Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Abende wurden immer länger. Graue Nebel verhüllten tagelang die Sonne und trieben die eifrigsten Waidmänner bei ungewohnt früher Zeit dem warmen kerzenhellen Versammlungssaale zu, wo die gesellige Freude in steter Abwechslung an jedem Abende lebendiger sich regte.

Seit es entschieden war, daß die zur Königin der Feste bestimmte Gabriele nicht erscheinen würde, hatte alles einen raschen lebendigen Gang genommen. Zwar war sie weder vergessen, noch war der Anteil gesunken, welchen Freunde und Bekannte an ihrem Geschick nahmen, aber man hatte sich darüber ausgesprochen und wandte nun gerne seine Aufmerksamkeit andern Gegenständen zu.

Jeder Eindruck verlischt, der nicht täglich erneut wird, vergebens sucht man ihn festzuhalten, vergebens strebt man, sich länger zu freuen oder zu betrüben, sobald die Zeit ihre Rechte geltend zu machen beginnt. Selbst Auguste ließ oft vom fröhlichen Taumel sich hinreißen, obschon sie gleich darauf sich leichtsinnig schalt, so fröhlich gewesen zu sein, während ihre freudenarme Gabriele einsam-traurige Stunden verlebte.

»Sie versündigen sich an der Natur und an sich selbst«, erwiderte ihr einst Ernesto auf eine ähnliche Äußerung, welche sie über ihre jugendliche Fröhlichkeit tat. »Wie könnten wir nicht nur den Schmerz, sondern auch die Freude tragen, bliebe ihr Empfinden immer sich gleich? Glauben Sie mir, niemand von uns verlebte das zwanzigste Jahr, wenn uns nicht die alles ebnende, alles erleichternde Gewöhnung zur tröstenden Begleiterin auf dem Lebenswege gegeben wäre; lebenssatt oder mit gebrochnem Herzen sänken wir alle lange vor der Zeit in das Grab.«

Im übrigen Schlosse ging es unterdessen gar fröhlich her, und je bunter und lauter das Leben von den aus der ganzen Umgegend herbeiströmenden Gästen betrieben wurde, je zufriedener bezeigte sich der General. Mit der zuvorkommendsten Gastfreiheit bot er zu allem die Hand, munterte zur Ausführung jedes Einfalls auf, den irgendeiner seiner Gäste zum allgemeinen Vergnügen angab, und ward dabei selbst mit jedem Tage heitrer. Auch die Freude über Adelberts sichtbares Genesen verjüngte augenscheinlich den liebenswürdigen Greis, der mit mehr als väterlicher Liebe an diesem hing. Seine Augen glänzten, wenn sie auf der Gestalt des geliebten Pflegesohns ruhten, dessen Wange in der Farbe der Gesundheit wieder zu erblühen begann und dessen ganzes Wesen von neuem in frischer lebendiger Teilnahme an der Außenwelt erwachte.

Adelberts Wunden heilten wie durch ein Wunder, der Arm blieb freilich steif, obgleich fast unmerklich, aber der gelähmte Fuß erlaubte ihm schon an Augustens Seite im Polonaisen-Takte den Saal zu durchwandern, und sei es nun die oft belobte Nachwirkung der Brunnenkur oder die Wirkung des gegenwärtigen heitren Lebens, Adelbert behielt bald nicht mehr vom Ansehen eines Kranken als er bedurfte, um von allen Fräuleins drei Meilen in der Runde für höchst interessant erklärt zu werden.

Die Zeit, welche man ursprünglich im Schlosse des Generals zu verweilen beschlossen hatte, war unbemerkt längst vorübergezogen und der mit starken Schritten herannahende Winter bestimmte jetzt die Gesellschaft, sehr ernstlich an den Abschied von ihrem freundlichen Wirte zu denken, sich zur Heimreise zu rüsten.

Die Ungewißheit der Frau von Willnangen in Hinsicht auf Leo und Augusten machte dieser indessen manche Sorge. Vergebens hatte sie fortwährend beide mit der größten Aufmerksamkeit beobachtet; Leos Benehmen und Augustens Herz wurden ihr mit jedem Tage rätselhafter und sie selbst immer unentschiedener, ob es nicht die Pflicht der Mutter heische, Augusten um ihr Verhältnis zu dem jungen Manne zu befragen, dessen auffallende Weise, sie allen andern vorzuziehen, von der ganzen Gesellschaft als ein Beweis gegenseitigen Verstehens angesehen wurde.

»Wecken Sie keinen Nachtwandler, indem Sie ihn beim Namen rufen«, sprach Ernesto, den sie deshalb zu Rate zog. »Sie geraten in Gefahr, ihn eben dadurch in den Abgrund zu stürzen, wodurch Sie ihn warnen wollten. Leo ist ein ganz guter Mensch, aber leider gehört er zu jener Legion von Kurmachern, die in der Mädchenwelt so viel Unheil stiften. Zum Glück ist Auguste mit ihrer gegenwärtigen Lage zufrieden genug, um keine Veränderung ihres Zustandes herbeizusehnen. Ich bin überzeugt, daß Leo keinen tiefen Eindruck auf sie gemacht haben kann, obgleich sie seine Huldigungen sich recht gern gefallen läßt. Bei allen dem wäre es aber dennoch möglich, daß sie eine Zeitlang sich einbildete, ihn zu lieben, wenn man durch unnütze Fragen sie auf diese Gedanken brächte; sie könnte in diesem Glauben sogar dahin kommen, ihm ihre Hand zu reichen, wenn er sich erklärte, und sich für unglücklich zu halten, wenn er es unterließe, was aus Furcht vor dem gnädigen Papa und der gnädigen Mama wahrscheinlich geschehen wird.«

»Glauben Sie in der Tat nicht, daß Leo Augusten genug liebt, um wenigstens einen Versuch zu wagen, die Beistimmung seiner Eltern zu einer Verbindung mit ihr zu erhalten?« fragte Frau von Willnangen.

»Ich glaube es nicht«, erwiderte Ernesto; »denn was konnte ihn bestimmen, fast bis zum Abschiedstage damit zu zögern? Mir scheint es, er gehört zu der Zahl junger Leute, welche wie im Traume umherwandeln, ohne eigentlich zu wissen, was sie wollen. Sie seufzen, sie werfen mit zärtlichen Blicken um sich, sie tun bedeutend, alles ohne Plan und Zweck. Dabei sind sie wetterwendisch wie eine Kokette aus dem vorigen Jahrhundert. Heute glühend, morgen kalt wie Eis, scheinen sie die gestern zur Huldgöttin Erhobene kaum noch zu kennen und sehen gelassen und eigentlich nicht ohne heimliches Behagen drein, wenn es ihnen gelingt, ein helles Auge zu trüben, eine jugendliche Wange erbleichen oder erröten zu machen und ein unerfahrnes junges Herz in schmerzliche Unruhe zu versetzen.«

»Welch ein Bild!« rief Frau von Willnangen. »Ist es möglich, daß Sie Leo von Wallburg dadurch bezeichnen wollen, der noch vor wenigen Wochen in Karlsbad so viel bei Ihnen galt?«

»Was er mir galt, gilt er noch bis auf einen gewissen Punkt«, erwiderte Ernesto. »Seit ich hier bin, habe ich um Augusten willen ihn genauer beobachtet und ihn auf mancher der Ungleichheiten betroffen, welche ich eben rügte. Ich hätte deren wahrscheinlich noch mehrere an ihm erlebt, wenn Augusten von dieser Seite nur etwas anzuhaben gewesen wäre; sie blieb aber in vollkommner Ruhe, wenigstens äußerlich, und da mußte er das Spiel freilich aufgeben. Übrigens streite ich ihm keine der vorzüglichen Eigenschaften ab, um derentwillen ich ihn sonst schätzte. Er ist hübsch, artig, gewandt, unterrichtet, als Sohn und Bruder lobenswert, wahrscheinlich wird er auch einmal ein Ehemann, mit dem eine Frau, die mit ihrer Glückseligkeit nicht gar zu hoch hinaus will, ein zufriednes Leben führen kann. Aber sein Betragen gegen Augusten erkläre ich deshalb doch für unmännlich und unwürdig. Es kann ihm nicht verborgen sein, daß der Ahnenstolz seiner Eltern sich einer Verbindung mit ihr stets auf das ernstlichste entgegenstellen wird; er fühlt, daß es ihm an Mut, Kraft und Liebe gebricht, dieses Hindernis zu bekämpfen; er wagt nicht einmal einen Versuch dazu, und dennoch strebt er Augustens Herz zu gewinnen und sogar indirekt der Welt weiszumachen, es sei gewonnen, ohne doch sich selbst auf irgendeine Weise verbindlich zu machen. Das ist es, was mich an ihm empört, denn solche Künste sind verächtlich. Gilt das einfach gegebene Wort dem rechtlichen Manne so viel als ein Eid, so sollte ihm auch jede absichtlich erregte Erwartung soviel gelten als ein Versprechen.«

»Das, was Sie über den jungen Wallburg jetzt aussprachen, habe ich mir immer dunkel gedacht«, erwiderte Frau von Willnangen, »aber dabei blieb ich stets in der Ungewißheit, was ich tun könne. Oft glaubte ich den General bitten zu müssen, daß er den jungen Mann geradezu über sein Verhältnis zu Augusten zur Rede stellen möge, denn als Mutter dies selbst zu übernehmen, dazu fehlt es mir an Mut oder an Demut.«

»An beiden wahrscheinlich, und das ist ein rechtes Glück«, erwiderte Ernesto. »Aus solchem Einmischen dritter Personen kommt selten etwas Gescheites heraus, wenngleich zuweilen eine Heirat, die mich denn immer an Molières › mariage forcé‹ erinnert und bei welcher beide Teile sich gewöhnlich sehr schlecht befinden.«

»Aber wie meinen Sie, daß ich mich jetzt benehme, sowohl gegen Leo als Augusten?« fragte Frau von Willnangen.

»Am besten, Sie benehmen sich gar nicht, sondern lassen alles gehen, wie es geht«, war die Antwort. »Gönnen Sie Augusten noch die paar Tage hindurch die Freude, sich von Leo adorieren zu lassen, die Trennung kann wohl einen halb erstickten Seufzer kosten, vielleicht wird auch beim Abschied ein Tränchen mit den Augenwimpern zerdrückt werden müssen, aber dabei bleibt es gewiß. In vier Wochen gedenkt sie Leos nur noch als eines vortrefflichen Partners bei Tanz und Spiel und vermißt ihn höchstens, wenn sie auf der Promenade ihren Shawl selbst tragen muß. Auguste steht zu hoch über den gewöhnlichen Mädchen, als daß Leos Koketterie wirklich hätte Eindruck auf ihr Herz machen können, und schon ihre ungetrübte Heiterkeit muß Sie hievon überzeugen. Aber wäre dies auch wider Vermuten geschehen, so wird dieser Eindruck nur um so leichter schwinden, wenn sie niemanden hat, mit dem sie darüber sprechen kann. Glauben Sie mir, die Vertrauten sind oft der Ruhe gefährlicher als die Liebhaber selbst. Eine ermahnende Mutter ist auch eine Art von Vertraute, sie nennt doch wenigstens den teuern Namen, und der süße Klang verfehlt selten, die Töchter über das Tadeln der Mutter zu trösten.«

»Wenn ich Sie nicht kännte wie ich Sie kenne, Freund Ernesto«, sprach Frau von Willnangen, »so müßte ich Sie nach diesen Äußerungen nicht nur für höchst frivol, sondern auch für herzlos und gemütlos halten. Sind das Ihre Ansichten der Liebe?«

»Der Liebelei,« erwiderte Ernesto, »des kalten chinesischen Feuerwerks von ausgeschnittenem Papier, hinter denen man Lämpchen stellt, womit die Jugend so großtut. Glauben Sie mir, nur wenige sind berufen, den göttlichen Funken in reiner Brust zu hegen, welcher der Ursprung der heiligsten Gefühle und alles Großen und Herrlichen ist. Wem dieser einmal sich entzündet, dem verlischt er nie, auch nicht im Sturme des Lebens, auch nicht im Grabesdunkel der Trennung, auch nicht unter dem Schnee des Alters. Aber es gibt auch luftige Irrlichter für die Menge, welche ihnen nachjagt. Man läuft, man fällt, man verirrt sich, verlockt andre, aber am Ende kommt doch alles in eine Art von Ordnung, und wenigstens stirbt die Welt dabei nicht aus.«

 

Am vorletzten Abend des Abschiedstages sollte die schon längst angekündigte Aufführung eines Lustspiels sein. Allwill war dessen Verfasser und das Stück bestimmt, die lange Reihe der in dem gastlichen Schlosse des Generals genossenen Freuden würdig zu beschließen. Zuschauer und Schauspieler sahen dieser Darstellung mit der gespanntesten Erwartung entgegen, welche freilich die vielen Proben und andre Vorkehrungen erregen mußten, mit denen Allwill die ganze Zeit über gestrebt hatte, die Erscheinung seines Stücks so vollkommen als möglich vorzubereiten.

Zum ersten Mal in seinem Leben, wenngleich nur auf einem Privattheater, sollte dem Dichter die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches werden; er sollte die Schöpfung seiner Phantasie auf den magischen Brettern ins plastische Leben gerufen sehn. Mit welchem Enthusiasm er daher bei der Anordnung dieses Festes zu Werke ging, ist leicht zu erachten. Jahrelang hatte er gestrebt bis zur lampenhellen Bühne durchzudringen, ohne daß es ihm, trotz der Klagen über Mangel an guten neuen Komödien, gelungen wäre. Ein Schicksal, welches fast alle Dichter mit ihm teilen, die ihre theatralischen Arbeiten nicht eher schwarz auf weiß dem Urteil der Welt ausliefern mögen, als bis sie sich von der Wirkung überzeugt haben, welche dieselben an dem Platze machen, für welchen sie bestimmt wurden.

Das Ausland ist in dieser Hinsicht billiger als wir, selten erscheint dort ein Schauspiel gedruckt, das nicht vorher auf der Bühne die große Probe überstand. Aber unsre Theaterdirektionen bedenken nicht, daß es ebenso unmöglich ist, vor der Aufführung über den theatralischen Wert eines Stücks ein ganz genügendes Urteil zu fällen als ohne gehörige Beleuchtung über den Effekt eines Gemäldes zu entscheiden. Schwerlich wird ein Dichter zur möglichsten Ausbildung seines Talents gelangen können, dem diese praktische Erfahrung versagt ward, und der heutige Mangel an guten, für das Theater passenden neuen Schauspielen ist vielleicht größtenteils nur den Schwierigkeiten zuzuschreiben, die sich zu diesem Zweck dem Dichter überall entgegenstellen.

Bei Privatbühnen sind die Proben bei weitem das Ergötzlichste für die Mitspielenden, das weiß jedermann. Auch Allwill erfuhr es, denn er wollte oft über die gute Laune seiner Schauspieler verzweifeln. Dafür erklärten ihn diese für den wunderlichsten, krittlichsten, herrschsüchtigsten aller Theaterdirektoren, und zuletzt galt es für ausgemacht, daß zwei Allwills im Schlosse hausen, feindliche Zwillingsbrüder, die nie zusammen erschienen; der eine, der Dichter, die Liebenswürdigkeit selbst, der andre aber, der Theaterkönig, ein Despot ohnegleichen, ein heftiger mürrischer Kauz, mit dem eben kein Auskommen sei.

Des armen Allwills gute Laune war indessen schon bei der Austeilung der Rollen auf fürchterliche Proben gesetzt worden. Es gab dabei unendliche, zum Teil sehr lächerliche Schwierigkeiten, die er aber sich nur zu sehr zu Herzen nahm. Wenigstens dreimal so viel Schauspieler und Schauspielerinnen als man bedurfte, hatten anfangs sich mit großem Eifer gemeldet, und zuletzt kostete es dennoch nicht geringe Mühe, nur so viele zusammenzubringen, als man notwendig brauchte, um alle Rollen des Stücks gehörig zu besetzen. An ersten Liebhabern und Liebhaberinnen fehlte es freilich nicht, aber ein redseliges altes Fräulein und einen etwas rauhen invaliden Papa wollte niemand übernehmen. Einer der besten Freunde des Generals, welcher schon vor dreißig Jahren den Major Tellheim mit dem größten Beifall gespielt hatte, fuhr im Zorn auf und davon, weil Allwill durchaus den ersten Liebhaber von niemand anders als Leo von Wallburg spielen lassen wollte. Andre, die ebenfalls mit den ihnen zugeteilten Rollen nicht zufrieden waren, folgten dem ehemaligen Tellheim, indem sie sich ganz in der Stille fortschlichen, und Allwill war wirklich in Gefahr, die Aufführung seines Stücks hier ebensogut, als wäre es ein öffentliches Theater, an Rollenneid scheitern zu sehen.

Endlich ließ Frau von Grünborn, die Nichte jenes Tellheims, sich durch unablässiges Bitten und Zureden der übrigen Gesellschaft bewegen, die alte Tante zu übernehmen; ihrem Beispiele folgten andre, und so kam das Ganze zur allgemeinen Freude allmählich in anscheinende Ordnung. Frau von Grünborn brütete indessen ganz im stillen noch über einen großen Plan, denn so ganz gutwillig konnte sie sich doch nicht entschließen, in einer, ihrer Meinung nach, undankbaren Rolle aufzutreten, und bei dem ersten einsamen Spaziergang mit Augusten, den sie herbeizuführen wußte, nahm sie Gelegenheit, zu versuchen, ob es ihr nicht gelingen könne, diese ihren Wünschen günstig zu stimmen.

»Sie dauern mich unbeschreiblich, liebes Fräulein von Willnangen«, wendete sie das Gespräch nach unendlichen Liebkosungen gegen Augusten, sobald sie weit genug vom Hause entfernt waren, um keine Lauscher fürchten zu müssen. »Sie dauern mich, Allwills Eigensinn zwingt Sie, die Elise zu spielen, und ich fühle recht gut, wie entsetzlich es Ihnen sein muß, vor aller Welt mit Leo von Wallburg zärtlich zu tun. Gewiß der Gedanke an die Aufführung des Stücks ist Ihnen deshalb recht peinlich, es kann nicht anders sein, und ich habe es Ihnen schon lange angesehen. Sie wissen nicht, sie sehr ich Sie liebe, teure Auguste, um Ihnen einen Beweis davon zu geben, habe ich ganz in der Stille Ihre Rolle neben der meinen gelernt, und bin nun imstande, Ihnen einen Tausch anzubieten. Das hätten Sie wohl von Ihrer Nanny nicht erwartet?« setzte sie hinzu, indem sie Augusten feurig umarmte.

Mit dem allergrößten Erstaunen hörte Auguste den absurdesten Vorschlag von der Welt aus dem Munde einer Frau, die alt genug war, um ihre Mutter zu sein, und die nun, schalkhaft lächelnd, in jugendlicher Verschämtheit vor ihr stand. Die Anspielung auf ein näheres Verhältnis zum jungen Wallburg war ihr freilich so unangenehm als unerwartet, und eine leichte zornige Regung rötete dabei ihre Wangen, bald aber siegte das unbeschreiblich Lächerliche in der ganzen Zumutung ihrer neuen Freundin, und lächelnd gab sie ihr Gehör, als diese mit der selbstzufriedensten Redseligkeit fortfuhr, ihren Plan weiter auseinander zu setzen.

»Vor allen Dingen«, sprach Frau von Grünborn, »müssen wir unsern Rollentausch aller Welt verschweigen, bis zur Stunde der Aufführung, sonst gibt ihn Allwill nimmermehr zu; er hat es sich zu fest in den Kopf gesetzt, daß wir alle seinen Befehlen folgen müssen; steckt er aber erst in seinem Souffleurkasten, so muß er sich schon alles gefallen lassen, was über seinem Haupte auf der Oberwelt vorgeht. Ich habe mir in den Proben Ihr Spiel genau gemerkt, wenn Sie die Rolle noch ein paar Mal mit mir durchgehen, so wird Herr von Wallburg keinen Unterschied finden, und des Beifalls der Gesellschaft können wir gewiß sein.« Auguste war dem Vorschlage immer geneigter, je länger sie ihm zuhörte. Der Gedanke, wie komisch Leos Verwunderung und Allwills zorniger Schrecken sich ausnehmen müßten, gewann immer mehr Lockendes, so daß sie, zuletzt in einem Anfall von Übermut, sich wirklich entschloß, in den Tausch zu willigen, und nun, nicht minder eifrig als Frau von Grünborn, selbst sich bemühte, alles darauf vorzubereiten.

Der lustige Erfolg übertraf bei weitem Augustens Erwartung. Beide Damen fanden mit leichter Mühe einen Vorwand bis zum Aufrollen des Vorhangs in ihrem Ankleidezimmer allein zu bleiben.

Leo, der mit einem Monolog zuerst die Bühne betrat, erstarrte über den Anblick der Frau von Grünborn wie Hamlet, indem er den Geist seines Vaters erblickt. Allwill reckte sich lang aus seinem Souffleurkasten empor und machte Miene, ganz auf das Theater heraufsteigen zu wollen, um wegen des Rollenwechsels Rechenschaft zu fordern, ja selbst die Zuschauer begannen sehr lebhaft zu werden. Frau von Grünborn ließ sich indessen von allem, was vorging, nicht im mindesten anfechten. Sie hatte ihre Rolle zu gut gelernt, um der Eingebungen des Souffleurs zu bedürfen und besaß auch überdem ziemliche Gewandtheit und theatralische Übung. An Schminke und jugendlichem Putz hatte sie ebenfalls nichts gespart; man sah deutlich, wie sie in großer Herzensfreudigkeit sich selbst Illusion machte, und so war denn die Gesellschaft endlich gutmütig genug, sich diese ebenfalls gefallen zu lassen und dem Wagestück ward von allen Seiten applaudiert.

Doch dieser gemäßigte Beifall verwandelte sich in ein laut donnerndes Bravo-Rufen, in ein ganz unerhörtes Händeklatschen, wie man es in einem Privattheater gar nicht für möglich halten sollte, als Auguste erschien. Die altmodische Tracht erteilt jungen Personen immer durch den Kontrast des Scheinenwollen mit dem wirklichen Sein einen eignen unbeschreiblichen Reiz. Das gepuderte Toupet, die zu beiden Seiten des jugendlichen Gesichtchens tief hineingehende altmodische Dormeuse, aus der die wunderschönen hellen Augen schalkhaft herausblitzten, die schlanke Taille, welche das lange Korsett erst recht versichtbarte, die netten Füßchen in ihren spitzen Hackenschuhen, die man bei der hochaufgeschürzten altfränkischen Cirkassienne deutlich sah, alles dieses verlieh Augustens Erscheinung eine wunderbare Anmut, von der niemand eine Ahnung haben konnte, der sie nur im gewöhnlichen Leben zu sehen gewohnt war. Ihr mit der heitersten Laune aufgefaßtes und durchgeführtes Spiel ließ den Taumel der Verwunderung, den ihr Anblick erregt hatte, gar nicht enden. Alles war dadurch versöhnt. Leo konnte über den Streich, welchen sie ihm gespielt hatte, nicht länger zürnen, Allwill setzte sich getröstet auf seinem unterirdischen Ehrenposten wieder zurecht, Frau von Grünborn umarmte sie mit anscheinendem Entzücken, sobald sie wieder zwischen die Kulissen trat und pries überlaut die eigne Selbstverleugnung, mit der sie Augusten die interessanteste Rolle im Stück freiwillig abgetreten haben wollte.

 

Je lauter die Freude im Schauspielsaale sich äußerte, je trüber ward Adelbert. Kaum vermochte er es über sich, das Ende eines kleinen Liederspiels abzuwarten, in welchem die scheidenden Gäste unter der Leitung des Kapellmeisters dem gastfreien Hausherrn zuletzt ihren Dank brachten. Schmerzlich bewegt verließ er den Saal, sobald er es unbemerkt tun zu können glaubte, und erschrak nicht wenig, als mit ihm zugleich auch Auguste durch eine andre Türe in ein an das Theater stoßendes Nebenzimmer trat.

Verlegen, wie sonst nie, standen sie da, und keines wagte das andre anzublicken, bis der Abschied zur Sprache kam, der beiden das Herz zusammenpreßte.

»Sie gehen«, sprach Adelbert, »und in diesem Moment fühle ich erst, wie sehr Ihre Nähe das Element meines Lebens ward. Erinnerung ist alles, was mir nun übrigbleibt; ich weiß, um wieviel reicher durch diese mein Dasein geworden ist, aber wenn mich nun die Sehnsucht ergreift, wie werde ich diese überwinden? Und wenn ich ihr nachgebe, wenn ich über Berg und Tal hineile, um wieder einmal in den Strahlen Ihrer lieben, gütigen Augen mein Herz zu erwärmen, ach Auguste! Wie werde ich dann Sie finden?«

»Ich hoffe wie jetzt«, erwiderte Auguste sehr freundlich; »hier nehmen Sie meine Hand darauf, Sie finden mich wie jetzt und kämen Sie auch erst nach langen Jahren; dann vielleicht um so gewisser genauso«, setzte sie lächelnd mit einem Blick auf ihre Theaterkleidung hinzu.

»Zwingen Sie mich nicht, mich selbst zu täuschen«, sprach Adelbert und drückte mit trübem Blick ihre ihm dargebotene Hand an seine hochbewegte Brust. »Mein tröstender Engel betrat mit Ihnen die Schwelle dieses Hauses, mit Ihnen verläßt er es wieder, ich weiß es. Diese Hand, welche jetzt in der meinen ruht, wird in wenigen Tagen einem Glücklichern gereicht. Leo – doch ich mißbrauche Ihre Nachsicht, verzeihen Sie mir, ich fühle beschämt, wie unbescheiden ich ward.«

»Leo?« rief Auguste und ward dabei feuerrot, »Leo? Nun der zieht übermorgen gen Norden, während wir dem Süden uns zuwenden, und fast möchte ich wetten, daß ich Sie früher wiedersähe als ihn.«

»Fräulein! Wäre es möglich! Verstehe ich Sie?« fragte Adelbert sehr bewegt. »Ach ich weiß nicht, welch ein böser Dämon mich in dieser Stunde zwingt, immer auszusprechen, was ich eigentlich verschweigen müßte! Es ist wohl Ihr fremdes Ansehen, was so mich verwirrt«, fuhr er, mit trübem Lächeln sie betrachtend, fort; »Sie sind Sie selbst und sind es auch nicht. Gewiß wäre es sündlich vermessen, zu wünschen, Sie wären wirklich, was Sie diesen Abend scheinen wollen, aber ich kann den Gedanken daran nicht loswerden und einem armen Invaliden ist er wohl zu verzeihen, der so Ihnen näher zu stehen wähnen dürfte. Sie sind so reich, daß Sie dennoch bleiben, was Sie sind, wenngleich diese Rosen verblüht wären.«

»Hat es wohl je in der Welt einen jungen Mann gegeben, der einem artigen Mädchen dreißig Jahre mehr und dazu ein gepudertes Toupet wünscht, bloß um ihr etwas Schönes zu sagen?« rief Auguste ein wenig gezwungen lächelnd und wandte sich der Türe zu, in welcher der General ihr plötzlich entgegentrat, um sie zur Gesellschaft abzuholen.

Bei Spiel und Tanz schwärmte man noch bis tief in die Nacht hinein. Es war, als ob die Freude jetzt, so nahe vor dem Scheiden, erst recht lebendig werden wollte. Nur Leo irrte verdrüßlich und abgesondert von den übrigen durch die lange Reihe der Zimmer. Seit mehr als einer Stunde vermißte er Augusten, ohne sie eigentlich suchen zu mögen, als Frau von Grünborn zu ihm trat und unter der Behauptung, sie habe Augusten zu einer Quadrille höchst nötig, lachend seinen Arm ergriff, um mit ihm das ganze Schloß nach ihr zu durchstreifen.

Beide gelangten auf ihrer Wanderung an das Vorzimmer der Frau von Willnangen, es ward darin gesprochen, das hörte man deutlich, die Türe war nur angelehnt, neugierig blickte Frau von Grünborn durch die Spalte und fuhr im nämlichen Moment mit einem ganz eigenen Gesicht zurück, um in großer Hast ihren Begleiter an ihre Stelle zu schieben.

Leo traute seinen Augen nicht, er erblickte Augusten in Adelberts Armen und neben dieser Gruppe Frau von Willnangen und den General. Eingewurzelt wäre er stehengeblieben, hätte nicht Frau von Grünborn ihn wieder mit sich fort zur Gesellschaft gezogen, wo sie jedem, der ihr in den Weg kam, die eben gemachte Entdeckung im strengsten Vertrauen zuflüsterte.

Bald wurden alle Blicke forschend dem armen Leo zugewendet, der, von der allgemeinen Aufmerksamkeit gedrückt, verstimmt, erschrocken sogar, es dennoch nicht wagen mochte, sich früher zu entfernen, als die übrigen, um niemanden Raum zu lauten Bemerkungen hinter seinem Rücken zu geben. Doch da der General sich unter dem Vorwand eines ihm plötzlich überkommenen Geschäfts entschuldigen ließ, so zerstreute sich bald darauf die ganze Gesellschaft.

Tausend unangenehme, einander widerstrebende Empfindungen bemächtigten sich Leos, sobald er in seinem Zimmer allein sich befand und raubten ihm für diese Nacht den Schlummer. So wenig es ihm in den Sinn gekommen sein mochte, sich ernstlich um Augusten zu bewerben, so schien sie ihm doch in diesem Moment unendlich reizend und ihr Besitz höchst wünschenswert, gerade weil er ihm unerreichbar geworden war. Am meisten aber peinigte ihn Reue über sein bisheriges Streben, sich vor der Welt den Anschein eines innigem Verhältnisses mit Augusten zu geben; und die Eitelkeit, welche ihn dazu angetrieben hatte, ward jetzt seine empfindlichste Strafe. Wie oft hatte er nicht Augusten die gleichgültigsten Dinge absichtlich mit einem höchst wichtigen Gesicht zugeflüstert! Wie oft sich bemüht, dankbar gerührt auszusehen, während sie mit ihm vom Wetter sprach! Unzähligemal hatte er den unbedeutendsten gegenseitigen Gefälligkeiten ein geheimnisvolles Ansehen zu geben gesucht und gewußt! Alle diese Veranstaltungen, die er mit so großer Mühe ersonnen und ausgeführt hatte, halfen jetzt zu nichts, als ihm in den Augen der Gesellschaft das Ansehen eines Abgewiesenen, Zurückgesetzten zu geben! Augustens Charakter stand zu hoch, als daß selbst der Neid es hätte wagen mögen, ihn in ein zweideutiges Licht zu stellen. Leo begriff bei so gestellten Dingen, daß ihm keine andere Wahl blieb, als entweder morgen demütig, wie ein Verstoßener, das öffentliche Mitleid und den heimlichen Spott der Anwesenden zu ertragen, oder in der Stille sich zu entfernen, ehe es im Schlosse Tag ward. Ein innerer Widerwille, den glücklichen Adelbert zu sehen, trug viel bei, ihn zu der Wahl des letztern zu bestimmen; er hatte die Flamme zu nahe umgaukelt, um nicht jetzt sich von ihr ergriffen zu fühlen, und fürchtete daher, vor den Augen des glücklichen Paars etwas trübselig dazustehen. Nach vorher genommener Rücksprache mit seinen Eltern, machte er sich daher in aller Frühe auf den Weg. Die Überzeugung, daß er aus einem Lande und von Menschen scheide, welche nie wieder zu sehen in seiner Macht stand, und daß kein spöttisches Wort aus dieser Ferne in seiner Heimat ihn erreichen könne, war das einzig Tröstliche, was er mit sich nahm.

 

Strahlend in einer Freudenglorie, als wäre er selbst der beglückte Bräutigam, stellte der General am folgenden Morgen die Braut seines Adelberts der Gesellschaft vor. Die herzlichste Teilnahme aller Anwesenden empfing sie mit lauten Glückwünschen, nur Herr und Frau von Wallburg machten hierin eine Ausnahme, und was sie anscheinend Freundliches sich nicht entbrechen konnten dem Brautpaar zu sagen, war augenscheinlich nur ein Opfer mit kalten Lippen, aus kalten Herzen der Konvenienz gebracht. Es mag wunderlich scheinen, daß sie, die eine Verbindung Augustens mit ihrem Sohne zwar zuweilen fürchteten, aber nie wünschten, und gewiß nur gezwungen sie zugelassen haben würden, sich jetzt beleidigt fühlten, weil man es nicht in ihre Macht gestellt hatte, solche auszuschlagen. Sie bildeten sich ein, Augustens Verlobung als ein gegen Leo begangenes Unrecht ansehen zu müssen, eigentlich aber verstimmte sie nur die angeborene Unart mancher Naturen, welche nicht ohne heimlich-neidische Regung einen andern im Besitz selbst dessen glücklich sehen können, was sie früher verschmähten. Unter dem Vorwande dringender Geschäfte, welche ihren Sohn schon gezwungen hätten, bei Tagesanbruch ohne Abschied fortzureisen, beurlaubten auch sie sich noch in der nämlichen Stunde und eine allgemeine Erkältung, wie man sie noch vor weniger Zeit nimmer hätte vermuten können, begleitete ihren Abschied.

Der übrige Teil der Gesellschaft ließ sich gerne bewegen, noch einige Tage beisammen zu verweilen, um sich des neuen Ereignisses zu erfreuen, dessen unerwartetes und schnelles Entstehen zu mancher abgesonderten Unterhaltung den Stoff hergeben mußte.

Adelberts und Augustens gegenseitiges Wohlgefallen aneinander hatte sich indessen weit früher, als andere und sogar sie selbst es vermuteten, in eine herzliche, innige Neigung verwandelt. Verlassen, verraten, an schweren Wunden geistig und körperlich erkrankt, war Adelbert früher nur durch seines Oheims väterliche Liebe über dem Abgrund der Verzweiflung gehalten worden, der jedem sich öffnet, welcher aus goldenen Jugendträumen plötzlich in einer Welt voll höhnender, treuloser, verächtlicher Larven zu erwachen glaubt.

Herminiens Angedenken ließ nicht ab, ihn zu verfolgen, es war zu innig mit seinem Dasein verwoben, er hatte nur sie gekannt, einzig sie. Zu Hause war sie die Sonne seines Frühlings gewesen, auf der Universität beflügelte die nahe Hoffnung auf ihren Besitz seinen Fleiß, im Kriege hatte diese Hoffnung ihm Elend, Wunden, tiefgefühlten Schmerz über sein zerrüttetes Vaterland ertragen helfen. Sie schwand und mit ihr der leitende Stern seines Lebens. Er blickte auf die kurze Laufbahn, die er zurückgelegt hatte. Überall, seit er ins tätige Leben trat, starrte mannichfaches Unrecht, Elend und Verrat ihm entgegen, seine Jugend fiel in eine sehr trostarme Zeit, in der auch die Zukunft sich immer düsterer verhüllte. Was blieb ihm daher anders, als jene ungemessene Sehnsucht, zu sterben, welche so leicht die Jugend zu ergreifen und in trübe Untätigkeit zu versenken pflegt!

Da strahlte plötzlich Gabrielens mildes Licht in die trübe Nacht seiner Schwermut, er sah, wie fromm, wie ergeben, wie freundlich sie einen großen Schmerz trug, dessen Dasein zwar keine Klage verriet, aber ihr ganzes Wesen bezeugte. Er blickte zu ihr auf wie zu einem höhern Wesen, wie zu einer Heiligen, der man nur in demütiger Ferne nachzustreben wagt. Ihr Mitleid, ihre Teilnahme an seinem Geschick nahm er als einen unverdienten Beweis ihrer Huld, bis sie ihm entschwand und Auguste an ihre Stelle trat.

Auch diese war freundlich, mild, teilnehmend und voll zarter Schonung. Weniger überirdisch als ihre Freundin, schien sie in ihrem fröhlichen Jugendglanz ihm näher zu stehen. Ihr anscheinendes Verhältnis zu Leo von Wallburg beunruhigte ihn nicht, er wähnte sich auf ewig von jedem Anspruch an Liebe und Glück ausgeschlossen; um so getroster überließ er sich der süßen Gewohnheit, nur in Augustens Nähe zu leben. Tausend Zufälligkeiten banden mit unsichtbaren Fäden ihn immer fester an sie, jeder Tag brachte ihm neue Beweise ihrer zarten Teilnahme an allem, was ihn betraf; besonders rührte ihn ihr Bestreben, die Angst um Gabrielens Geschick, das er veranlaßt zu haben glaubte, von seiner Seele zu nehmen.

So lebten beide über zwei Monate lang in wechselndem, aber stets freundlichem Verhältnisse nebeneinander. Auguste freute sich am Gelingen ihres Strebens, das verfinsterte Gemüt eines edlen Menschen zu erheitern, ihn der Welt und dem Leben wiederzugeben, die so viel Ansprüche an ihn hatten; sie gewann ihn lieb, wie Frauen alles lieb gewinnen, dessen sie mit treuer Pflege sich annehmen. Jeder Tag lehrte sie Adelberts schönen, reinen Sinn besser kennen, und Leos wechselndes Benehmen fing an, sie immer weniger zu interessieren.

So nahte die Zeit der Trennung, und Adelbert wie Auguste gewahrten erst jetzt, wieviel sie indessen einander geworden waren. Der General hatte, ohne es zu wollen, ihrer Unterredung nach dem Schauspiel zugehört; längst bemerkte er mit innigem Wohlgefallen, aber ganz in der Stille, das Heranblühen der Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, und der jetzige Moment schien ihm günstig, durch sein Hinzutreten alles zu ordnen und mit klarem Sinn dem jungen Paare in der eignen Erkenntnis seiner selbst zurecht zu helfen.

Und so geschah es denn bald, daß liebend und freudig Auguste abermals ihre Hand in Adelberts legte, um sie ihm nie zu entziehen. Entzückt drückte dieser das liebliche Wesen an seine Brust, das ihm, zum Lohn für den Kampf um Vaterland und Ehre, die mit Rosen der Liebe durchflochtene Bürgerkrone häuslichen Glückes bot. Zwar fühlte er nicht die flammende Glut, welche in einem ähnlichen Momente an Herminiens Seite ihn sinneverwirrend zu einer Zeit ergriffen hatte, von welcher er jetzt gern den Blick abwandte, ohne sie doch ganz vergessen zu können. Er fühlte sich aber um so glücklicher, je ruhiger er war, denn diese Ruhe nahm er als das Pfand einer heitern segensreichen Zukunft, die aus Augustens seelenvollem Auge ihm lächelnd winkte. Auguste war zu glücklich, um der unlängst verflossenen Tage oft zu gedenken, in welchen Leo sie umflattert hatte, und geschah es ja zuweilen, so erschienen sie ihr wie ein jugendliches Spiel, aus dem zu ihrem eigenen großen Glück nicht Ernst geworden war.

Von Frau von Willnangens mütterlicher Freude, von Ernestos Triumph über den Scharfblick, mit dem er Augustens Herz durchschaut hatte, schweigen wir. In Adelberts Begleitung traten beide mit Augusten froh und hoffnungsreich den Weg in ihre Heimat an, wohin ihnen der General noch vor Ende des Winters zum Hochzeitsfeste zu folgen versprach.

 

Ein langer Brief von Gabrielen, der erste ausführliche, begrüßte Frau von Willnangen bei ihrer Ankunft zu Hause.

»Ich weiß es«, schrieb Gabriele, »ich weiß, Ihr mütterlich liebendes Herz sehnt sich schon lange nach genauer Kunde von dem Geschick des armen verwaiseten Wesens, das Ihnen so viel, ach unendlich viel verdankt; aber ich weiß auch, Sie lassen statt aller Entschuldigungen meines bisherigen Schweigens die bloße Versicherung Ihrer Gabriele gelten, daß sie nicht schrieb, weil sie es nicht konnte, weil sie nichts zu schreiben wußte, so sonderbar dieses auch klingen mag.

Den äußern Gang meines Geschicks meldete Ihnen Ernesto; er, der teilnehmende Augenzeuge, vermochte dies weit besser als ich. Schwindelnd, beinahe bewußtlos, den widerstrebendsten Gefühlen zum Raube, war ich vom Wirbel des Lebens fortgerissen worden. Jede schicksalsschwere Minute übergab mich der ihr folgenden, ich konnte kaum die Gegenstände erkennen, an denen ich vorübergeschleudert ward, bis zur unabänderlichen Entscheidung meiner Zukunft, während jene Minuten sich zu weniger als vierundzwanzig Stunden aneinander reihten.

Sie wissen es, ich tat, was ich mußte, ich duldete, was keine irdische Macht von mir abzuwenden vermochte, doch am Ziele schwand meine Kraft. Ich ward krank, liebe, gütige Frau! Sehr krank. Aus der Betäubung, während welcher meine physischen Kräfte sich wieder gesammelt hatten, erwachte ich zum tiefsten Schmerz über den Tod meines Vaters, ich blickte in meinem Jammer um mich her nach Trost, ich erkannte den treuen Freund Ernesto und Annetten, alles andere aber war mir fremd, wildfremd, ich selbst sogar, ich und meine künftige Bestimmung. Das Fremde aber soll man nie beurteilen, bis es zum Bekannten geworden ist, damit später keine Ungerechtigkeit uns zuschulden komme. Darum mußte Ihre Gabriele wohl schweigen, es währte lange, ehe ihr alles klar ward.

Nun bin ich genesen, bin meiner selbst wieder mächtig. Ich erkenne mich wieder; mein Gefühl, mein Sein, mein Leben, alles, was mich umgibt, ist mir deutlich geworden, so daß ich es nun wagen darf, Ihnen von allem Rechenschaft abzulegen. Vorahnend sehe ich, wie bei Lesung dieser Stelle meines Briefes Ihr Herz höher schlägt, wie Furcht vor der nächsten Zeile Sie ergreift, und Sie Klagen erwarten läßt, welche alle Ihre Güte und Liebe nicht zu stillen vermögen. Nein, geliebte, mütterliche Frau! Beruhigen Sie sich, Ihre Gabriele klagt um nichts als um den Tod ihres Vaters. Der lebensmüde Greis ruht im Grabe sanft und still von einem Dasein aus, das er, ich bin dessen überzeugt, um keinen Preis wieder aufnähme. Gern und schnell entfloh sein entfesselter Geist zu Regionen des Friedens; darum sollte ich nicht trauern. Aber ich bin eigennützig und in den Tiefen meines Herzens regt sich der Glaube, daß es meinem Streben gelungen sein würde, ihm auch dieses irdische Dasein wieder lieb zu machen, wäre er mir nur nicht sobald entschwunden. Es dünkt mich oft hart, daß kaum ein einziger Augenblick seiner Zufriedenheit mir zum Lohne meines Gehorsams ward, und oft muß ich gewaltsam mich zusammennehmen, um mich daran zu erinnern, daß ich ja mein eigenes Heil bereitete, indem ich ihm gehorchte; daß ein qualvolles Dasein, innere unauslöschliche Vorwürfe mein Los geworden wären, wenn er in Unfrieden mit mir dieses Leben verlassen hätte.

›Und hast du denn Heil dir bereitet? Bist du glücklich? Gabriele!‹ So höre ich Sie fragen. Glücklich, meine teure Freundin, glücklich ist undenkbar viel! Wer ist denn glücklich? Die Kinder sind es, auch ich war es, da ich ein Kind war. Ich war es auch noch in einem einzigen tränen- und wonnenreichen Moment, an der ersten Grenze der Jugend, die jetzt in meinem kaum angetretenen achtzehnten Jahr mir schon so fern zu liegen scheint! Und später, als die segnende Hand meines Vaters meine Stirn berührte, sein Dank bis in die tiefste Tiefe meines Gemüts erklang, war ich da nicht auch glücklich? Ja ich erkenne es dankbar, ich war es, wenngleich nur in seligen Momenten. Mir wurden Lichtpunkte im Leben wie wenigen, und damit darf das Kind Ihrer Wahl sich zufrieden gestellt dünken. ›Gabriele, du weichst der Wahrheit aus, du sprichst von der Vergangenheit und verhehlst mir die Gegenwart!‹ Nein, geliebteste Frau! Ich weiche nicht aus, ehrlich und offen wie immer, will ich Wahrheit Ihnen geben.

Ich bin zufrieden, denn ich bin resigniert, möchte ich sagen, wenn Sie diesen fremdartigen Ausdruck, für den ich aber in unserer Sprache keinen Ersatz zu finden weiß, nicht in zu trübem Sinne nehmen wollen. Frieden mit mir selbst aus reinem Bewußtsein entsprossen, gibt meinen Tagen Heiterkeit und meinen Nächten Schlaf. Was darf ich mehr wollen? Alle jene Übungen, jene süßen Beschäftigungen, die ich sonst unter Ihren Augen trieb, füllen auch jetzt in der Einsamkeit meine Stunden vergnüglich aus, mir bleibt Zeit für alles, was sonst auch mir lieb war. Meine äußern Umgebungen lassen mir nichts zu wünschen übrig. Eine reiche Kupferstichsammlung, mehrere vorzügliche Gemälde, plastische Kunstwerke, eine in frühern günstigem Jahren gesammelte reiche Bibliothek sind der Schmuck unseres Hauses und stehen mir stündlich zu Gebot. Wir wohnen in einer entzückenden Gegend; mit unaussprechlicher Sehnsucht male ich mir des Frühlings Erwachen in diesen wunderherrlichen Tälern, auf diesen Rebenhügeln, wenn um sie die grünen Wogen des von Eisesbanden befreiten Stromes den fröhlichen Tanz wieder beginnen werden.

Herr von Aarheim (er selbst wünscht es, daß ich stets so ihn nenne), Herr von Aarheim begünstigt freundlich und nachsichtig alle meine kleinen Liebhabereien, er ist wohlwollend, aufmerksam und gütig gegen mich. Ob er manche Sonderbarkeit, die uns bei seinem ersten Anblick an ihm auffiel, teilweise abgelegt hat oder ob Gewohnheit sie mir weniger auffallend macht, wage ich nicht zu entscheiden; soviel ist gewiß, daß diese seine Angewöhnungen sehr selten störend in unser häusliches Leben eintreten und wo sie es könnten, fühle ich die Verpflichtung, jeden Mißton schonend und zuvorkommend abzuwenden, soviel dieses in meiner Macht steht. Auch ohne das Band, durch welches mein Vater in seinen letzten Stunden mich mit Herrn von Aarheim vereinte, wäre er als mein nächster Verwandter zugleich der natürliche Vormund und Beschützer meiner Jugend gewesen und als solcher berechtigt, Achtung und Fügung in seinen Willen von mir zu fordern. Meine jetzige Verbindung mit ihm macht mir beides zur heiligsten Pflicht, ich übe sie gern, und seine wohlwollende nachsichtige Art mir zu begegnen, erleichtert mir vieles.

Wahr ist es, wir leben sehr einsam, die Nachbarschaft ist wie ausgestorben, alles nun dem Winter auf dem Lande ausgewichen, dem lustigen Leben in den Städten zugezogen, nur wir allein von allen Güterbesitzern der Gegend, sind hier geblieben. Doch Sie wissen, Einsamkeit war von jeher die Freundin meiner Jugend und jetzt bedarf ich ihrer doppelt. Denn ich hatte und habe noch manches mit mir allein abzumachen, wozu ich vieler Zeit bedarf. Herr von Aarheim glaubt auch, es wäre gut, wenn ich, ehe ich in die Welt gehe, mich erst in häuslicher Stille an meine jetzigen Pflichten gewöhne und lerne, was künftig mir obliegen wird, zu verwalten. Ich fühle, wie sehr er recht hat, und selbst, wenn ich seinen Gründen etwas entgegenzusetzen wüßte, würde ich aus Wahl vermeiden es zu tun, denn das stille Familienleben auf dem Lande hat auch im Winter für mich großen Reiz. Sehnte ich mich nur nicht so unaussprechlich und oft nach Ihrer und Augustens lieber Gegenwart! Vermißte ich nur nicht so schmerzlich den heitern belehrenden Umgang Ernestos, des treuen vielerfahrnen Freundes!

Herr von Aarheim gedenkt im nächsten Spätjahre eine Reise nach Italien zu unternehmen. Vielleicht gelingt es mir dann, während der Zeit seiner Abwesenheit mich an Ihrer geliebten Nähe für die lange Trennung von Ihnen zu entschädigen. Oft wenn mich gar zu sehr nach Ihnen bangt, beschwichtige ich mich selbst mit dieser lieben Aussicht. Es wird mir ja hoffentlich nicht schwer werden, Herrn von Aarheims Zustimmung zu einem Besuche bei Ihnen zu erhalten. Zwar liegt es in seinem Reiseplan, daß ich ihn begleiten soll, aber ich bin entschlossen, dieses nicht zu tun, und ich werde zu Hause bleiben, weil ich es für besser achte, jetzt noch Ottokars Nähe zu meiden.

Ottokar! Da steht er, der Name, den ich je wieder zu nennen, mir einst auf ewig verbieten zu müssen glaubte, und meine Hand zitterte nicht, indem ich ihn jetzt niederschrieb. Daß er dasteht, sei Ihnen Bürge meines innern Friedens; es ist der Name des Schutzgeistes meiner jetzigen Ruhe und der ganzen Zukunft meines Lebens. Jetzt erst verstehe ich die wahre Meinung meiner verewigten Mutter, wenn sie mich lehrte: ›Liebe ist der Quell unaussprechlicher Seligkeit, durch sich allein, ohne Hoffnung, ohne Erwiderung, ohne Wunsch sogar.‹ Ja wahrlich, in dieser höchsten Reinheit muß sie die Seligkeit der Engel sein, die von uns unerkannt, schützend uns umschweben!

Ich denke an Ottokar und bin versöhnt mit allen Ereignissen, die in einer Welt mich treffen können, in welcher auch er lebt; um seinetwillen liebe und ertrage ich alle Menschen, die mich in meinem Wirkungskreis berühren, die guten wie die bösen, die freundlichen wie die widerwärtigen. Er ist mir fern und nie vielleicht sehe ich ihn wieder, aber er lebt, lebt wirklich, ist nicht das Geschöpf meiner Phantasie. Daß ich dieses mit Überzeugung weiß, beseligt mein Gemüt mit unnennbarem Frieden. In mir regt sich auch nicht der leiseste Wunsch, daß etwas in unserem gegenseitigen Verhältnisse anders wäre als es ist. Darum reise ich nicht nach Italien, denn alles muß so bleiben. Der Schmerz der Trennung ist vorüber, und nun halte ich mich an die Seligkeit, ihn gefunden zu haben. Meine Liebe ist ja nur Freude an seinem schönen Dasein, und diese wird mich begleiten bis an mein Grab, sie wird mich bewahren, rein und treu mich schützen vor jeder zerstörenden Leidenschaft, sie kann nicht vergehen solange ich lebe, und sie zu erhalten braucht es keines Wiedersehens.

Gewiß, meine liebevolle zweite Mutter! Sie zittern nicht für Ihr Kind bei diesem Bekenntnis? Zittern Sie nicht! Ohne Erröten darf ich sogar in Herrn von Aarheims Gegenwart Ottokars gedenken, ich dürfte es, wäre der Mann, dem mein Vater mich verband, zugleich der Gegenstand meiner freien Wahl. Ich kenne den ganzen Umfang der heiligen ernsten Pflicht, die mir auferlegt ward, aber mein Herz schlägt ruhig und zeiht mich keiner Untreue. Vor dem Altare gelobte ich Treue dem Gemahl, gefällige Achtung, Ergebenheit und liebevolles Teilnahme an allem, was ihn berührt in Freude und Leid; mehr kann niemand geloben und ich werde halten, was ich versprach. Was aber hat dieses Geloben mit dem Gefühl zu tun, das mein inneres Dasein mit Ottokar aufs innigste verwebt? Dieses ist nicht von dieser Welt, hat mit ihr so ganz und gar keinen Zusammenhang, daß jede ihrer Einrichtungen es nur entheiligen könnte. Wozu jemals geloben, Ottokar ewig zu lieben? Gelobt man denn zu leben? zu atmen? Das kommt ja alles von selbst, und die Liebe, die ich meine, ist ja nur reines ätherisches Leben ohne Absicht, ohne Wollen entstanden und kann nie vergehen. Wie ich Ottokars, so trug meine Mutter Ferdinands Bild in reiner, treuer Brust, und sie war das Muster der Frauen.

Sie sehen demnach, meine teure zweite Mutter! Sie können ruhig sein um Ihr entferntes Kind. Ich bin zufrieden. Im Äußern nichts, das tief mich verletzen könnte; im Innern Kraft und Mut, Liebe und Frieden. Was darf der arme Mensch vom Schicksal Höheres fordern? Ich wende den Blick hinab auf die Tausende, die neidend zu mir heraufblicken, und schaue nicht hinauf zu jenen, denen ein vollerer Freudenkranz, von wenigern Dornen durchflochten, gereicht ward, als mir.«

 


 << zurück weiter >>