Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Aus Gabrielens Tagebuche

Ich fürchte keinen bösen Traum mehr, seit mir die Vorbedeutung des Unglücks so anmutig erschien! Sprach er nicht so? Warum mußte ich auch dieses Mal, nur stumm mich verneigend, vor ihm stehen und vermochte nicht, ihm zu antworten? Ach, weil ich bin, was ich zu sein schien, weil mein ganzes Dasein ein schwerer, banger Traum ist! Immer ringe ich nach dem Erwachen; bin ich einst erwacht, dann, Ottokar, dann werde ich zu dir sprechen, dich fragen, dir antworten können, und, gewiß! du wirst mich verstehen.

 

Wie oft versuchte ich es schon, sein Bild auf dem Papier festzuhalten! Aber ich ermüde im fruchtlosen Streben. Ja, wenn ich mit den Zügen seines Gesichts auch die unbeschreibliche Harmonie in seinem ganzen Wesen wiederzugeben vermöchte! Er ist immer er selbst! Ganz und ungeteilt er selbst, in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte, im Scherz wie im Ernst! Nur er, einzig er kann so dastehen, so sprechen, so aussehen, und doch ist es nicht seine Gestalt allein, die ihn vor allen auszeichnet, es ist der Einklang, die Übereinstimmung in seiner ganzen Erscheinung. Wo lebt der Künstler, der diese darzustellen vermöchte? Ohne sie bleiben meine Bilder leblos und starr, bei aller übrigen Ähnlichkeit gleichen sie Wachsbildern, die das Leben ungeschickt nachäffen wollen, und ich muß sie vernichten, denn sie erregen mir Grauen.

 

Nichts wollen, nichts wissen, nichts wünschen als lieben, sich selbst vergessen im Glück des geliebten Wesens, ohne Erwiderung zu hoffen oder zu wünschen, stellt uns den Engeln gleich, ist Vorgefühl himmlischen Glücks! So lehrtest du mich, meine Mutter! Warum bin ich denn nicht glücklich? Warum treibt unerklärliche Unruhe mich rastlos umher? Warum beklemmt meine Brust ein Wünschen, ein etwas Erwarten von der nächsten Minute, für das ich so gar nicht einen Namen habe? Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er ahnete, von wo es ausginge. Könnte ich, ungesehen von ihm, ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken und dann, in mich geschmiegt und still aus meinem Dunkel hinauf zu ihm blicken und mich in seinem freudigen Lächeln sonnen. Dann, dünkt mich, wäre ich ruhig und glücklich für mein ganzes übriges Leben.

 

Nie werde ich mich darüber trösten, daß meine Mutter starb, ohne ihn gesehen zu haben. Ach hättest du, Verklärte, ihn gekannt, wie lieb wäre er dir geworden! Wie glücklich ich im Anschaun von euch geliebten beiden!

 

Arme Pflanzen, die sie verstieß, weil ihr verblüht seid, wie will ich euch pflegen und lieben! Ich fand sie heute alle im Vorsaal, die schönen Blumen, welche Ottokar Aurelien an ihrem Geburtstage schenkte; verdorrt, losgerissen von ihren Stäben, mit Staub bedeckt, erkannte ich sie kaum. »Sie taugen nur noch zum Wegwerfen«, sprach Aurelia, »sie sind verblüht.« – »Ja«, setzte sie mit komischem Pathos hinzu, »sieh hier, gutes Kind, das Bild der Vergänglichkeit aller Dinge und nimm dir ein Beispiel daran. Alles Fleisch vergeht wie Heu, singt die christliche Gemeine, darum verträume deine Blütenzeit nicht, sie kehrt dir so wenig wieder als diesen armen Sträuchern, die Anton alsobald wegschaffen soll.« – »Liebe Aurelia«, erwiderte ich, »mit uns ist es wie es ist, aber diese Blumen können wirklich wieder blühen, nimm sie nur wieder in dein Zimmer, trage sie an die Sonne, begieße sie.« – »Allerliebste Gabriele, tu du das selbst, ich schenke sie dir«, unterbrach mich Aurelia und machte mir nach ihrer lustigen Art einen tiefen Knicks. Ich erschrak; »aber du hast sie von Ottokar«, stammelte ich, und fühlte dabei, wie ich rot ward; weiß ich doch nicht ob vor Freuden über die Blumen oder vor Verdruß, daß ich Aurelien an ihren Geber erinnern mußte. »Mag er mir frische Blumen schicken, wenn er will, daß sein Andenken bei mir grüne und blühe«, antwortete sie lächelnd; »seit ich nicht mehr vierzehn Jahre alt bin, bewahre ich nichts länger auf, als es des Bewahrens wert ist. Damals freilich, da hatte ich auch ein Heumagazin von gedörrten Rosen, Vergißmeinnicht und sonst noch allerlei Grünlichkeiten so gut wie eine von euch zarten Seelen, wie ich aber einmal gewahr ward, daß ich alle das Zeug sogar nicht einmal zum Kräuterkissen bei Zahnweh brauchen konnte, warf ich es zum Fenster hinaus.«

 

Ottokar weiß, daß ich seine Blumen besitze, er hat Aurelien meine Zeichnung dafür geraubt und auf sein Zimmer getragen, gewiß nur im Scherz, gewiß er gibt sie ihr wieder. Warum hat mich denn Annettens Erzählung dieses unbedeutenden Umstandes so erschreckt? Warum strebe ich jetzt so ängstlich, mir diese Zeichnung Zug für Zug recht deutlich zu denken? Er wird sie ja doch nicht behalten.

 

Wenn er unglücklich würde! Nein, diese Möglichkeit kann ich mir nicht denken. Nicht einmal die, daß ich oder andere es in seiner Nähe sein könnten. Ihm gegenüber, seinem freundlich hellen Blick gegenüber, muß ja das Unglück eine so stille rührende Gestalt annehmen, daß es zur schmerzlich süßen Freude sich darüber umwandelt.

 

Sonst nannte Frau von Willnangen nie Ottokars Namen, jetzt höre ich ihn täglich aus dem Munde der geliebten Frau und lausche mit Freuden seinem Lobe. Während Gewohnheit und Arbeit mich zu Hause in meinem Zimmer festhalten, bringt er die Morgen bei ihr und Augusten zu. Meine Freundinnen streben auf vielfache Weise, mich zu einem Besuche zur nämlichen Zeit zu veranlassen, ohne jedoch mich geradezu einzuladen, und oft regt sich auch in mir der Wunsch, ihren Winken folgen zu dürfen, aber ein innres Widerstreben hält dennoch mich zurück.

Abends singt mir Auguste die Lieder, welche er ihr brachte, ihre Mutter gibt mir fast wörtlich den Inhalt ihrer Gespräche mit ihm. Ich bewundre die Freiheit des Geistes, welche es ihr möglich macht, sich mit ihm so in Rede und Gegenrede zu verständigen, sogar zuweilen anderer Meinung als er zu sein, denn in seiner Nähe wird mein ganzes Wesen nur ein Spiegel des seinen.

 

Ich wollte, ich könnte dichten oder komponieren; oft ist es mir, als müsse ich beides können, aber vergebens suche ich Worte oder Töne für das, was ich so gerne singen oder sagen möchte. Auch in meinen Büchern, in meinen Dichtern, finde ich nicht, was ich suche, nirgends, was auf ihn paßte. Alle Gestalten, welche sie mir vorführen, sind nicht wie er, mild und hoch, kräftig und bescheiden.

 

Er hat meine Zeichnung behalten, sie hängt über seinem Schreibtisch, freilich als ein Geschenk Aureliens. Ernesto sah sie bei ihm. Ich bin darüber froh wie ein Kind, ich möchte sagen, ich fühle mich geehrt, so wie sonst, wenn die geliebte Mutter irgendeine Arbeit von mir sich zum Gebrauch aneignete. Wenn er die Zeichnung ansieht, muß er nicht zuweilen meiner gedenken?

 

Heute abend war ich zeitiger als gewöhnlich zu Frau von Willnangen gegangen, ich fand die liebe Frau allein mit Augusten, trübe und traurig schien ein schmerzliches Andenken schwerer als sonst auf ihrem Gemüte zu lasten. Sie bat uns, etwas zu singen, und wir wählten das himmlische Duett aus Paers ›Sargino‹, das mir von jeher wie die Sprache klingt, in welcher Engel einander sagen, wie sie sich lieben. Dolce dell' anima, fing ich an; speme e dilleto di questo cor, und meine Seele schwebte auf den süßen Tönen himmelan. Da erscholl es dicht hinter mir, dolce dell' anima, es war nicht Augustens Stimme, es war seine, seine! Unbemerkt von mir war er ins Zimmer und an Augustens Stelle getreten. Ich wagte nicht, mich umzusehen, aber ich hatte den unbegreiflichen Mut, fortzusingen, la pura fiamma che m'arde in petto! Ich fühlte mir das Herz in der Brust, jeden Puls meines Lebens erzittern, aber meine Stimme bebte nicht, ich wußte kaum, daß ich sang, die Töne strömten unwillkürlich aus meiner tiefsten Brust, aus dem Herzen meines Herzens, und ich hörte mich selbst wie die Stimme eines Dritten. Atemlos, bewußtlos sogar, stand ich da, als das Duett geendet war, und konnte nichts als mich tiefer und immer tiefer vor Ottokar neigen, während er zu mir sprach. Auguste sagt, er habe viel zum Lobe meiner Stimme, meines einfachen Vortrags gesagt; ich weiß es nicht, ich habe sogar nicht gesehen, wie er sich bald darauf entfernte. Als er fort war, schloß mich Frau von Willnangen mit verdoppelter Zärtlichkeit in ihre Arme, Augustens schönes Auge blitzte freudig, beide waren den ganzen Abend unerschöpflich in seinem Lobe, in Erzählungen kleiner Züge von ihm. Zu jeder andern Zeit hätte diese Unterhaltung mich sehr glücklich gemacht, jetzt konnte ich kaum darauf achten. Ja, Musik ist die Sprache seliger Geister, das weiß ich jetzt mit Überzeugung, in Tönen konnte ich ihm singen, wofür ich nimmer Worte fände, und der Nachhall dieser Stunde wird mein ganzes kommendes Leben durchtönen.

 

Einmal, nur einmal möchte ich doch Aurelia sein, neben ihm sitzen, ihn ansehen und mit ihm sprechen können wie sie.

 

Es war mein Stolz und meine Freude, mit Ottokarn, wenngleich ihm unbewußt, ein Geheimnis zu teilen, etwas allen andern Verborgenes von ihm zu wissen, daher vertraute ich keiner lebenden Seele die Geschichte unsers ersten Zusammentreffens. Solange ich allein darum wußte, wähnte ich, sie sei ein unsichtbares Band, das mich allein vor allen andern mit ihm vereinte. Nun ist es zerrissen. Woran ich Wochen und Monde hindurch in der Stille mich freute, ist die Neuigkeit des Tages geworden und geht entstellt von Mund zu Mund. Die ganze ungewöhnlich zahlreiche Gesellschaft, Aurelien an der Spitze, strömte mir heut entgegen, so wie ich den Speisesaal betrat, nur Ottokar blieb in der Ferne. Mein Blick sucht immer ihn zuerst, ich bemerkte einen leisen Zug des Unmuts auf seinem Gesicht, ein vielleicht nur meinem Auge sichtbares schnell wieder verfliegendes, zorniges Erröten. Erstarrt blieb ich in der Türe stehen, Aurelia und alle übrigen mochten lange mit Fragen und Redensarten in mich hineingestürmt haben, ehe ich nur begriff, wovon eigentlich die Rede sei. Ich sah nur Ottokarn in dieser mir unerklärlichen Bewegung. Ernesto, der sonst um diese Stunde ein seltner Gast bei uns ist, kam mir zu Hülfe. Seit meinem ersten Eintritt in dieses Haus ist er mir immer nah, sobald ich seiner bedarf. Wie er es anfing, weiß ich nicht, ich war zu aufgeregt, um es zu bemerken, aber der ganze gesellige Knäuel drehte sich bald von uns ab, um Aurelien her, und ich stand mit Ernesto allein im Fenster. Hier erfuhr ich von ihm, daß Ottokars Kammerdiener Aureliens Kammerjungfer erzählt habe, wie sein Herr eine arme alte Frau unterweges in den Wagen genommen habe, auch daß ich damals mit ihnen in einem Gasthofe wohnend, die Geschichte mit großer Teilnahme gehört und durch Frau Dalling mich näher darnach erkundigt habe, denn obgleich Lorenz mich nicht zu Gesichte bekam, so hatte er diese doch dort gesehen und hier wiedererkannt. Die Jungfer hatte nichts Angelegentlicheres zu tun, als ihrer Gebieterin bei der nächsten Gelegenheit diese Anekdote wieder zuzutragen. »Sie können denken«, fuhr Ernesto fort, »wie willkommen ein solcher Stoff Aurelien sein muß, um ihren nie zu ermüdenden Mutwillen daran auszulassen. Gönnen Sie ihr die Freude, folgen Sie Ottokars Beispiel und lachen Sie mit, anstatt sich darüber zu ärgern.« Die Tante trat zu uns, anscheinend recht fröhlich, aber in ihren Augen zuckte doch eine gewisse Unruhe, sie vermochte nicht ganz die Furcht zu verbergen, daß Aurelia den Scherz zu weit treiben könne; der lustige Tumult in dieser und Ottokars Nähe ward immer größer und lauter, die Tante immer ängstlicher und freundlicher, und mir ward das Herz schwer und schwerer mit jeder Minute. Mehrere Spottbilder, mit erklärenden Knittelversen, alle von Aurelien selbst, nur zu geistreich erfunden und ausgeführt, hatten bisher die Gesellschaft ergötzt, endlich gelangten sie auch zu uns. Ottokar war darauf als Don Quijote dargestellt, wie er seine durch Zauberkünste in die Gestalt einer alten häßlichen Frau verkappte Dulcinea von Tobosa in eine Schenke bringt, die er für ein Kastell ansieht. Auf einem andern Blatt erscheint er als ein Schäfer, der eine zur Bettlerin verwandelte Fee vom Tode befreit, und gleich daneben, wie er zum Danke dafür in einen wunderschönen Prinzen mit Krone und Zepter verwandelt wird. Dann sahen wir ihn auch in Hofgala, die Bettlerin am Arm, und mich im Hintergrunde, ganz in Ekstase vor Rührung und Bewunderung, neben mir eine ganze Reihe naßgeweinter Schnupftücher auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt. Ottokar selbst näherte sich uns und betrachtete diese Ergießungen einer nichts schonenden, übermütigen Laune mit beifälligem Lächeln.

»Wir sind diesesmal Leidensgefährten, liebes Fräulein«, sprach er, indem er sich freundlich zu mir neigte, während ich, errötend vor Zorn und Verlegenheit, nicht wußte, wohin ich die Blicke wenden sollte. »Sie sehen so ernsthaft aus, tun Sie das nicht, nehmen Sie einen geselligen Scherz nicht höher auf, als er aufgenommen sein will«, setzte er leiser, fast bittend hinzu.

Alles schwamm vor meinen Augen bei dem unerwarteten Glück, einen von ihm ausgesprochenen Wunsch erfüllen zu können. Ich hätte Aurelien, auf die ich eben erst zürnte, jetzt mit Freuden an mein Herz drücken mögen, weil sie die Veranlassung dazu lieh, und ich hoffe, daß jede Spur des Unmuts in diesem Moment ebenso von meiner Stirne schwand wie aus meinem Herzen. Um meiner Zufriedenheit die Krone aufzusetzen, sammelte Ernesto die Zeichnungen alle sorgfältig zusammen und legte sie in seine Schreibtafel, mit der Erklärung, daß er sie als das gelungenste Werk seiner Schülerin aufbewahren wolle, und weder die Bitten der Gesellschaft noch Aureliens Zürnen konnten ihn bewegen, sie wieder herauszugeben.

Der einmal angestimmte Ton wollte bei Tische noch nicht gleich verhallen, aber Ernesto und Ottokar bemeisterten sich des Gesprächs, die Tante unterstützte sie auf das kräftigste, und so nahm es bald eine für mich erfreulichere Wendung, die ich mit angestrengter Aufmerksamkeit verfolgte. Ottokars Blick gleitete während des Gesprächs oft von dem neben mir sitzenden Ernesto auf mich herab, ich sah es nicht, denn meine Augen senken sich immer vor den seinen, aber ich fühlte seinen Blick wie einen Sonnenstrahl in meinem Innern.

Jetzt bin ich allein, und das durch Ottokars Nähe unterdrückte bittre Gefühl regt sich von neuem in meiner Brust. Ach ich fürchte, die Spottsucht, die flache Charakterlosigkeit der Gesellschaft um mich her wird auch mich noch ergreifen. Am besten war es wohl für mich, ich ginge. Aber wohin? Arme Gabriele, wohin? Wo er nicht ist? Freilich werden Tage kommen, an denen ich ihn nicht sehe, vielleicht ein Tag, der von ihm auf dieses ganze Leben mich scheidet; aber soll ich denn schon jetzt dem Licht der Sonne mich entziehen, weil vielleicht bald die Nacht hereinbrechen wird?

———

Mit dem neuen Jahre war endlich der Zeitpunkt erschienen, der eine gänzliche Umänderung in Gabrielens ihr allmählich lieb gewordner Lebensweise hervorbrachte. Von nun an ward sie die beständige Begleiterin ihrer Tante durch die ganze lange bunte Reihe von Lustbarkeiten, welche das Karneval in der großen, lebenslustigen Stadt herbeiführte. Bälle, Soirees, Schauspiele aller Art raubten ihr jeden Abend, und die Zurüstungen zu diesen verkümmerten ihr manche Morgenstunde, die sie sonst andern Beschäftigungen zu widmen gewohnt war.

Mit aller Kraft ihres Geistes suchte sie jetzt die ängstliche Blödigkeit zu überwinden, welche ihre ersten Schritte in der Gesellschaft so unsicher gemacht hatte. Es gelang ihr nach und nach. Das Blendende der Erscheinungen, das betäubende Geräusch verloren allmählich die Gewalt, ihr zu imponieren, ihre Existenz in der Welt ward mit jedem Tage angenehmer und obgleich sie sich oft nach den stillen, genußreichen Abenden sehnte, welche sie sonst bei Frau von Willnangen zu verleben gewohnt war, so gab es doch auch oft Stunden, in denen sie sich recht jugendlich heiter an dem bunten Leben ergötzte.

Dennoch war ihre Erscheinung in demselben nichts weniger als brillant. Als eine nahe Verwandte der von allen gefeierten Gräfin Rosenberg, in deren Begleitung sie überall erschien, verfehlte man zwar nicht, ihr die Aufmerksamkeit zu erzeigen, zu welcher dieses Verhältnis sie berechtigte; aber eigentlich betrachtete man sie doch noch immer als ein halbes Kind, und sie hätte gewiß an manchem Abend die Reihe der ungestört gähnenden Opfer der Sozietät vermehrt, welche man in allen Salons-Ecken sitzen sieht, wäre nicht Ernesto ihr treuer Beschützer geblieben, und hätte nicht Frau von Willnangen diesen Winter der gewohnten Ruhe weit öfterer als sonst entsagt, um ihren Liebling in so ungewohnten Verhältnissen nicht ganz verlassen zu wissen.

Ottokar sah Gabrielen jetzt täglich, ohne daß beide einander deswegen viel näher gekommen wären. Er zeichnete sie nicht minder als Aurelien aus, durch tausend kleine Aufmerksamkeiten, die er, als der Gast der Gräfin, ihnen vor andern schuldig zu sein glaubte, übrigens aber blieb ihr gegenseitiges Verhältnis fremd und abgemessen wie zuvor.

Nur selten, besonders aber am Neujahrsabende, bei ihrem Eintritt in die große Welt, hatte er ihr einige Teilnahme gezeigt. Die Gräfin feierte den Schluß des festlichen Tages mit einem Ball, den sie den jüngern Bekannten Aureliens gab. Einsam und vergessen saß Gabriele lange in einer Ecke des Tanzsaals. Sie gedachte der Neujahrsabende, welche sie als fröhliches Kind an der Hand der Mutter in den hohen, düstern Sälen von Schloß Aarheim verlebt hatte. Die Tanzmusik tönte nur wie aus weiter Ferne in ihre Träume, als Ottokar plötzlich vor ihr stand und ihr seine Hand bot, um auch sie den fröhlichen Reihen zuzuführen. Es war der erste festliche Tanz ihres Lebens, ihr schwindelte, noch ehe sie den Tanzplatz betrat. Ottokar merkte ihr Schwanken, schrieb es ihrer gewohnten Furchtsamkeit zu und umfaßte sie nur um so fester, um sie vor jedem möglichen Zufall zu sichern. Gabriele fühlte den Druck seines Armes, das Säuseln seines Atems in ihren Locken, sie sah sein freundliches Auge ganz nahe auf sie herabblitzen und schwebte, an ihn gelehnt, wie auf geflügelten Sohlen durch den weiten Saal, so leicht, so anmutig, daß selbst die Tante ihr freundlich Beifall zunickte. Mit ihm so durch das Leben! Der Gedanke flog zum ersten Mal wie ein Pfeil, in stechendem Schmerz, durch ihr Innres; ein unendlich betrübendes Gefühl bewegte sie fast bis zum Weinen, und noch nie hatte sie sich so vereinzelt, so ganz verlassen gefühlt, als da Ottokar nach beendigtem Walzer sie zu einem Sitz führte und sie dann mit einer stummen Verbeugung verließ, um sich eine andre Tänzerin zu wählen.

 

Eines Abends, in einer großen Gesellschaft, wandte sich das Gespräch auf den echt spanischen Fandango. Aurelie war eben in sehr glänzender Laune, und so bedurfte es nicht großer Überredungskraft, um sie zu bewegen, ihn zu tanzen, obgleich die musikalische Begleitung, außer dem Tambourin und den Kastagnetten, nur noch aus einem Pianoforte bestehen konnte und an einen Mittänzer gar nicht zu denken war.

»Du kennst die Figuren des Fandango, ich weiß es vom Tanzmeister«, sprach Aurelia zu Gabrielen, indem sie die sich vergeblich Sträubende in die Mitte des Saales mit sich fortzog; »übrigens«, setzte sie noch wie ihr zum Tröste hinzu, indem sie ihr die Kastagnetten aufzwang, »übrigens hat es wenig zu bedeuten, wer neben mir herhüpft.«

Die mehrsten der Anwesenden, sogar die Gräfin, blickten mit mitleidiger Besorgnis auf die arme Gabriele, die beinahe zitternd, mit niedergeschlagenen Augen dastand, während ein dichter Kreis von Zuschauern sich um sie und ihre Cousine bildete. Endlich sah sie auf, ihr erster Blick fiel auf Ottokar, der neben Ernesto stand und sie mit ängstlicher Teilnahme betrachtete. Unfern von beiden winkte ihr Frau von Willnangen Mut zu, und nie war diese Gabrielen der verlornen Mutter so täuschend ähnlich erschienen. Der Anblick der befreundeten Gestalten, die ersten Takte der ihr bekannten Musik, aus welcher ihr Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit widerhallten, begeisterten sie; die Gewalt, mit der sie ihre Ängstlichkeit niederzukämpfen suchte, verknüpft mit dem lebhaften Wunsche, die durch ihr Gelingen zu erfreuen, welche ihr wohlwollten, versetzten sie in eine Art von Ekstase. Wider alles Erwarten gelang es ihr, mit unnachahmlicher Grazie auch den künstlichsten Wendungen Aureliens zu folgen, die jetzt in vollem Ernst mit der eben Verachteten zu wetteifern begann.

Wie ein weißer Schmetterling die prachtvoll erblühte Zentifolie umflattert, so schwebte die kleine Sylphidengestalt um die hohe schöne Aurelia her. Der Anblick war wirklich entzückend, lauter, rauschender Beifall übertönte fast das Pianoforte; nach beendetem Tanze drängte sich alles, um beide mit Lob- und Danksprüchen zu überschütten, vorzüglich aber Gabrielen; denn ein unerwartet neu entdecktes Talent gilt immer mehr als ein längst bekanntes. Frau von Willnangen, Ernesto, Ottokar sogar, erhoben Gabrielen bis in die Wolken, andre folgten diesen anerkannten Koryphäen des guten Geschmacks, sogar die Gräfin erklärte sich für stolz auf ihre liebe Nichte und umarmte sie mit großer Zärtlichkeit. So ward das Unerhörte herbeigeführt, daß Aurelia wirklich zu ihrem eignen höchsten Erstaunen ein paar Minuten lang um der kleinen Cousine willen vergessen und verlassen dastand, und diese Erfahrung war ihr nicht weniger neu, als Gabrielen die der allgemeinen, laut ausgesprochenen Bewunderung.

 

Mit dem Scharfblick besorgter Mutterliebe bewachte Frau von Willnangen Ottokars Benehmen gegen Gabrielen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nichts war ihrem genauen Aufmerken entgangen, weder jenes festere Umfangen ihres Lieblings beim ersten Tanze in der Neujahrsnacht, noch sein Besorgtsein um Gabrielen, als Aurelia sie zum Fandango hinzog. Freudig hatte sie gesehen, mit welchem Entzücken er hierauf jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgte, zuletzt in laute Bewunderung ausbrach und sich den andern vordrängte, um der erste zu sein, der ihr für das allen gewährte Vergnügen seinen Dank aussprach.

Auch in Ottokars übrigem Betragen gegen Gabrielen glaubte sie, wenngleich nicht leidenschaftliche Liebe, doch ein stilles Hinneigen zu ihr zu erblicken, denn Wunsch und Hoffnung sind zu nahe verwandt, als daß sie im Laufe des Lebens nicht oft sollten eins für das andere gehalten werden. Frau von Willnangen gewöhnte sich nach und nach, alle die kleinen Aufmerksamkeiten mit in ihre Waage zu legen, durch welche Ottokar die Hausgenossin, die nahe Verwandte seiner Gastfreundin, vor andern auszeichnete. Sie sah, mit welcher zarten Schonung und zugleich mit welcher Gewandtheit er so manche kleine, Gabrielen drohende Verlegenheit von dieser abzuwenden wußte; sie legte alles zum Vorteil ihrer Wünsche aus, und wahrhaft mütterliche Liebe verleitete sie endlich zu Mißgriffen, welche bei der welterfahrenen, klugen Frau sich nur durch dieses vorherrschende Gefühl entschuldigen lassen.

Zu diesen Mißgriffen gehörte, daß sie nicht nur es nicht vermied, mit Gabrielen über alle jene ihr bedeutend dünkenden Zufälligkeiten in Ottokars Benehmen gegen sie zu sprechen, sondern sie sogar aufmerksam darauf machte und sie ihr aus einem Gesichtspunkt zeigte, der für Gabrielens Ruhe durchaus gefährlich werden mußte. Augustens ewig heitre Phantasie, ihre warme Anhänglichkeit an Gabrielen verleiteten auch diese, das Gemälde einer Zukunft vollends auszumalen, welche keine von ihnen mit deutlichen Worten zu nennen wagte, die aber Mutter und Tochter für jedes andere Gemüt, als Gabrielens, dennoch nur zu deutlich bezeichnet haben würden. Diese, zu wenig vertraut mit allem, was auf das wirkliche Leben Bezug hat, verlor sich nur mit süßer Schwärmerei in die von ihren Freundinnen ihr geöffnete helldunkle Aussicht. In ruhigen, einsamen Stunden strebte sie freilich, zu ihrer ehemaligen Resignation wieder zu gelangen, und war es sich so gar nicht bewußt, wie weit sie von ihr gewichen sei. Ottokarn zu werden, was er ihr war, diese Möglichkeit hatte sie noch nie mit klaren Worten sich gedacht, aber noch weniger die, daß eine andere so über alles von ihm geliebt werden könne. So verwirrten sich ihre Wünsche, ihre Hoffnungen immer mehr, sie vermied sogar, zur Klarheit über sie zu gelangen, und ihr Tagebuch enthielt von nun an nur die Ergießungen eines leidenschaftlich aufgeregten Gemüts, das sich scheut, ein Dunkel zu durchdringen, in welches es sich vor sich selbst verhüllt.

 

Der Winter zog allmählich fort, die Tage wurden länger, und im wärmeren Sonnenstrahl erglänzten schon die schwellenden Knospen der Bäume. An Gabrielens Rückkehr nach Schloß Aarheim ward indessen nicht gedacht, obgleich der anfänglich dazu bestimmte Zeitpunkt nicht mehr fern war. Der Baron, welcher mit jedem Tage seinem großen Ziele sich zu nähern glaubte und deshalb ungestört zu bleiben wünschte, hatte schon früher die Gräfin schriftlich um die Erlaubnis gebeten, den Aufenthalt seiner Tochter bei ihr auf unbestimmte Zeit verlängern zu dürfen, und Gabriele war zu sehr von der Gegenwart befangen, als daß sie den Wechsel der Zeiten hätte bemerken können. Tage und Monden gingen an ihr vorüber, ohne daß sie an die Möglichkeit einer Abänderung in ihren Verhältnissen gedachte.

Indessen konnte eine um diese Zeit entstehende geheimnisvolle Bewegung im Hause ihrer Tante ihr doch nicht verborgen bleiben, welche auch außer ihr jedermann bemerkte und niemand verstand; sogar Ernesto nicht, denn die Gräfin pflegte nach Art aller Frauen, die in der großen Welt eine Rolle zu spielen gewohnt sind, ihr eignes Geheimnis sicher zu bewahren, sobald sie es wollte. Sie selbst blieb still und freundlich, wie jemand, der dem Gelingen großer Pläne mit Zuversicht entgegen sieht. Dabei konnte sie indessen es doch nicht lassen, sich zuweilen mit halbverhüllten Winken an Gabrielen zu wenden, von denen es schien, als wollten sie dieser eine große Freude, ja sogar ein hohes Glück verkünden.

Aurelia erschien in dieser Zeit strahlender und übermütiger als je zuvor, Ottokar war mehr in sich gekehrt, und man bemerkte eine ihm sonst nicht gewöhnliche Ungleichheit der Gemütsstimmung in seinem Betragen. Unter der Dienerschaft herrschte ein immerwährendes leises Treiben, die Gräfin selbst leitete es, es sah aus wie Zubereitungen zu einem prächtigen Feste oder zu einer großen Reise oder zu beiden; niemand von den dabei Beschäftigten wußte es zu erklären, und alle zerbrachen sich darüber die Köpfe.

Gabriele bemerkte wohl, daß alle diese Erscheinungen auch auf sie Bezug haben müßten, sie sann über ihre Bedeutung nach, bis sie von der allgemeinen, dumpfen Unruhe quälend ergriffen wurde, und war nach jedem, so in vergeblichem Aufmerken verlebten Tage herzlich froh, wenn der Abend hereinbrach und der gewohnte Kreis sich in den Zimmern der Gräfin versammelte, welcher jetzt, nach den vorübergezogenen Zerstreuungen des Karnevals, wieder in seine alten Rechte getreten war.

Eines Tages schien die allgemeine Spannung der Hauptpersonen des Hauses auf das höchste gestiegen, noch nie waren die Gräfin so geheimnisvoll, Ottokar so ernst in sich gekehrt, Aurelia so übertrieben lustig gewesen. Allen, welche diesen Tag an der Mittagstafel der Gräfin teilnahmen, fiel dieses unheimliche Wesen bis zum Ängstlichwerden auf. Nichts konnte ihnen daher Erwünschteres kommen, als der für den Abend verheißene Besuch eines berühmten Deklamators, denn er versprach nicht nur Schutz gegen die bei dieser Stimmung der Gesellschaft zu befürchtenden Langeweile, sondern auch gegen etwaige Ausbrüche einer innern Aufgeregtheit der Gemüter, von der sich jedes ergriffen fühlte. Unter allen aber freute sich Gabriele darüber; noch nie war ihr Gelegenheit geworden, einen Künstler dieser Art zu hören, sie hatte überhaupt keinen Begriff, wie man das, was sie als Deklamation kannte, zum Hauptzweck seines Lebens machen könne, und erwartete daher etwas ganz Außerordentliches von einem sich einzig diesem Zwecke weihenden Künstler. Alles, was sie jemals von Improvisatoren, von Troubadours, von Barden, die als überall willkommene Gäste mit ihren Liedern durch die Länder zogen, ja sogar vom Wanderleben Homers gehört und gelesen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtnis. Sie erwartete nicht viel Geringeres als alles dies zusammen und war daher nicht wenig verwundert, als der Erwartete in Gestalt eines hagern, kleinen, schwarzgekleideten, sehr jungen Männchens hereintrat und der Gräfin vorgestellt ward. Seine Ungeduld, sich hören zu lassen, schien nicht minder groß als die der Anwesenden, ihn zu hören. Er ergriff die erste Gelegenheit, sich anscheinend nachlässig in einen Lehnstuhl zu werfen und begann mit nicht auffallend angenehmen Sprachton seine Rezitationen.

Es war wunderlich anzusehen, wie er sich ängstlich abmühte, zu deklamieren, ohne dabei zu agieren. Mit der untern Hälfte des Körpers gelang es ihm, er saß mit kreuzweis übereinander geschlagnen Beinen wie angebunden auf seinem Sessel, aber die Züge seines Gesichts, Arme und Hände waren gleichsam wider seinen Willen in ewiger theatralischer Bewegung. Er hatte kein Buch nehmen wollen, weil er behauptete, sich vollkommen auf sein Gedächtnis verlassen zu können, dies aber vermehrte die Verlegenheit, in welche ihn die Haltung seiner Hände augenscheinlich versetzte. Freilich hätte er auch eine ganze Bibliothek herbeischaffen müssen, so viele ganz heterogene Dichtungen der heterogensten Dichter ließ er im schnellsten Wechsel aufeinander folgen. Endlich kam auch Macbeths bekannter Monolog an die Reihe. Schauerliches Schweigen herrschte im Saal, alles horchte seinen dumpfen, geisterartigen Tönen. »Ist das ein Dolch?« rief er mit Macbeths stierem Blick und einem plötzlichen Griff auf den vor ihm stehenden Tisch. »Es ist nur die Lichtschere«, flüsterte Aurelia, laut genug, um von den nahe Stehenden, wahrscheinlich auch vom Deklamator selbst gehört zu werden, denn sobald dieser den Monolog beendet hatte, erinnerte er sich eines Versprechens, noch diesen Abend in einer andern Gesellschaft zu erscheinen, und eilte davon.

»Shakespeare! ach Shakespeare!« rief die Gräfin, indem sie sich entzückt auf dem Sofa zurücklehnte, und so es vermied, ihr Urteil über den Deklamator zu frühe zu äußern. Beim Shakespeare war sie ihrer Sache gewiß, nicht so bei jenem, obgleich dem in allen Zeitungen Gepriesenen in jeder Pause seines Vortrags von einem großen Teil der Anwesenden lauter Beifall gezollt worden war. »Wie groß erscheint Shakespeare, wo man auch immer ihn antrifft!« fuhr die Gräfin fort; »wie so gar nicht zu ertöten! Welch eine Höhe! Und welche Tiefe! Wie treten seine Gebilde hinaus in die Wirklichkeit!« – »Ich bin nur froh, daß der Deklamator endlich zum Saal hinaus getreten ist«, sprach Ernesto ganz gelassen. Erstaunt sah die Gräfin ihn an und war doppelt froh, sich an Shakespeare gehalten zu haben, da nun auch der Professor anfing, Klopstocks Ode ›Teone‹ zu rezitieren.

Still auf dem Blatt ruhte das Lied, noch erschrocken
Vor dem Getös des Rhapsoden, der es herlas,
Unbekannt mit der sanftem Stimme
Laut' und dem volleren Ton.

»Die armen Lieder!« sprach lächelnd Auguste, »sie hatten nicht einmal ein Blatt, auf dem sie ruhen konnten, er sagte sie auswendig her, und mir ist daher noch immer, als fühle ich die heimatlosen Geister mich ängstlich umschwirren.« Antonius wollte wenigstens das große Gedächtnis des Deklamators bewundert wissen, konnte aber nicht damit zustande kommen, denn Ernesto verdammte gerade dies Aus-dem-Kopfe-Hersagen als einen der ärgsten Mißgriffe, welche sich der Deklamator hatte zuschulden kommen lassen, und der Professor trat ihm treulich bei. »Wodurch wird das Lied zum Liede?« sprach dieser; »durch den Rhythmus, den Versbau, die Wahl des Ausdrucks, nicht durch die poetische Idee allein. Mit der strengsten Auswahl wägt der Poet jedes Wort, jede Silbe, überall sucht er den Geist und die Harmonie aufs genaueste zu vereinen, und Gott weiß, wie schwer ihm dieses in unsrer an guten Reimen so armen Sprache oft wird. Verzweifeln müßte er, wenn er es anhörte, wie solch ein Deklamator alle seine Mühe vernichtet und die auswendig gelernten Lieder mißhandelt!« – »Das ist's ja eben«, setzte Ernesto hinzu, »die Herren haben es nur auswendig und nicht inwendig, sonst müßten sie fühlen, was sie zerstören, wenn sie hier ein fremdes Wort einschalten, weil das rechte ihrem untreuen Gedächtnis entschlüpfte, dort einen falschen Akzent anbringen oder ein kurzes Wort dehnen, weil sie vom vorhergehenden eine Silbe verschluckten und nun mit dem Versmaß nicht auskommen. Auch das beste Gedächtnis sichert vor dergleichen nicht. Auf dem Theater verdecken Spiel und theatralische Täuschungsmittel diese Mängel so ziemlich, auch Sängern und Sängerinnen will ich es allenfalls nachsehen, wenn sie unsere Dichter verstümmeln, man versteht sie ohnehin nur selten und wird es also nicht gewahr; aber der Deklamator, der uns den vollkommensten Genuß eines poetischen Werkes verspricht, müßte sich nie in den Fall setzen, so fehlen zu können.«

»Ich wünschte fast, es gäbe gar keine Deklamatoren in der Welt«, sprach Frau von Willnangen; »wenigstens fühle ich immer das innigste Mitleid, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der von falschverstandner Kunstliebe sich verleiten ließ, diesen Weg zu wählen, um darauf durch die Welt zu kommen.«

»Denen jungen Herren, die weder zum Graben noch zum Erlernen gründlicher Kenntnisse Lust haben, scheint dieser Weg aber sehr anlockend und bequem«, erwiderte der Professor, »sie denken noch obendrein, etwas Ungemeines für die Kunst zu tun, wenn sie von Stadt zu Stadt gehen und pathetisch hersagen, was andre Leute gedichtet haben und was jeder seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in seinem Kabinett lesen und sich dabei das gerade für ihn Passende auswählen kann.«

»Dabei sind sie gewöhnlich in offenbarem Zwiespalt mit sich selbst«, setzte Ernesto hinzu. »Deklamieren mit Aktion oder ohne Aktion, das ist die Frage, die sie nie lösen können. Ersteres mitten im Zimmer auf plattem Boden hat denn doch immer etwas Komisches, abgerechnet, daß es auch dem eigentlichen Begriffe des Deklamierens ganz entgegensteht. Und sich beim Deklamieren im übrigen ganz ruhig zu verhalten, ist fast unmöglich, oder wird es erzwungen, so kann niemand sich an dem Anblick freuen. Eigentliches Deklamieren möchte ich ganz auf das Theater oder auf die Bühne der Volksredner verweisen, wenn es deren noch außer den Kanzeln gäbe; zur gesellschaftlichen Unterhaltung aber würde ich bloßes Vorlesen mit Ausdruck und Präzision allen Deklamatorien vorziehen.«

Es ward über diesen Gegenstand noch viel hin und her gestritten, bis Ernesto Gabrielen aufforderte, den Streit zu beenden und der Gesellschaft zu zeigen, was er mit Vorlesen eigentlich meine. Er kannte ihr schönes, sorgfältig von der Mutter gebildetes Talent und ergriff gern diese, wie jede Gelegenheit, seine junge Freundin nicht sowohl an das Licht zu ziehen, als vielmehr sie von der ängstlichen Befangenheit gänzlich zu befreien, von welcher sie noch zuweilen befallen ward. Auch dieses Mal gewährte sie nur mit innerem Zagen seinen Wunsch, überflog schnell mit den Augen ein Blatt, welches Ernesto ihr reichte, während die Lichter gerückt wurden und der Kreis der Anwesenden sich um sie her ordnete. Sie las zuerst etwas zaghaft, dann aber mit immer steigendem Affekt, immer eindringender, immer wahrer in Ton und Ausdruck, ganz sich und alle um sich her vergessend, wie an jenem Abende, als sie in Ottokars Gegenwart sang: la pura fiamma che m'arde in petto. Kein Hauch regte sich, alle waren an ihren Vortrag wie gebannt, denn man hörte, was sie las, war der innigste Ausdruck ihres eigensten Gefühls, und sie bezwang alle Herzen mit der Wahrheit Gewalt. Sie hatte das Gedicht, welches sie vorlas, zuvor nie gesehen, es war das neueste Erzeugnis eines jungen Poeten von Ernestos Bekanntschaft. Hier ist es:

O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle
    Nur einen kurzen, stillen Augenblick!
    Hier zog mein Tag herauf, so licht, so helle;
    O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle;
    Vergönnet mir dies arme, einzge Glück!

Ich will nicht um mich schaun; laßt mich vergessen,
    Daß eine Zukunft ist, daß Morgen kommt.
    Was über Heute liegt, ist unermessen,
    Und über Nacht zu denken, ist vermessen,
    Mit Sonst zu sprechen meinem Herzen frommt.

Wenn es der Welt noch einmal tagt, umdichten
    Mich Gram und Nacht. Dein Bild kann nur allein
    Die Nacht zur Dämmrung eines Traumes lichten,
    Und wie ein Traum mußt du vorüberflüchten,
    Geflügelt Glück! dein bin ich, du nicht mein.

Der hat ein süßes, hold Geschick empfangen,
    Wer dich, du zartes Bild, nur einmal sah;
    Mich hat dies Glück für immerdar umfangen,
    Bist du auch, Klara! weit von mir gegangen;
    Mein Herz bringt ewig deine Fernen nah.

In meiner tiefsten Seele stillen Tiefen
    Stehn deine Worte, rufen nach und nach –
    Wie Glockentöne, die am Tage schliefen,
    Vom Abend aufgeweckt, zur Vesper riefen –
    Das Heiligste in meiner Brust mir wach.

Und diese Augen sollten wiedersehen,
    Was nicht zu dir gehört, was du nicht bist?
    Es sollten andre Töne mich umwehen?
    Und deine liebe Stimme mir vergehen?
    Gibt es solch Auferstehn, was Grab nur ist?

Wer hörte dich und darf noch Unglück denken?
    Noch an das Böse glauben und dich sehn?
    Dein liebend Auge könnte Sonnen lenken,
    Und meinen Stern, den könntest du versenken
    In ew'ger Trennung namenlose Wehn?

Es muß die Zeit hinab zur Zeit wohl gehen,
    Doch meine Liebe nicht und nicht mein Schmerz;
    Selbst dieser Schmerz darf nicht die Lieb umstehen
    Gewaltsam, rauh; er soll wie Frühlingswehen
    Wachrufen, Blumen gleich, ein sehnend Herz.

Und wenn der Winter schlafen legt die Blumen alle,
    Und Herz und Sehnsucht starrt in Grabesfrost,
    Wenn totgekühlt die Blumen, Herzen alle,
    Dann seh ich dich allein aus meiner Halle
    Noch diamanten-strahlend hoch im Ost.

Bis dahin laßt an dieser lieben Stelle
    Mich ruhen meines Lebens Augenblick.
    Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle;
    O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle!
    Euch sei die ganze Welt mit ihrem Glück!!

Während des Lesens waren Gabrielen schon bei der Stelle:

    »Es sollten andre Töne mich umwehen?
    Und deine liebe Stimme mir vergehen?«

einzelne Tränen in die Augen getreten; sie ward im Fortfahren immer bewegter und bewegter. Bei den Worten:

    »Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle.«

versagte ihr die Stimme, und sie strebte vergebens, die beiden letzten Strophen des Liedes vorzutragen, dieses zu beenden. Erbleichend, verstummend stand sie endlich auf, bedeckte das Gesicht mit ihrem Tuche und eilte zum Zimmer hinaus, jede Begleitung durch eine bittende Bewegung der Hand von sich ablehnend.

Ottokar, der zunächst der Türe sich befand, war dennoch unbemerkt bis in den Vorsaal ihr gefolgt, dann faßte er ihre Hand und führte sie zu einem Sitz im Fenster, während er die Bedienten fortschickte, um Annetten herbei zu rufen. Gabriele erbebte sichtbarlich, als sie ihn erkannte; ein Strom von Tränen schaffte ihrem gepreßten Herzen Luft, während er, den sorgenden Blick auf sie geheftet, vor ihr stand. »Fräulein«, sprach er, indem er noch immer ihre Hand hielt, »liebes Fräulein, Sie haben uns allen einen so hohen Genuß gewährt, wir alle müssen Ihnen so dankbar dafür sein; was ist es denn, das jetzt Sie so gewaltsam niederdrückt? Zürnen Sie mir nicht«, fuhr er fort, da es ihm schien, als wolle Gabriele sich von ihm loswinden, »zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihrem Winke nicht gehorchte und Ihnen hierher folgte; daß ich die Besorgnis, mit der ich Ihren schwankenden Schritt bemerkte, nicht unterdrückte. Als Ihr Hausgenosse glaubte ich dies wagen zu dürfen, und vielleicht, hoffentlich sogar, geben mir die nächsten Tage, vielleicht der morgende schon, das schöne Vorrecht, an allem, was Sie betrifft, recht innigen Anteil zu nehmen.«

Gabriele horchte bebend auf seine Worte, sie war unfähig, ihm zu antworten, und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben einer Ohnmacht nah. Ottokar konnte nichts, als sie unterstützen, bis die erschrockene Annette kam und sie in ihr Zimmer geleitete.

 

Die Nacht verging Gabrielen unter lautem Herzklopfen, unter tausend wechselnden Ahnungen, Gedanken, halb verstandnen Wünschen. Jedes Wort, das Ottokar am vergangnen Abend zu ihr gesprochen hatte, tönte unaufhörlich in ihrem Innern wider, jedes war ihr ein Rätsel, dessen Lösung sie mit Entzücken und Grauen suchte und nicht fand, bis sie ermattet spät gegen den Morgen in unerquickliche Bewußtlosigkeit versank.

Ihr Erwachen zu einer ungewöhnlich späten Stunde glich ganz dem ersten im Hause ihrer Tante. So wie an jenem Morgen durchtoseten auch heute Bediente und Handwerker das Haus mit Zurüstungen zu einem Feste. Weder Aurelia, noch die Gräfin waren den ganzen Morgen über sichtbar, selbst die Bedienten taten geheimnisvoll, wenn sie einander auf der Treppe begegneten. Gabriele saß in ängstlicher Spannung; unfähig zu jeder sonst gewohnten Beschäftigung, lauschte sie auf jeden Fußtritt, auf jedes Knarren der Türen in zitternder Unruhe. Sie ahnete das Herannahen einer für ihr ganzes Leben entscheidenden Stunde, sie ahnete einen Zusammenhang zwischen dieser Stunde und dem, was Ottokar am gestrigen Abende zu ihr gesprochen hatte, ohne doch begreifen zu können, wie dieses möglicherweise sein könne. Gegen Mittag ließ die Gräfin ihr sagen, daß sie und Aurelia allein in ihrem Zimmer speisen würden, zugleich schickte sie ihr einen sehr glänzenden Anzug für den Abend. Alles dieses so ganz Ungewohnte vermehrte Gabrielens peinliche Unruhe, sie begann weit früher, als sonst, sich anzukleiden und zählte hernach jeden Pendelschlag ihrer Uhr.

Endlich strahlten die Kronleuchter, Equipagen rollten herbei, und schon durchrauschten die Tritte vieler herannahenden Gäste Treppe und Vorsaal, ehe Gabriele sich wirklich entschließen konnte, den Versammlungssaal zu betreten, und eine immer steigende Angst hemmte jeden ihrer Schritte. Unter lautem Herzklopfen blieb sie unfern der Türe stehen; wie durch einen dichten Flor zeigte sich ihr die ganze glänzende Versammlung, welche längs den Wänden des Zimmers einen weiten Kreis bildete. Alle nahen und entfernteren Verwandten der Gräfin, alle ihre vornehmsten Bekannten waren gegenwärtig, nur Frau von Willnangen fehlte, weil eine plötzliche Unpäßlichkeit Augustens sie zu Hause hielt, und weder Ernesto noch irgendeiner der Künstler und Gelehrten, welche sonst das Haus besuchten, waren zugegen. Am obersten Ende des Kreises stand die Gräfin, reich und festlich gekleidet, neben ihr Aurelia, im weiß und silbernen Kleide, diamantne Sterne im dunkeln, mit Perlen durchflochtnen Haar; ihr großes blaues Auge überschaute die ganze Gesellschaft, so wie etwa eine Königin ihren Hofstaat übersieht, ob niemand fehlte, und als sie Gabrielen an der Türe gewahrte, winkte sie sie zu sich heran. Übrigens herrschte tiefe Stille in der Versammlung, man konnte das Picken der Uhren hören, so regungslos erwartend stand alles da. Da trat Ottokar in völliger Hofkleidung aus einem Seitenzimmer in der Nähe der Gräfin herein, zum ersten Mal sah Gabriele ihn von einem breiten Ordensband umschlungen und einen blitzenden Stern auf seiner Brust. Mit freundlichem Ernst, etwas bleicher als sonst, näherte er sich der Gräfin, die seine und Aureliens Hand ergreifend, mit würdevollem Anstände beide einige Schritte vorwärts gegen die Mitte des Kreises führte und Ottokarn als Aureliens verlobten Bräutigam der Gesellschaft vorstellte.

Die Gräfin schien sich zu dieser Festlichkeit eine kleine Rede ausgesonnen zu haben, die sie, zwischen Ottokar und Aurelien stehend, mit dem Anstande der Fürstin von Messina an die Anwesenden richtete. »Der Wunsch ihrer Väter«, sagte sie unter andern, »der Wunsch ihrer Väter, wenngleich nicht ihr unabänderlicher Wille, bestimmte dieses Paar schon seit Aureliens Geburt für einander, doch blieb dieses, meinem Willen gemäß, beiden ein Geheimnis, bis ich überzeugt sein konnte, daß kein inneres oder äußeres Hindernis sich ihrer Verbindung entgegenstellte. Die Gnade des Fürsten hat auch das letzte beseitigt, indem sie den Grafen in den Stand setzt, seiner Braut mit seiner Hand auch einen meinen Wünschen angemeßnen Rang in der Gesellschaft zu bieten; Ottokar erhielt heute seine Ernennung zum Gesandten in Rom, und Aurelia folgt ihm entzückt in das schöne Land, zu welchem schon längst sie, wie jeden Gebildeten, die Sehnsucht zog. Auch ich werde sie dorthin begleiten, und da Graf Ottokars Bestimmung die schnellste Ausführung des längst Vorbereiteten fordert, so wird uns leider das schöne Fest des heutigen Tages durch den Schmerz des Abschiednehmens von so werten Freunden getrübt. Schon morgen verlassen wir die Stadt, in wenig Tagen wird das hochzeitliche Band auf meinem Landgute ganz in der Stille geknüpft, und in weniger als einem Monat eilen wir Italien zu, wohin Pflicht, Liebe und Sehnsucht uns rufen. In Jahr und Tag hoffe ich indessen Sie alle hier wieder zu sehen, ich kehre dann mit der festen Überzeugung des Glücks meiner Kinder zurück und hoffe, in Erinnerung und Gegenwart mit meinen Freunden frohe Tage zu verleben. Auch meine Nichte, Gabriele von Aarheim, wird mich begleiten. Ich habe dich von deinem Vater dazu erbeten«, sprach sie, in ihrem natürlichen Ton, sich plötzlich zu Gabrielen wendend, »du sollst auch Italien sehen, freue dich recht, Kleine, und wünsche deiner Cousine und ihrem Bräutigam Glück«, setzte sie hinzu, indem sie ihr näher zu treten winkte.

Gabriele, welche schon früher auf Aureliens ersten Wink sich genähert hatte, drängte sich jetzt mit wunderbarem Ungestüm durch die Versammlung, welche sich in dem Moment auch in Bewegung setzte, um Aurelien ebenfalls ihre Glückwünsche zu bringen. Gabriele wankte, als sie der Tante näher kam; im Begriff zu sinken, umfaßte sie unwillkürlich das Knie der Gräfin, um sich aufrecht zu halten. »Wunderliches Kind, wie stürmisch ist deine Freude! Hier, hier bringe deinen Glückwunsch an«, sprach lächelnd die Gräfin, indem sie sie umarmte und dann zu Aurelien und Ottokar wendete. »Glück! Glück!« rief Gabriele, atemlos und wie verwildert, sie konnte in augenscheinlicher Bewußtlosigkeit kein anderes Wort hervorbringen als dieses eine, das sie mehrere Male schnell wiederholte. Die Gräfin, welche auch in der höchsten Bewegung die feingezogene Linie des hergebracht Schicklichen nie aus den Augen verlor, wurde von dem Aufsehen beunruhigt, welches Gabrielens sonderbares Benehmen unter den Zunächststehenden schon zu erregen begann. Sie schob sie daher mit sanfter Gewalt der Türe zu, durch welche Ottokar hereingetreten war. »Dorthin, dorthin«, flüsterte sie ihr leise ins Ohr, »erhole dich erst von deiner ausgelassenen Freude und dann kehre wieder.«

Gabriele ging, der Weisung der Tante gehorsam; sie ging und ging, einen endlosen Weg, wie es ihr schien, die Kronleuchter drehten sich in einem wunderlichen Tanz um sie her, die Tapeten und Fußteppiche hoben und senkten sich, sie sah alles und erkannte nichts, bis sie am äußersten Ende der erleuchteten Reihe von Zimmern in einem nur von einer Dämmerungslampe erhellten Kabinett auf den Divan sank.

 


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