mit ihm zu trauern, wenn Wehmut über verlornes Jugendglück in ihm erwachte und ihm die Gegenwart trübte. Kommen Sie, Gabriele«, fuhr Ernesto eifriger fort, »folgen Sie mir in das Haus der Frau von Willnangen, Sie werden einen dem Andenken Ihrer Mutter geweihten Tempel betreten. Die Blumen, die sie vor allen liebte, werden dort noch immer sorgsam gepflegt, ihr Bild ist noch immer der geehrteste Schmuck des Hauses, ich malte es heimlich in Rom für mich und konnte Ferdinands ungestümen Bitten eine Kopie davon nicht versagen; Ferdinands Tochter erhielt bei ihrer Geburt den ihm so teuern Namen Auguste. Glauben Sie mir, Sie werden dort heimisch sein wie unter verwandten Freunden; vielleicht auch dort überzeugt werden, daß treue Liebe in der stärkern Brust des Mannes oft nur um so sichrer wohnt als in dem weichern Herzen der Frauen«, setzte er lächelnd hinzu.

Was Ernesto von Ferdinands späterem Geschick Gabrielen noch ferner mitteilte, läßt sich in wenig Worte fassen. Auf eine ihm unerklärbare Weise von der Geliebten getrennt, währte es beinahe ein Jahr, ehe er den ganzen Umfang seines Unglücks erkannte, und tröstende Hoffnungen begleiteten ihn lange von Land zu Land. Augustens Vater leitete fortwährend mit unsichtbarer Hand sein Geschick; er hatte den Zweck erreicht, ihn auf immer von seiner Tochter zu trennen und war übrigens nicht weniger als sonst für das zeitliche Glück seines ehemaligen Pfleglings besorgt. Er glaubte sogar, ihm gewissermaßen Ersatz schuldig zu sein und ebnete deshalb, soviel er es konnte, Ferdinands Weg auf der einmal angetretnen Laufbahn seines Strebens, ohne daß dieser es ahnte. Bis Konstantinopel hatte er ihn zu bringen gewußt, als der Tod ihn in Schweden übereilte. An der südlichsten Grenze von Europa erfuhr Ferdinand sehr spät aus den Zeitungen die Nachricht von dem Hinscheiden seines ehemaligen Beschützers, und die weite Entfernung, in der er sich von jenem nördlichen Lande befand, vernichtete den Erfolg jedes schriftlichen Versuches, Augusten, die dort verschwunden war, wieder aufzufinden. Er eilte selbst nach Schweden, sobald seine Verhältnisse es ihm möglich machten, aber vergebens suchte er aufs ängstlichste eine Spur von ihr. In der Residenz war Augustens vorübereilende Erscheinung längst vergessen, in dem kleinen Städtchen, in welchem ihr Vater starb, hatte niemand sie gekannt; nur wenige erinnerten sich ihrer Existenz, keiner wußte nur von ferne anzudeuten, wohin sie sich gewendet haben könne, und in der tiefen Einsamkeit, in welcher sie auf dem Landgute ihrer Tante damals lebte, war und blieb sie ihm verloren.

Ferdinand führte von nun an ein trübes, unstetes Leben, ewig suchend nach dem Glück seiner Jugend und nimmer es findend, bis das Fruchtlose seines Strebens ihm endlich die Ahnung von Augustens Tod zur Gewißheit machte. Jetzt beschwichtigten allmählich wehmütige Sehnsucht und fromme Hoffnung den wütenden Schmerz in seinem Innern und wandelten ihn in stille Trauer. Seine äußere Lage befriedigte übrigens alles, was er sonst vom Leben noch wünschen mochte, denn er war durch Tätigkeit und Treue im Dienst seines Fürsten zu einer bedeutenden Stelle in seinem Vaterlande gelangt. Still und trübe lebte er seine Tage hin, bis er einst von ungefähr ein Fräulein Rosenberg erblickte, dessen auffallende Ähnlichkeit mit der Verlornen alle alten Wunden in seinem Innern wieder erneute.

Zuerst fühlte er sich von dieser Ähnlichkeit bald unwiderstehlich angezogen, bald schmerzlich zurückgestoßen. Sie war Auguste und war es doch nicht, aber bei näherer Bekanntschaft fand er in ihr ein mildtröstendes Wesen, das einzige, dem er je die traurige Gesichte seiner Jugend vertrauen mochte. Des Fräuleins innige Teilnahme an seinem Schmerz, ihre demütige Verehrung Augustens fesselten ihn immer mehr an ihre Nähe, sie gab ihm den einzigen Trost, der ihm noch werden konnte, und bald kam es dahin, daß kein Tag verging, ohne daß er sie zu sehen suchte.

In zarter Frauenbrust wandelt sich die Teilnahme an den Leiden eines Freundes nur zu leicht in ein glühenderes Gefühl, und Ferdinand konnte sich endlich nicht mehr die Art des Eindrucks verhehlen, den er und seine Schmerzen auf das Herz seiner jungen Freundin gemacht hatten. Er fühlte zugleich, daß sein der Liebe erstorbnes Gemüt dennoch des Trostes inniger, vertrauensvoller Freundschaft nicht mehr entbehren konnte, nachdem es dessen gewohnt geworden war, und so bat er das Fräulein, sein durch tiefen Gram und ewige Sehnsucht getrübtes Dasein mit ihm zu teilen, ohne sie über die Art seiner Empfindungen für sie zu täuschen, indem er ihr seine Hand bot.

Der schöne Verein alles opfernder Liebe und treuer, inniger Freundschaft währte kaum ein Jahr; Ferdinand starb, und Familienverhältnisse bestimmten seine Witwe, den Ort ihres bisherigen Aufenthalts mit der Stadt zu vertauschen, in welcher fast alle ihre Verwandten wohnten und wo Gabriele sie fand. Frau von Willnangen lebte dort mit ihrer Tochter nicht mitten im Strudel der großen Welt, aber doch nicht ganz von ihr abgesondert, sie war nicht reich, aber ihre äußre Lage erlaubte ihr, sich keinen wirklichen Lebensgenuß zu versagen, und ihre anspruchslose Bildung, die milde Würde in ihrem ganzen Wesen zogen bald einen kleinen Kreis auserwählter Freunde um sie her, in dessen Mitte sie sich zu wohl befand, um sich nach rauschendem Freuden zu sehnen. Nur selten erschien sie in größern Gesellschaften und stets ungern.

Die Gräfin Rosenberg ehrte in ihr die nahe Verwandte ihres verstorbenen Gemahls; lieben konnte sie sie nicht, dazu war ihr ganzes Wesen zu sehr von dem der Frau von Willnangen verschieden, und eigentlich sahen beide Damen einander nur selten. Aber da die allgemeine Achtung Frau von Willnangen vor allen andern auszeichnete, so fühlte die Gräfin sich dadurch bewogen, bei jeder öffentlichen Gelegenheit mit der nahen Verbindung zu prunken, in welcher sie sich gegenseitig befanden. Deshalb hatte sie sie auch gebeten, bei dem Feste die Honneurs des Hauses zu machen, solange sie selbst abwesend sein mußte, und da es Aureliens Geburtstage zu Ehren angestellt war, so mochte ihr Frau von Willnangen diese Bitte nicht abschlagen.

Mit hochbewegter Brust betrat Gabriele an Ernestos Hand das Haus, in welchem alles, besonders die Besitzerin desselben, sie auf das lebhafteste an ihre Mutter erinnerte. Der freundliche Empfang, der ihr ward, tat ihrem, in den letzten Tagen so vielfältig verletzten Gemüt unendlich wohl, und jede Spur der scheuen Blödigkeit, die im Hause der Tante sie ängstlich beklemmt hatte, verschwand vor ihm. Die prunklose, aber bequem-zierliche Einrichtung der Zimmer versetzte sie ganz in die frohe Zeit ihrer ersten Jugend zurück; alles deutete darin auf heitern Lebensgenuß, auf Fleiß und Kunstliebe der Bewohner, alles war so, wie sie es bei ihrer Mutter zu sehen gewohnt gewesen war. Ihr ward in diesen Umgebungen, als ob sie nach einer langen Abwesenheit wieder zu Hause angekommen wäre und mit wahrer kindlichen Freude hörte sie die Einladung, recht oft, wenn es möglich wäre täglich, zu kommen und jede freie Stunde bei der Frau von Willnangen und ihrer Tochter in ruhiger Gemütlichkeit zuzubringen.

Der erste Anblick der achtzehnjährigen Auguste eignete sich durchaus nicht dazu, die Herzen mit Sturm zu erobern. Ihr Äußeres zeichnete sich nur durch eine hohe, regelmäßig schlanke Gestalt aus, und ihr Gesicht war nichts weniger als schön, solange sie schwieg; aber der Geist, der es belebte, sobald sie sprach, der Ausdruck, den die klaren, großen Augen dann gewannen, gaben ihr einen ganz eignen Reiz, sie fesselten die Herzen wie die Blicke, man sah Augusten ebenso gern sprechen als man sie hörte und wurde endlich beinah verleitet, sie schön zu finden. Bei dem neuen Gefühl, sich von einem jungen, ihr ähnlichen Wesen liebevoll umfangen zu sehen, ging Gabrielen in nie zuvor empfundner Freude das Herz auf; ein Vorgefühl jugendlich vertraulicher Freundschaft bemächtigte sich ihrer, und glücklicher, als sie es je seit dem Tode ihrer Mutter gewesen war, verließ sie das Haus der Frau von Willnangen mit dem festen Entschluß, sobald als möglich dahin zurückzukehren.

 

Gabrielens Tante war eine der Frauen, wie man in großen Städten so viele findet, die mit wahrem Heldenmut allen ihren Neigungen geradezu entgegenhandeln, sobald der eben herrschende Ton es gebeut. Fünfzig Jahre früher geboren, hätte sie, schwimmend in Moschus- und Ambra-Duft, mit aller damals üblichen Ziererei einer französischen petite maitresse über Vapeurs geklagt, in Gesellschaft Gold gezupft, oder Trisett gespielt, und ihr Haus wäre eine Menagerie von Schoßhündchen und Papageien gewesen. Die Zeiten, in denen so etwas galt, sind aber vorüber gezogen und Kunst und Wissenschaft jetzt bei uns an der Tagesordnung. So sah sich die Gräfin gezwungen, sich zur eifrigen Beschützerin derselben aufzuwerfen, wenn sie sich in dem Kreise, den sie die Welt nannte, geltend machen wollte, und die Langeweile nicht zu achten, welche sie dabei empfand.

Im Grunde waren ihr die Figuren in den Modejournalen weit lieber als alle Raffaele und Kunstgespräche, von denen sie nichts verstand; die Donaunixe oder Rochus Pumpernickel ergötzten sie weit mehr auf der Bühne als Goethe oder Schiller, bei denen sie immerfort heimlich durch die Nase gähnen mußte; und obgleich in ihrem Kabinette alle unsre vorzüglichsten Dichter in goldigem Einbände hinter Spiegelglas strahlten, so griff sie doch ganz in der Stille nur nach Cramer, Spieß und deren Nachfolgern, wenn Migräne oder eine seltne einsame Stunde ihr ein Buch in die Hand spielten. Dennoch wußte sie durch stete Anstrengung, geleitet von einem angebornen Taktgefühl, diesen ihr eignen Geschmack so künstlich zu verbergen, daß niemand merken konnte, wie sehr alles, wonach sie im Äußern strebte, ihr im Innern zuwider war. Man konnte lange mit ihr umgehen und dennoch darauf schwören, sie sei geistreich und unterrichtet. Sie wußte sehr gut, wenn es im Theater Zeit war, den Kopf verächtlich wegzuwenden oder auch in Ekstase zu geraten, und in ihrem Gespräch vermißte man keinen technischen Kunstausdruck, kein einziges der vielen neuen Worte, mit welchen unsre Poeten und Kunstjünger die deutsche Sprache neuerdings bereicherten; sie hatte sich alle durch den Umgang zu eigen gemacht. Es geschah wohl dann und wann, daß sie sich in der Anwendung derselben ein wenig vergriff, aber doch immer selten genug, um nicht auffallend zu werden. In zweifelhaften Fällen half sie sich mit einem Ach! oder Oh!, die jedermann auslegen konnte, wie er wollte, und übrigens hütete sie sich gar sehr, über irgendein neues Kunsterzeugnis ihre Meinung voreilig an den Tag zu legen, sondern wartete bescheiden, bis jemand aus der Gesellschaft, auf dessen Ansicht sie sich verlassen konnte, ihr zu einem sichern Urteil verhalf.

Mit aller dieser Anstrengung war es ihr wirklich gelungen, ihren Zweck zu erreichen. Das Haus der Gräfin Rosenberg galt allgemein für das angenehmste in der Stadt, dem alles zuströmte, was für geistreich und gebildet geachtet sein wollte oder auch es wirklich war. Es wimmelte bei ihr von fremden Künstlern, Gelehrten und schönen Geistern, und eine Adresse an die Gräfin schien den mehresten dieser Ankömmlinge nicht minder notwendig als ein Reisepaß. Wer keine mitbrachte, den wußte sie auf andre Weise sich zuführen zu lassen, denn sie wäre untröstlich gewesen, wenn ein berühmter Mann das Weichbild der Stadt betreten hätte, ohne über ihre Schwelle zu gehen. Freilich schlich sich auch mancher bloß titulär-schöne Geist unter der Menge mit ein, denn an Auswahl war hier nicht zu denken; aber alle vereint brachten doch den Reiz einer mannigfaltigern Unterhaltung, eines geistigern Lebens in die Gesellschaft, als man in andern großen Zirkeln zu finden gewohnt ist, und selbst sehr ausgezeichnete Männer besuchten gern den Vereinigungspunkt, der ihnen hier geboten ward. Überdem verstand die Gräfin die Kunst, eine sehr angenehme Wirtin zu sein. Mit anscheinender Sorglosigkeit überließ sie es jedem, nach Gefallen seine Unterhaltung zu wählen und trachtete nur ganz unmerklich dahin, daß es nie an Stoff dazu mangle. Den feinen Takt echter Geselligkeit hatte lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur gemacht, und jedermann fühlte sich in ihrem Hause frei und behaglich.

Ernesto war der tägliche Gast desselben. Früher zog ihn heiterer Hang zu Geselligkeit dahin, später die Sorge um Gabrielen. Den Gedanken, auch auf Aurelien vorteilhaft zu wirken, den ihre Schönheit zuerst in ihm erregt hatte, gab er auf, sobald er mit gewohntem Scharfblick sie und ihre Mutter durchschaute. Sein durchaus rechtliches Benehmen, sein heller Geist, seine Kenntnisse, vor allem die ihm eigne heitre Unterhaltungsgabe und sein fröhlicher, wenn auch zuweilen etwas kaustischer Witz erwarben ihm allgemeine Achtung und Liebe. Fast immer war er der von allen gesuchte Mittelpunkt der Gesellschaft, um so mehr da er bei seiner Genügsamkeit und strengen Mäßigkeit sich von jedermann unabhängig erhielt und sich nie dahin bringen ließ, seiner Würde in etwas zu vergeben.

Die Gräfin fühlte den ganzen Wert seiner Gegenwart in ihrem Kreise und strebte auf alle Weise, sich solche zu erhalten, obgleich ihr dabei zuweilen etwas unheimlich zumute wurde. Ernesto war beinah der einzige Mensch, der ihr imponierte, sie fühlte sich gezwungen, ihn zu ehren und sich, sobald er es ernstlich wollte, seinem Willen in manchen Dingen zu fügen. Deshalb wagte sie es auch nicht, ihm zu widersprechen, als er ziemlich eigenmächtig sich gewissermaßen zu Gabrielens Vormund aufwarf. Die Gräfin mußte es ihm sogar Dank wissen, daß er es unternahm, den mannigfaltigen Unterricht zu leiten, welchen Gabriele dem Willen ihres Vaters zufolge in der Stadt erhalten sollte, denn er entledigte sie dadurch einer großen Last, die sie übereilt sich aufgeladen hatte, ohne die dabei vorwaltenden Schwierigkeiten und Mühen gehörig zu bedenken. Sie bat ihn, nur vor allem die ersten Wochen eifrigst zu benutzen, in denen Gabrielens tiefe Trauer, welche diese nicht vor der bestimmten Zeit ablegen wollte, deren eigentliche Einführung in die Welt noch verzögerte, und überließ alles Übrige recht gern seinem bessern Wissen und Wollen.

 


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